Rezensionen von Lothar Trampert. Nur gute Musik.
Und immer mehr. Ein ganzes Jahr lang. 😉💥
- MARTIN NODELAND: TRIBUTARIES
- CHRIS JANSSEN: TRAITEMENT
- LOTHAR KOSSE: SHEKINAH
- MARCUS DEML: PURE
- PAULO MORELLO: MOVING
- MAGRO: MANY CHANGES
- MARIAN MENGE: ALL THAT LITTER IS GOLD
- YVONNE MORIEL SWEETLIFE QUARTET: SWEETLIFE III
- DAVID GILMOUR: LIVE AT THE CIRCUS MAXIMUS
- JOHN SCOFIELD / DAVE HOLLAND: MEMORIES OF HOME
- DUFF MCKAGAN: LIGHTHOUSE. LIVE FROM LONDON
- SLASH: LIVE AT THE S.E.R.P.E.N.T. FESTIVAL
- CARSTEN HEIN: BASS SIGNAL WORKS I
- MARTIN SCHMIDT: VIERSPUR KLEBER & GITARRENKRACH
- MARCUS DEML: PURE
- ADAX DÖRSAM: 25
- NARRSTEIDLE: GHOST ANTS
- STEVE TIBBETTS: CLOSE
- WOLFGANG MUTHSPIEL, SCOTT COLLEY, BRIAN BLADE: TOKYO
- RAGAWERK: NILA
- RATKO ZJACA: TOUCHING MINDS
- AXEL KÜHN TRIO: VISION AND MOVEMENT LIVE AT BIX
- TRET TRIO: CROW JAM
- LEON HATTORI: HORIZONS
- MAREILLE MERCK: KALEIDOSKOP
- DANIEL STELTER: WOODEN SONGS
- DAVID HELBOCK / JULIA HOFER: FACES OF NIGHT
- PETER HEDRICH: SIMPLICITY
- OLA ONABULÉ / NICOLAS MEIER: PROOF OF LIFE
- IPACH / MAIBAUM: FINDING PLACES
- ANNA KALK: DIFFERENT TIMES
- MATTHIAS MÜLLER / ANDREAS WILLERS: TROUBLE IN THE EAST
- ARTHUR POSSING QUARTET / JOEL RABESOLO: HOMES
- SPECTRAL PASSENGERS: AHAB’S TRAUM
- SILENT EXPLOSION ORCHESTRA: PAINTINGS OF AN EXHIBITION
- JAZANDO GUITAR DUO: FROM BEETHOVEN TO HOLLYWOOD
- DANIEL TAMAYO QUINTET & VICTOR ACEVEDO: POR LA FUERZA DEL HÁBITO
- MARKUS APITIUS: WATCHING GHOSTS
- KLAUS MICHEL: STRANGE FUTURE
- COLONEL PETROV’S GOOD JUDGEMENT: MADMAN THEORY
- NINA FELDGRILL: JAZZ CATS OF TOMORROW VOL.3
- DER VIERTE ZUSTAND: LAYERS
- THOMAS NAÏM: MAY THIS BE LOVE
- HANNAH KÖPF: FLOWERMIND
- CLAUDIA DÖFFINGER & TORSO VENTUNO: NACHTWACHE
- BUGGE WESSELTOFT: AM ARE
- CHRISTIAN PABST, ANDRÉ NENDZA & ERIK KOOGER: RHYTHM RIOT
- STRUKTURSTRUKTUR: THE GESTALT
- TOBIAS HOFFMANN TRIO: START/STOP
- EMILY REMLER: COOKIN‘ AT THE QUEENS
- PERCEPTIONS TRIO: THE WICKED CREW
- PETROS KLAMPANIS: LATENT INFO
- INNES SIBUN: THE PREACHER
- MICHAEL SAGMEISTER & WERNER EISMANN: OPPOSITES ATTRACT
- YOSEF GUTMAN & PETER BRODERICK: RIVER OF EDEN
- LENNART ALLKEMPER: AWAKENING
- EUROPEAN GUITAR QUARTET: FOURTUNE
- LIFE IS GREAT: OPTION A
- MAGNOLIA: EMBRACE
- UNIONEN: UNIONEN
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MARTIN NODELAND: TRIBUTARIES
Neue Musik zu entdecken, ist immer wieder spannend – insbesondere im Gitarrensegment, wo seit Jahrzehnten Ikonen die Richtung vorgeben. Klangen eine Zeitlang viele junge Musiker wie Pat Metheny, dann noch viele mehr wie John Scofield und ganz wenige wie Allan Holdsworth, zeigt sich inzwischen Entspannung im Feld der versuchten Gottgleichheit. Vor dem mir bisher unbekannten norwegischen Gitarristen und Bandleader Martin Nodeland (*1993) entdecke ich seinen Drummer Raymond Lavik, der direkt im ersten Track „Straight Out The Gate“ intensiv und funky einen dabei absolut pulsierenden Beat liefert, der die Spannung extrem steigten läss. Nach dem Unisono-Thema folgen Soli von Will Vinson (as) und Martin Sandvik Gjerde (p), dann übernimmt Martin Nodeland, mit eigenwillig mittigem, warmem Ton und boppt so dermaßen dicht und fließend, dass ich Pat Martino von weit oben grinsend nicken sehe. Martino war cool, Martin ist hot – und Alleinkomponist dieses Albums. Es heißt ,Tributaries‘.
