
Undead
Alvin Lee (*1944 + 6. März 2013), der legendäre Gitarrist der britischen Blues-Rock-Band Ten Years After, hat nicht nur durch seinen Auftritt beim Woodstock-Festival und sein Solo in ,I’m Going Home‘ Spuren hinterlassen. Er war ein ganz Großer des stilübergreifenden E-Gitarrenspiels zwischen Rock, Jazz, Country, Blues und dem Rest der Welt.
Ten Years After
1967 erschien mit ,Ten Years After‘ die Debüt-LP der gleichnamigen Band, die unter Blues-Rock- und Gitarren-Fans für Aufregung sorgte. Album Nr. 2 war dann gleich ein Live-Mitschnitt, passenderweise ,Undead‘ (1968) betitelt. Mit ,Stonedhenge‘, ,Ssssh‘ (beide1969), ,Cricklewood Green‘, ,Watt‘ (1970) und ,A Space In Time‘ (1971) bewiesen Alvin Lee (g/voc), Chick Churchill (kb), Leo Lyons (b) und Ric Lee (dr), dass sie zu den vielseitigsten und spannendsten Acts dieses Genres gehörten. Und das in der vielleicht wichtigsten popmusikalischen Phase der Begegnungen aller Stile, von Funk, Soul, Blues und Jazz auf der einen, klassischer Musik, Country und straightem Rock auf der anderen Seite. Denn in diesen Crossover-Jahren um 1970 entstanden Jazz-Rock, Fusion, Black-Rock, Progressive-Ableger wucherten in alle Richtungen und selbst der Charts-Pop profitierte von der Offenheit vieler Künstler, die zumindest über den Rand ihrer Schublade blickten – und sei es Richtung Indien für ein paar flirrende Ethno-Zutaten.
Ich war 15 oder 16, als ich mir die Ten-Years-After-Doppel-LP ,Recorded Live‘ kaufte, die damals erst ein paar Jahre alt war. Und als ich dieses Meisterwerk in G&B-Ausgabe 02 im Artikel „13 Alben Live! Live! Live!“ mal wieder empfahl („Wer erfahren will, dass Alvin Lee mehr war als der ,Goin’ Home‘-Fiedler von Woodstock, sollte sich die ersten Alben seiner Band Ten Years After besorgen. Und natürlich ,Recorded Live‘ (1973): Blues, Rock, Soul, Jazz, Klassik, Folk …“), da wusste ich natürlich nicht, dass nur wenige Wochen später ein trauriger Anlass zu diesem Thema zurückführen sollte. Gitarrist Alvin Lee ist am 6. März 2013 im Alter von 68 Jahren gestorben, nachdem bei einem operativen Routine-Eingriff am Herzen Komplikationen aufgetreten waren.
Alvin Lee Solo
Auch wenn Alvin Lee nach Ten Years After, die er 1975 je nach Sichtweise verließ oder auflöste, noch eine beachtliche Menge Musik veröffentlicht hat, u.a. mit Mylon LeFevre, als Alvin Lee & Company, mit seiner neuen Band Ten Years Later oder ganz einfach als Solist unter eigenem Namen, war sein Job bei Ten Years After – oder besser gesagt: mit Ten Years After – das, was bis heute seine Bedeutung ausmacht. Und die basiert bei weitem nicht nur auf den Qualitäten, die Lees berühmtes hypervirtuoses, zehnminütiges Woodstock-Solo über ,I’m Going Home‘ zeigte, mit dem er via Kino-Doku aus der Rolle eines englischen Nebendarstellers auf einem großen US-Festival zu einem der bekanntesten (weil schnellsten! ;-) Gitarristen der Welt wurde. Neben Carlos Santana und Jimi Hendrix, die ebenfalls in Woodstock glänzten. Jeff Beck hatte kurz vor Beginn des Festivals seinen Auftritt abgesagt – er hätte mit Sicherheit Schatten geworfen.
Die eigentlich Bedeutung des Gitarristen Alvin Lee und seiner Band zeigt sich für mich bis heute in dem vor vierzig Jahren erschienenen Konzert-Mitschnitt ,Recorded Live‘, der an stilistischer Vielseitigkeit, virtuoser Spielfreude und straight rockenden wie unberechenbar abbiegenden musikalischen Highlights nicht zu überbieten ist. Und eigentlich war nach diesen 79 Minuten und 38 Sekunden auch Schluss mit Alvin Lee & Ten Years After, auch wenn noch ein Studio-Album folgte … Seit zehn Jahren sind TYA wieder in ¾-Originalbesetzung unterwegs, mit Joe Gooch an Gitarre & Mikrofon. Aber das ist eine andere Geschichte.