Dann der große Kontrast: Die Ballade „Awakenings“ kommt erst konventioneller rüber, bis man die fein verwobenen instrumentalen Stränge dechiffriert. Und Bassist Alexander Hoholm macht auch hier noch mal einen ganz eigenwilligen Job im Untergrund. Diese Musiker spielen schon sehr inteniv miteinander. Und dann das nächste Gitarrensolo, wieder im Trademark-Sound, jetzt etwas ruhiger angelegt, was die melodische Komplexität und intensive Improvisationsfreude dieses Musikers noch deutlicher offenlegt. Was für vertrackte Linien! Treffen sich hier Anthony Braxton und Charlie Parker um in der Jetztzeit Neo-Bop zu spielen? Keine weiteren Spekulationen zu unmöglichen Reinkarnationen – aber schon nach diesem Einstieg eine absolute Empfehlung!
Und so geht es weiter: Martin Nodeland kann mit jedem Track überzeugen, kompositorich wie gemeinsam mit dieser Band auch interpretatorisch. Und auch solo: Im dreieinhalbminütigen „Awakenings II“ ist Nodeland alleine zu hören, diesmal sehr cool und klar ins Thema einsteigend, um dann mit wilden Linien, großen Tonsprüngen und sehr individuell gesetzten Pausen zu glänzen um dann durch einen fast folkloristischen Part zu schweben. Das ist eine eigene Klangsprache.
Hier noch ein Auszug aus dem Label-Info zum Album: „Martin ist in Stokke geboren und aufgewachsen und zog nach dem Gymnasium nach Stavanger, um dort zu studieren. Schließlich ließ er sich in Oslo nieder. Während seines Masterstudiums an der Norwegischen Musikakademie startete er zwei Projekte, die zu seinem ersten und zweiten Album führten. Sein Debütalbum „Debut“ (2019) präsentierte ein selbstbewusstes und komplexes Neo-Bop-Quintett, das neben einigen Standards auch eigene Kompositionen spielte. Nur ein Jahr später veröffentlichte er Origins (2020), eine ambitionierte Sammlung von Eigenkompositionen, die von einem elfköpfigen Ensemble gespielt werden.“
Noch mehr über den Künstler erfährt man unter www.martinnodeland.com
Lothar Trampert / Paleblueice.com 12/2025
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CHRIS JANSSEN: TRAITEMENT
Ein paar sphärische Arpeggios, zwei prägnant angeschlagene Akkorde, dezent kommen Percussion-Sounds ins Spiel, immer wieder unterbrochen von kurzen Atempausen, in denen sich Gitarrist Chris Janssen mit virtuosen kleinen Licks mit gekonnt eingesetzten Flageolets, sympathisch zurückhaltend im Vordergrund seines Trios platziert. ,Monkey Boy‘ heißt dieser erste Track seines neuen Albums ,Traitement‘. Das französische Wort „Traitement“, englisch bekannter als „Treatment“ heißt in unserer Sprache „Behandlung“. Und wie Chris hier seine im DADGAD-Tuning gestimmte Akustik-Gitarre behandelt, inklusive der durch Klopfen auf dem Korpus erzeugten perkussiven Sounds, ist schon originell. Diese Musik liefert Wohlklang im besten Sinne.
Christian Daniel Janssen heißt der aus Norddeutschland stammende und am 16. Januar 1983 geborene Musiker mit vollem Namen. Inzwischen hat er im Ruhrpott sein Zuhause. Recklinghausen passt eigentlich nicht so ganz ins Klangbild – da hat Chris so einiges an Atmosphäre aus dem schönen Norden mitgebracht. Mit 12 Jahren hatte er seinen ersten, klassischen Gitarrenunterricht, von Seiten seiner Eltern war aber auch immer Rockmusik ein Thema: Prägendes Erlebnis war der Besuch eines Konzerts der legendären Band Van Halen, gemeinsam mit seinem Vater. Und der ursprünglich aus Holland stammende Eddie van Halen, der in seiner neuen Heimat USA zum Weltstar wurde, beeindruckte extrem: Chris wechselte er zur E-Gitarre, und er wurde erst Mitglied in einer Schul-Band, dazu kamen dann auch noch erste Live-Erfahrungen als Gitarrist der Rock-Band des Vaters. Damals konnte er aber nur die ersten beiden Sets spielen, denn gegen 22 Uhr kam die altersbedingte Sperrstunde.
Mit 21 Jahren studierte Chris Janssen an der Aschaffenburger Future-Music-School, unter anderem bei Thomas Langer (Barbara Dennerlein Trio) und Rolf Bussalb (Nigel Kennedy Band), zwei Könnern zwischen Jazz und Rock. Ungefähr zur selben Zeit schloss er sich der Janet Breeze Band an, mit der er in regelmäßigen Abständen Auftritte in Clubs und auf Open-Air-Bühnen absolvierte. 2006 folgte ein einjähriges Gitarren-Studium am MGI, dem Münchener Gitarren Institut bei Philippe Caillat. Abb Ende 2008 arbeitete er zusammen mit Bassist Ralf Diesel und Mathias Diesel am Schlagzeug, an seinem Debüt Album „Diary“, das 2010 erschien. 2012 gründete Chris mit der Sängerin Christina Broo das „Chrisses Acoustic Duo“ – ihr gemeinsames Album ,Chrisses‘ erschien 2015. Hier ging es um poplastige Songs und transparente Arrangements mit abwechslungsreichem Gitarrenspiel und ausdrucksstarker Gesangsstimme.
Im Jahr 2016 kam ein weitere wichtiger Einfluss auf das musikalische Leben des Chris Janssen ins Spiel: Seitdem nimmt er Unterricht bei seinem Vorbild und Mentor dem Jazz-Gitarristen Philipp van Endert, bekannt als ein open minded musician, als ein so sensibler wie virtuoser Gitarrist und als extrem kreativer Initiator diverser Bands und Projekte.
Vor fünf Jahren, im September 2020, begann Chris dann mit den ersten Aufnahmen für sein gerade erschienenes zweites Solo-Album Traitement. Mit ihm im Studio waren E-Bassist Axel Weiss und sein langjähriger Begleiter, Drummer & Percussionist Mathias Diesel. Die neun Kompositionen stammen alle von Bandleader Janssen, der hier an diversen elektrischen und akustischen Gitarren zu hören ist. „Ich bin ein Komponist, Lehrer und Gitarrist aus Leidenschaft“, erzählt Janssen, der heute hauptberuflich als Gitarrenlehrer in Düsseldorf und Gelsenkirchen arbeitet. Stilistisch tangiert er dabei Folk, Blues, Jazz und die ruhige Saite der Fusion Music, bei der Ausdruck und Tone wichtiger sind als vordergründige Virtuosität. Mit der in letztgenanntem Genre, insbesondere unter E-Gitarristen häufiger anzutreffenden Poser-Attitüde hat Janssen gar nichts am Hut.
Interessant: Im zweiten Album-Track „1997“ erinnern er und seine Band dezent an das ab Ende der 1970er Jahre in Deutschland extrem einflussreiche Michael-Sagmeister-Trio und auch an Volker-Kriegel-Alben der 1970er und 80er – in beiden Fällen an eher lyrische, balladeske Stücke aus dieser jazzgitarristisch sehr interessanten Zeit in Deutschland. „Die LP Live im Schützenhaus vom United Jazz & Rock Ensemble hat mich sehr beeindruckt. Neben Kriegel lag das aber vor allem an Saxophonistin Barbara Thompson und Trompeter Ian Carr“, erzählt der sympathische Gesprächspartner Chris Janssen im Interview. „Was die Gitarre angeht haben mich die Steve-Khan-Alben Blades (1985) und Casa Loco (1984) begeistert. Wichtig und wirklich inspirierend für mich waren aber immer das Swing-Feeling von Emily Remlers Aufnahmen, die melodische Ausdrucksstärke von Dominic Miller und als Teenager vor allem der entspannte Legato-Stil von Eric Clapton. In den vergangenen Jahren hat mich das lyrische, sensible musikalische Gespür von Philipp van Endert sehr beeindruckt.“
Sehr gelungen ist auch sein Stück „Siesta“, mit knapp sechs Minuten das längste des Albums. Hier spielt Chris Janssen seine größte Stärke wirklich sehr schön aus: die Fähigkeit mit wenigen, entspannten Tönen und etwas Raumklang eine intensive Atmosphäre zu kreieren. Sehr gelungen! Insbesondere sein Zugang zur akustischen Gitarre und sein eigenwilliges Fingerpicking, seine Tongestaltung und sein Feeling sind sehr ausgereift.
In diesem Zusammenhang ist die sensible Begleitung von Bassist Axel Weiss und Percussionist Mathias Diesel hervorzuheben, die wirklich beide im Dienst der Musik begleiten und mit einer ganz eigenen, subtilen Energie tragen. Seltenes Glück in dieser Besetzung. Und mit Track 5, „Plastic Dolphin Waltz“, ist man als Hörer dann endgültig in der sehr eigenen Klangwelt von Chris Janssen angekommen. Jazz? New Acoustic Music? Folk Pop? Egal! Dagegen kommen die bluesigen Tracks, „Blues For Emily“ und „Bicycle Ride“, zwar ebenfalls gekonnt und souverän, aber bei Weitem nicht so eigenständig rüber. Was eher in der Natur des Genres liegt als am Solisten. Chris: „Was diese Blues-Tracks angeht war die alte Blue-Note-Schule und vor allem die Musik von Gitarrist Grant Green inspirierend.“
Sein eigener musikalischer Stil glänzt dann noch mal extrem in der wunderbaren Crossover-Ballade „Childhood“ – das mit sehr modernem, dezent bluesigem Ansatz in seinem Solo-Spot. Und auch „St. Patrick’s Day Parade“, in dem sich die drei Musiker einem folkloristischen Thema mit Jazz-Feeling nähern, ist absolut gelungen. Chris Janssens Musik bringt Wärme, Ruhe und Licht in diese dunkle Jahreszeit. Behandlung erfolgreich.