Und jetzt
Die Ansage ist legendär: „Und jätzt, in där Festhalle in Frankfuhrt: Tänn Years Ahftär!“ „Boooarh, die Hessen kommen!“, dachte ich beim ersten Reinhören in dieses Album. Die legendäre Ansage war aber schon Sekunden danach vergessen, und als nach einer knappen halben Minute an Aufwärmgeräuschen von Drums, Orgel und Gitarre Alvin Lee „Hello!“ ins Mikrofon rief, ging es los. Ein stehender Akkord, eine Rock-Stimme, ein Drum-Beat, eine Band … und schon war ich mitten drin in diesem Album, von dem ich das Wichtigste überhaupt lernte, was man über Kunst lernen kann: Die Welt ist bunt! Und es gibt nicht nur den einen Weg, Sound, die eine Farbe, Form oder Funktion, wenn du etwas ausdrücken willst. Also bedien dich!
Und Alvin Lee hatte sich bedient: So mutierte das cool eingeleitete ,One Of These Days‘ nach wenigen Minuten zu einer shuffelnden Blues-Nummer über einen Akkord, mit einem unspektakulär-netten Harp-Solo, schwenkte aber dann zu einem Gitarren-Part, der anders klang als von anderen Gitarristen, und der ganz schnell von ein paar Lead-Licks zu einem geradezu hypnotischen Riffing wechselte.
Und dann: leise Orgel, ein cooles Riff, plötzlich Vollgas: ,You Give Me Loving‘, der Lee-Song, der – obwohl etwas zu hoch für ihn – schon deutlich zeigt wie sehr die Stimme des TYA-Frontmans seit dem ersten Live-Album ,Undead‘ gereift ist. Und was er dann gitarristisch im ersten Solo abliefert, das in bester Allman-Brother-Art swingt wie Hölle, ist unglaublich virtuoses Gitarrentheater zwischen den Stilen. Nach dem Klassiker ,Good Morning Little Schoolgirl‘ und dem Schlagzeug-Feature ,Hobbit‘ folgt mit dem extrem langsamen Blues ,Help Me‘ (1963 von Sonny Boy Williamson II, Willie Dixon und Ralph Bass geschrieben) ein Song, der Alvin Lees ganze Größe als souliger Blues-Sänger zeigt, und seine Kunst der virtuosen Beschränkung: Der Song wird auf ein sehr simples Unisono-Riff reduziert, das Lee unglaublich umspielt, mit einer Blues-Sprache, die näher an David Gilmour, Jeff Beck oder in Ansätzen an Carlos Santana ist als an B.B. King oder Hendrix. Ein Meisterstück was Spannungsbögen angeht.
Ten Year After Crossover
So wie das ganze Album, denn nach diesem Blues-Rocker folgt mit ,Classical Thing‘ eine barock gepickte Solo-Einlage des E-Gitarristen, die fast ohne Unterbrechung in das jazzig-bluesige ,Scat Thing‘ überfließt, um dann in Al Koopers , I Can‘t Keep From Cryin’ Sometimes‘ ein weiteres Mal soulige Vocals (mit Van-Morrison-Touch – nur besser gelaunt), ein grundlegendes Riff und ein extrem jazziges Gitarrensolo, anfangs in Oktaven, kombiniert. Der improvisierte Mittelteil ist als Alvin-Lee-Komposition gelistet und heißt ,Extension On One Chord‘. Auch hier wieder große Nähe zu Duane Allman und, aus heutiger Sicht auch zu Derek Trucks. Lees schneller Singlenote-Solo-Parts ist hier mindestens so spektakulär wie sein berühmtes ,I’m Going Home‘-Feature.
Kaum zu glauben, aber es führt nach einer unglaublichen Geräusch-Improvisation und ein paar Zitaten von Elvis, Cream, Santana, Peter Gunn u.a. dann doch ein Weg zurück zu Al Kooper, direkt anschließend folgt mit der Spaß-Nummer ,Silly Thing‘ eine ganz kurze Country-Picking-Einlage.