Mehr über den Künstler erfährt man bei www.chris-janssen.de
Lothar Trampert / Paleblueice.com 12/2025
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LOTHAR KOSSE: SHEKINAH
Nach zwanzig Sekunden ist klar: Hier geht es um Jazz-Rock, Fusion, amerikanische Musik mit Westcoast-Leichtigkeit. Und es dauert auch nur wenig länger, bis man hört und spürt, dass da drei Könner des Genres am Werk waren: Der deutsche E-Gitarrist Lothar Kosse (*1959) hat als Instrumentalist, Arrangeur, Komponist und Produzent an über dreihundert CDs mitgewirkt. Er war und ist vor allem in der christlichen Musikszene aktiv und erfolgreich. Bereits 1988 hat er unter eigenem Namen eine erste instrumentale Solo-CD mit dem amerikanischen Bassisten Abraham Laboriel aufgenommen und auch später mit ihm getourt. Der amerikanische Schlagzeuger Vinnie Colaiuta war 1999 erstmals mit Kosse auf dem Instrumental-Album Rainmaker zu hören. Jetzt sind sie wieder vereint: Und Shekinah ist eine weitere instrumentale Produktion auf höchstem Niveau. Als Gitarrist steht Kosse in der Tradition von Größen wie Larry Carlton, Pat Metheny, Eric Johnson, Lee Ritenour und Joe Satriani – also denjenigen, die zwischen dem bluesig-jazzigen Michael Landau und dem extrovertiert rockenden Steve Lukather für gute Laune sorgen. Denn die handwerklich absolut makellos komponierten und produzierten elf Tracks strahlen ganz viel Harmonie und Optimismus aus. Melodische Balladen und Midtempo-Nummern sind Kosses Terrain, das er schon immer mit sehr viel Gefühl bespielt – hier ist er übrigens auch mal, sich selbst begleitend, am Piano zu hören. Ein Retro-Album (es kommt im Digipak mit informativem und schön gemachtem Foto-Booklet) mit Musik aus einem Amerika, das es nicht mehr gibt.
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 / 2026
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MARCUS DEML: PURE
Marcus Deml mag es klassisch: Während andere Musiker ihre Produktionen auf Streaming-Portalen verschenken und dann genau darüber lamentieren, setzt der in Hamburg lebende Gitarrist auf gute analoge Fan-Arbeit und Präsenz in der digitalen Parallelwelt. Daher bekommt man von diesem Künstler noch eine hervorragend klingende CD im Digipak, plus 24-seitigem Foto-Booklet mit vielen Infos.
Deml, 1967 in Prag geboren und in Los Angeles am Musicians Institute ausgebildet, hat an mehr als 400 Produktionen mitgewirkt. Mit seinen eigenen Projekten Errorhead, Electric Outlet u.a. hat er 13 Alben veröffentlicht. 2021 kam dann mit Healing Hands ein erstes Album unter eigenem Namen raus. Mit Pure hat Marcus Deml nun ein Instrumentalwerk am Start, das vor Emotion und Musikalität nur so strotzt. Es ist weniger das Was sondern das Wie, das die Emotionalität dieser Musik ausmacht. Hier hat jede gespielte Note ihr Eigenleben. Ich muss bei manchen Gitarrentönen, die atmen, stöhnen und dann in dezente Verzerrung kippen, an Billie Holidays Gesang auf Lady In Satin (1958) denken. Deml hat, wie vor ihm schon Jimi Hendrix verstanden, dass der E-Gitarrenton seine kreativste Blüte feiert, wenn er sich im großen Spektrum des vokalen Ausdrucks bedient. Denn die menschliche Stimme ist wohl die Schwingung, die uns am direktesten berührt, weil wir sie seit den Sekunden unserer Geburt kennen.
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 / 2026
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PAULO MORELLO: MOVING
Und noch ein Jazz-Gitarren-Trio mit sehr eigenem Ansatz. Paulo Morello konnte weder wissen, dass ich über sein neues Album ,Moving‘ schreiben werde, noch dass ich seit Jahrhunderten absoluter Fan des großen Attila Zoller bin, eines europäischen Jazz-Gitarristen der vom Folkloristischen seiner ungarischen Heimat, über den coolen europäischen Jazz der 50er und frühen 60er-Jahre, bis zu freien Spielweisen und Crossover so ziemlich alle Felder mal abgedeckt hat – mit eigener Handschrift. Zollers vielleicht bekanntestes Stück „The Birds And The Bees“ eröffnet dieses neue Album des 1970 im oberpfälzischen Burglengenfeld als Cornelius Paul Schmidkunz geborenen Musikers. Das Paulo Morello ein Pseudonym ist, wusste ich bis eben auch noch nicht – interessant welche assoziative Kraft so ein Künstlername hat. Morello zählt heute zu den aktivsten Jazz-Gitarristen Europas, was das traditionellere Genre angeht. Er spielte u. a. mit Jimmy Smith, Bob Mintzer, Paul Kuhn, Billy Cobham, Quadro Nuevo, Randy Brecker, Larry Coryell, Airto Moreira, Philip Catherine und Pat Martino.
Mehr als die Hälfte der zwölf Tracks seines neuen Albums kommt aus dem Latin-Jazz, darunter sind drei Eigenkompositionen und auch noch ein paar swingende Standards hören. Neben dem bereits erwähnten Attila-Zoller-Klassiker sind das noch „When Sunny Gets Blue“ und „Beautiful Love“, die Paulo Morello ordentlich boppen lässt, ein paar gekonnte Akkord-Sequenzen in seine Soli einflicht. Das von Pat Martino bekannte „We’ll Be Together Again“ lässt er dagegen wunderbar transparent fließen, wobei bei der Themenvorstellung Kontrabassist Sven Faller ganz weit vorne im Klangbild mitagiert – was dieser Interpretation ein ganz eigenes, modernes Flair verleiht. Faller hat einen großartigen, knochigen Ton in dieser Aufnahme, und seine Kombination aus oft höherlagiger Melodik, fast perkussivem Attack und trotzdem immer auf Tragfähigkeit ausgelegtem Spiel ist bemerkenswert.
Paulo Morello lernte als Kind angeblich zunächst Blockflöte und dann auch noch Geige – und blieb trotzdem bei der Musik. Allerdings wechselte er autodidaktisch zur rockenden E-Gitarre, bevor er mit 17 Jahren den Rest der Musikwelt entdeckte und Jazz-Gitarre am Meistersingerkonservatorium in Nürnberg und an der Hochschule für Musik in Mannheim studierte. Im Rahmen eines Studienaufenthalts in New Yorkhatte er Unterricht bei Größen wie Jim Hall, Peter Leitch, Jack Wilkins, Attila Zoller, dem Pianisten Richie Beirach, außerdem bei Bassist Buster Williams und Saxophonist George Garzone. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Paulo Morello zahlreiche Alben als Leader und Sideman eingespielt; seine Affinität zur Musik Südamerikas war dabei häufig präsent, ohne dabei den swingenden straight ahead Jazz zu vergessen, ebenso wenig den pulsierenden Bebop.
Moving – OK, verstanden: Dieser Künstler ist in Bewegung, was musikalische Terrains angeht, aber auch im Leben. Zuletzt ist er in die Hauptstadt gezogen, wo er als Hochschullehrer tätig ist. In schwierigen Zeiten für Musiker, was die Live- und Tonträgermarkt-Situation angeht, ist das ein sicherer Hafen – Paulo Morello ist als Professor für Jazz-Gitarre und inzwischen auch als Künstlerischer Direktor am Jazz Institut Berlin.
Und im Titel-Track des Albums, dem Morello-Original „Moving“ groovt dieses Trio dann auch noch mal ganz anders, knackig, funky, mit etwas Larry-Coryell-Touch. Hier zeigt der aus Brasilien stammende Schlagzeuger Mauro Martins, der u. a. mit Airto Moreira, Phil Collins, Raul de Souza, Richard Galliano und Tania Maria gearbeitet hat, dass er auch im Crossover-Segment extrem kreativ ist und diese Trio geradezu erfrischend grooven lässt. Leider endet ausgerechnet diese energetische Nummer (wie auch schon „Beautiful Love“) mit einem Fade-out – die Künstler werden wissen warum sie das so wollten. Ich behaupte mal, dass es nicht so schlimm gewesen sein kann, was danach zu hören war. Und von der Fähigkeit der Musiker, diese Stücke zu Ende zu bringen, kann man sich ja mal im Konzert überzeugen. Tourdaten und mehr findet man unter paulomorello.com.
Paulo Morello selbst sieht sein neues Album als „eine musikalische Momentaufnahme von Lieblingsstücken, Begegnungen und Inspirationen. Es ist ein Album, das groovt, singt, swingt und gleichzeitig Platz für feine Zwischentöne lässt.“ Genau das ist ihm abwechslungsreich gelungen.Live-Termine und mehr findet man unter paulomorello.com
Lothar Trampert / Paleblueice.com 12/2025
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MAGRO: MANY CHANGES
Die coolen Retro-Sounds der Magro-Tracks haben mir auf Anhieb gefallen. Und wenn ich auf der Bandcamp-Seite des Künstlers die Tags „experimental hip hop jazz jazz fusion neo-soul instrumental jazz“ lese, dann muss ich schon grinsend anmerken, dass die Zeit, in der diese Art von inzwischen zeitloser Musik er-experimentiert wurde, doch schon länger zurückliegt. Magro scheint aber eine echte, emotionale Bindung zu diesem 90s-Sound zu haben, und die instrumentale und produktionstechnische Kompetenz, daraus immer noch neue, spannende Kunst zu machen. Der in Berlin lebende Schlagzeuger und Projektleiter hat ein extrem sicheres Gefühl für intensive, berührende Grooves und großartige Song-Dramaturgie. ,Many Changes‘ ist sein drittes Album – keine Frage: Ich muss mir also ganz schnell noch die beiden Vorgänger besorgen …
„Magros Sound entführt seine Zuhörer in eine atmosphärische Klangwelt, die live aufgenommene Songs mit modernen Produktionselementen verbindet.“ lese ich im Info zum Album, auf dem er im Trio mit Martin Lüdicke (Keyboard) und Francesco Beccaro (Bass) zu erleben ist. Dazu kamen noch einige musikalische Gäste: Gitarrist Igor Osypov, der Rapper Rapturous, der auch live mit Magro auftritt, der in London lebende Gitarrenvirtuose Tom Ford, der in Track 7, ,Sleepwalking‘ ein beachtliches Solo raushaut, und da ist noch der britische Saxophonist Sean Payne in ,Light Switch‘. Im Titel-Track ,Many Changes‘ ist Magro zudem mit dem Pianisten und Produzenten Telemakus zu erleben.