Der wunderbare ,Slow Blues In C‘ beschließt dieses an vier Abenden in Frankfurt, Amsterdam, Rotterdam und Paris mit dem legendären Rolling Stones Mobile Recording Truck aufgenommene Album – so habe ich es jedenfalls immer empfunden: Denn ,I’m Going Home‘ und ,Choo Choo Mama‘ sind eben doch nur echte Zugaben-Rock-‘n’-Roller. Echt großartige Zugaben-Rock-‘n’-Roller. Aber die unglaubliche Freestyle-Blues-Jam-Rock-Potenz vieler anderer Tracks haben sie nicht. Dafür pure Energie, die so kaum ein anderer Gitarrist aus den Saiten zaubern konnte. Und auch wenn es um Blues pur ging, setzte Alvin Lee auf einen eigenen Ansatz: warmer Sound, etwas kühle Rhythmik, ,Slow Blues In C‘ transportiert alle blauen Wes-Montgomery-, B.B.-King-, Jimi-Hendrix-Qualitäten, aber im Alvin-Lee-Style. Zu den Kollegen die ihre minimale Pigmentierung mit Sonnenstudio, einem in die Bio lancierten Baumwollfeld und jeder Menge abgekupferten Lick-Trivialitäten zu kaschieren anstreben, gehörte der Mann aus Nottingham ganz sicher nicht.
Alvin Lee & Big Red
Die E-Gitarre, die man mit Alvin Lee verbindet, ist seine rote, zugestickerte Gibson ES-335, der Star aus dem Woodstock-Film; eigentlich ein Mittsechziger-Modell mit Blockeinlagen im Griffbrett, nur stark modifiziert. Neben Peace-Sign-, Kifferglück-, Friedenstauben- und Totenkopf-Aufklebern hatte diese Semiacoustic zwischen den beiden Humbuckern noch einen schräg gesetzten Fender-typischen Singlecoil-Tonabnehmer, der über einen eigenen, zusätzlichen Volume-Regler verfügte und in jeder Toggle-Switch-Stellung den klassischen Humbucker-Settings zugemischt werden konnte.
Lees Gitarre wurde vom Gibson Custom Shop als Alvin Lee Big Red ES-335 aufgelegt, inklusive aller Aufkleber; bereits Anfang der 90er-Jahre erschien mit der Heritage H-535 ALT Alvin Lee ein modernisiertes Signature-Modell mit mehr oder weniger den gleichen technischen Features.
Ähnlich wie bei seiner musikalischen Melange ging es Lee auch bei dieser Gitarre nicht darum, sich mal per Knopfdruck ins Fender-Land zu beamen, sondern um die Möglichkeit, das Beste aus beiden Welten zu kombinieren oder als Sahnhäubchen-Sound noch oben drauf zu packen.
Vier Marshall-Stacks sind im Booklet von ,Recorded Live‘ zu sehen, zwei weitere stehen auf der Bühnenseite von Bassist Leo Lyons. Auch damit ist der beeindruckende Druck zu erklären, der 1973 von diesen Bühnen kam – und in einer großartigen Live-Aufnahme, angeblich ohne irgendwelche Overdubs, konserviert wurde. Was für ein Ton!
In einem Interview mit Damian Fanelli von http://www.guitaraficionado.com erzählte Alvin Lee im vergangenen Jahr: „Effektpedale habe ich live nie eingesetzt und auch nur selten im Studio. Ich stehe da mehr auf die Übersteuerung und das Sustain eines weit aufgerissenen Marshall-Amps, wobei ich die Gitarre dann auch mal auf 5 oder 6 runter regele, für diesen netten cleanen Jazz-Ton. Der Crunch-Sound kommt dann ab 7 oder 8. Was braucht man mehr?“ Und zu seiner legendären roten Freundin meinte Alvin Lee weiter: „Die originale Woodstock-ES-335 habe ich immer noch, aber leider kann ich sie nicht mehr live spielen, da sie zu wertvoll geworden ist. Sie steht jetzt zur Sicherheit in einem Tresorraum, nachdem irgendein Wahnsinniger mir eine halbe Million Dollar für die Gitarre geboten hatte.“
Bedrückend, entlarvend, surreal, so etwas zu lesen, wenn man weiß, dass Alvin Lee nicht mehr unter uns ist. Und ist so ein Instrument jetzt plötzlich noch mehr wert? Kann diese Gitarre überhaupt mehr wert sein, als die Musik des Alvin Lee, als eine Handvoll LPs oder CDs mit seinen besten Aufnahmen? Natürlich nicht. ,Recorded Live‘ wird für mich immer eines der wichtigsten Kunstwerke bleiben, mit denen ich jemals in Berührung kam. So unsterbliche Musik kann dich verändern. ■
STORY: LOTHAR TRAMPERT