Interessant! Diese Musik tut einfach gut, der Sound ist warm, die Grooves sind scharf und inspirierend, und die Grundhaltung ist wirklich extrem open minded – sprich: Stilschubladendogmatiker und Genre-Fetischisten haben hier keinen Spaß. Denn Magro ist ein kreativer, respektvoller Aneigner und Weiterentwickler, der im weiten Feld zwischen Jazz, HipHop, R&B und Electro, seine Basis gefunden hat, von der aus er uns zu kreativen Trips mitnimmt. Das instrumentale Zusammenspiel der drei Musiker ist dabei Weltklasse. Magro: „Viele meiner Idole, wie Miles Davis, haben lange Zeit mit derselben Besetzung gespielt. Nur so konnte ein authentischer und tiefgründiger Band-Sound entstehen.”
Magros Debüt-Album ,Trippin’‘ wurde 2021 mit dem Deutschen Jazz-Preis ausgezeichnet. Er hat als Schlagzeuger und Produzent mit Musikern wie Leona Berlin, Kurt Rosenwinkel, Wayne Snow, The Rolling Stones Project, Nightmares on Wax, Studnitzky und Jocelyn B. Smith zusammengearbeitet. Und jetzt das großartig gelungene ,Many Changes‘. Keine Frage – da wird noch mehr kommen!
Kontakt: magromusic.bandcamp.com/album/many-changes
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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MARIAN MENGE: ALL THAT LITTER IS GOLD
Wer den in Köln lebenden Gitarristen Marian Menge (*1979) schon länger kennt, weiß dass man ihn immer wieder neu kennenlernt.
Seit 2016 ist er Mitglied der legendären britischen Band Fischer-Z, lange vorher hat er Jazz und Klassische Gitarre studiert, spielte in einer der besten deutschen Formationen der 00er-Jahre, Voltaire, es folgte das Singer/Songwriter-Elektro-Trio Ponderosa, und da ist immer noch die seit 2015 bestehende großartige Formation Alpentines, mit der er schon einige Alben produziert hat.
Dass er auch in trauter Einsamkeit kreativ ist, bewies Marian Menge bereits auf der Ende 2019 erschienene 4-Track-Solo-EP ,Nichts mehr’. Da war er noch in Begleitung seiner Gesangsstimme zu erleben, sechs Jahre später zeigt sich Klangkünstler als purer Handwerker, an elektrischen und akustischen Gitarren, einer Lapsteel und so einigen Effektgeräten, mit deren Unterstützung er durch Zeit und Raum schwebt.
Marian liebt die Musik von Jakob Bro und Terje Rypdal. Und ich liebe außerdem auch noch die Musik von Marian Menge und habe jetzt das große Problem, ganz vieles so ähnlich zu beschreiben, wie er es selbst (als sein eigener Ghostwriter) dann schon in dem wirklich gelungenen Begleittext zu seiner neuen LP geschrieben hat. Ja: Schreiben kann er auch, denn er arbeitet schon lange als Musikjournalist. Und noch mal Ja: ,All That Litter Is Gold‘ ist auf einer Vinyl-LP erschienen, mit einem stimmungsvollen Cover-Motiv, das seine Mutter Doris mal fotografiert hatte, wie ich auf der Rückseite, in perfekt gewählter Typografie lese.
Soviel vorab: Die Platte klingt sehr gut, die Pressung ist sauber, und das ist bei Musik ohne Beats und Becken schon sehr sinnvoll, sofern es sich nicht um Songs zum knisternden Lagerfeuer handelt.
,All That Litter Is Gold‘ transportiert acht sphärische Instrumentals, die in knapp 40 Minuten, je nach Wahrnehmung, auf eine große oder mehrere kleinere Reisen mit Zwischenübernachtung mitnehmen, verbunden durch drei ,Movements‘ die Marian Menge als „über Loops und Improvisationen entstandene kleine Fenster in Ideen, die gar nicht mehr wollen als genau das zu sein“ beschreibt. Ich empfinde diese Movements wie erreichte Ruhezonen, Zwischenstopps und zugleich beeindruckende Aussichtspunkte. „Einige der Titel sind in ihrer Grundstruktur schon vor Jahren entstanden und manche von ihnen drohten schon in Demo-Form als Müll auf einer Festplatte zu enden. Aber Musik ist nie Müll, egal, ob sie gefällt oder nicht. Und Datenmüll vergeht nicht. Und mancher Müll kann zu Gold werden.“ Ende des Zitats.
Die gelungenen Gitarren-Sounds und die weiten Soundscapes, die der Gitarrist hier kreiert, verfremden, ja abstrahieren sein Instrument oft schon sehr. Ich höre mal Streicher, mal wortlose Gesangsstimmen, mal traumhafte Klangräume in die man als Hörer gezogen wird. In Track 08 passiert das besonders deutlich, und man weiß gar nicht mehr, ob man fällt oder schwebt, und vor allem nicht wohin. Sieben Minuten und dreiundvierzig Sekunden dauert dieses mit ,Professional Empathy‘ betitelte letzte schöne, wehmütige Stück dieses Albums, bei dem man an Liebe, Sehnsucht, ans Sterben, aber auch an die Schönheit des Lebens vor dem Tod denken kann. Der sich daran anschließende kurze akustische Epilog bringt uns zurück ins Leben. War alles nur ein Traum … Vorerst beendet Track 08 also nur die wunderbare Musik dieses Albums – und diesen Versuch einer Rezension. Marian Menge & ,All That Litter Is Gold‘ – unbedingt anhören!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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YVONNE MORIEL SWEETLIFE QUARTET: SWEETLIFE III
Die Saxophonistin & Flötistin Yvonne Moriel hat vor einiger Zeit den Österreichischen Jazz-Preis als Best Newcomer erhalten. Absolut verdient. Neben ihrer Zusammenarbeit mit Shake Stew und Christian Muthspiel hat die 1992 geborene und in Tirol aufgewachsene Musikerin auch noch ein sehr interessantes eigenes Quartett am Start: Gemeinsam mit Lorenz Widauer (trumpet), Stephanie Weninger (moog & keys), Raphael Vorraber (drums), sowie den Gästen Tobias Meissl (vibraphone) und Vincent Pongracz (bass clarinet) hat Yvonne-Stefanie Moriel nach der Veröffentlichung von zwei EPs jetzt das Debüt-Album ,Sweetlife III‘ veröffentlicht. Die gleichnamige Band besteht seit 2022, und Moriels Ziel, ihre Vision, ist eine offene, genreübergreifende Spielart des Jazz, angereichert mit Dub, Elektronik und der Art von spannender Entspanntheit, mit der Miles Davis Ende der 1960er-Jahre die Jazz-, Rock- und Popwelt irritierte. Und begeisterte. So begegnen sich auch hier absolut interessante instrumentale Farben in eigenwillig vertrackten Themen aus denen die Musikerinnen und Musiker immer wieder Überraschungen zaubern. Coole Synth-Bass-Riffs die in Walking-Lines und energetische Bop-Passagen münden erlebt man hier genauso wie komplexe Beats und freischwebende, atmosphärische Sounds. ,Sweetlife III‘ ist eines dieser Alben, die auch beim dritten Anhören noch überraschende Momente bieten. Absolut großartig!
Weitere Infos: www.yvonnemoriel.com
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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DAVID GILMOUR: LIVE AT THE CIRCUS MAXIMUS
Ich mag Live-Alben. Und dieses hier gehört zu den besten, berührendsten, schönsten und absolut perfekt klingenden. Wer David Gilmours Musik liebt, kann dieses wunderbare Konzert auf zwei Blu-rays in bestem Sound miterleben (stereo, dts 5.1 und Dolby Atmos). Meisterwerk.
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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JOHN SCOFIELD / DAVE HOLLAND: MEMORIES OF HOME
Im Duo mit anderen Musikern war Gitarrist John Scofield während seiner nunmehr über 50 Jahre andauernden Karriere als Recording Artist schon ab und an mal zu erleben: Mit Keyboarder John Medeski hat er gelegentlich live gespielt, 1984 mit John Abercrombie das Album ,Solar‘ aufgenommen, auf ,Old Folks‘ (1999) ist er im Duo with Bassist David Friesen zu hören und auch mit seinem langjährigen Trio-Kollegen Steve Swallow hat Scofield schon ein paar Mal nur zu zweit gespielt. Im Netz kursieren noch Aufnahmen vom Jazz-Festival Münster 1990, wo John Scofield & Albert Mangelsdorff zusammen auftraten, mit seinem Idol Jim Hall war er 1997 beim Jazz-Festival in Orvieto, Italien zu hören. Und auf seinem Ende 2022 erschienenen Solo-Album ,John Scofield‘ hat sich der Meister mit Hilfe von Multitracking ja auch schon mal ausgiebig selbst zur Saite gestanden.
Nach soviel Nerd-Facts geht es nun um das neue Album von Gitarrist John Scofield und Kontrabassist Dave Holland. Die beiden Herren sind in dieser überschaubaren Besetzung 2021 und 2024 ausgiebig auf Tour gewesen. Ich habe sie im November 2021 in der Philharmonie Essen erlebt – ein absolut beeindruckendes Konzert.
Als ich aber jetzt die ersten Töne von ,Icons At The Fair‘, dem Opener des neuen Albums ,Memories Of Home‘ hörte, dachte ich nur: „Das ist der Unterschied: Die Nähe!“ Denn Dank der großartigen, warmen Aufnahme von Engineer Scott Petito sitze ich jetzt direkt vor den beiden Musikern und spüre jede Note, jede Saitenschwingung, jedes Spielgeräusch. Diese Club@Home-Atmosphäre, bei der man auch noch das schöne Booklet der bei ECM erschienenen CD genießen kann, ist dieser Musik absolut entsprechend. Und dieses erste Stück kommt einfach mit einer unglaublichen Spannung rüber, groovt so großartig, dass man sogar den nicht vorhandenen Drummer zu hören scheint.
Die Aufnahmen entstanden im August 2024 in den NRS Studios in Catskill, New York, also gut eingespielt, kurz nach ihrer Sommer-Tour durch Europa. John Scofield: „Die Platte enthält, genau wie unsere Live-Shows, Stücke, die jeder von uns komponiert hat, einige neu, einige alt. Wir teilen jahrzehntelange gemeinsame musikalische Bezugspunkte. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in unseren Herangehensweisen machen die Zusammenarbeit, wie ich finde, um so spannender.“
Album-Track 2, Scofields Komposition ,Meant to Be‘, kommt extrem relaxt und dezent countryesk rüber, inklusive ausgiebigem Bass-Solo von Dave Holland. Mit dem wunderbar boppenden ,Mine Are Blues‘ und dem brillant nur von der Gitarre eingeleiteten ,Memorette‘ folgen noch zwei weitere Scompositionen, bevor Dave Holland mit ,Mr. B‘ an der Reihe ist.
Noch einmal: Der Aufnahme-Sound ist klasse, und insbesondere der Kontrabass steht auch via Lautsprecher physisch im Raum. Wer einmal so ein Instrument gezupft hat, weiß was das für ein über die Ohren hinausgehendes Erlebnis ist. Und genau das kommt beim sehr straight swingenden ,Mr. B‘ besonders zur Geltung. „(Dedicated to Ray Brown)“ steht hinter dem Song-Titel. Scofield spielt hier wunderbare, teils eckige Linien mit großen Intervallsprüngen, darin eingeflochten sind Oktaven, Double-Stops und akkordische Passagen. Alles klingt absolut spontan, auch mal rough bis krachend, und diese pure, spontane Spielfreude war auch beim oben erwähnten Konzert zu spüren.
Dave Hollands nächste Komposition ,Not for Nothin“ baut auf einem schweren Riff auf, in das Scofield einsteigt, erst unisono, dann extrem kontrastierend mit Akkordfragmenten, weirden Abwärtsläufen und bluesigen Bendings aus denen er dann immer wieder ausbricht.– großartig. Mit Scofields Ballade ,Easy for You‘ geht es auf höchstem spielerischen Niveau weiter, und ich überlege gerade ob ich auch noch die beiden finalen Holland-Tracks ,You I Love‘ und ,Memories of Home‘ euphorisch spoilern soll. Nein, jetzt ist gut!
Fazit: Dieses Duo-Album von John Scofield und Dave Holland ist ein Meilenstein. So einen gab es schon mal: ,Alone Together‘ (1973) von Ron Carter und Jim Hall wurde allerdings fast auf den Tag 52 Jahre früher aufgenommen, und ist immer noch ein genialer, zeitloser Maßstab für diese Besetzung. Scofield war damals 21 Jahre alt, studierte Jazz am Berklee College of Music in Boston – er wird dieses Album gehört haben. Und seine Liebe zur Kunst von Jim Hall ist auch in der Musik von ,Memories of Home‘ immer präsent. Berührend. (VÖ: Das Album ist ab Freitag, den 21.11.2025 im Handel!)
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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DUFF MCKAGAN: LIGHTHOUSE. LIVE FROM LONDON
Für mich war Duff McKagan immer der beeindruckendste Musiker aus dem Umfeld von Guns N‘ Roses. Und als Mensch ein Kämpfer, Macher, Überlebender – Respekt! Als 1993 sein Solo-Debüt ,Believe In Me‘ erschien, war ich absolut begeistert von diesen rockenden Songs, alle intelligent gemacht, großartig produziert und spannend interpretiert. Der Mann am Bass, und jetzt auch an diversen Gitarren und am Mikrofon: Michael Andrew „Duff“ McKagan (* 1964). Der hatte bis dahin mit seiner Haupt-Band die Alben ,Appetite for Destruction‘ (1987), ,G N‘ R Lies‘ (1988), ,Use Your Illusion I & II‘ (1991) und ,The Spaghetti Incident?‘ (1993) veröffentlicht – also die Musik, von der der Mythos GN’R bis heute lebt. Ganz zu Anfang seiner Karriere war Duff McKagan übrigens auch mal Drummer einer Hardcore-Band. Ein Talent.
Und jetzt hat Duff McKagan ein großartiges Live-Album veröffentlicht: ,Lighthouse: Live From London‘ wurde am 5. Oktober 2024 aufgenommen und liefert Songs aus seiner gesamten Karriere, darunter , Forgiveness‘, ,I Saw God on 10th St.‘, ,Lighthouse‘, ,Chip Away‘ und ein paar Cover-Nummern. Rührend ist der Gastauftritt von Sex-Pistols-Gitarrist Steve Jones, der gemeinsam mit McKagan Johnny Thunders‘ ,Can’t Put Your Arms Around A Memory‘ spielt – und dann auch noch David Bowies ,Heroes‘. Und das sehr, sehr überzeugend. Vom ersten bis zum letzten Ton ist dieser Live-Mitschnitt ein Erlebnis – übrigens auch visuell: Denn der CD im opulenten Digipak mit Foto-Booklet liegt auch noch eine Blu-ray bei, mit allen 19 Tracks des Albums, eingefangen in wirklich schönen, atmosphärischen Bildern. Dass der Sound nur im PCM-Stereo-Format zur Verfügung steht, passt zu diesem Musiker: Druck und Präsenz sind ihm wichtiger als ein 5.1- oder Dolby-Atmos-Mix, der schon bei vielen anderen Live-Aufnahmen oft wenig bereichernd war. Hier, bei ,Lighthouse: Live From London‘, stehst du mit deinen beiden Ohren ganz vorne vor der Bühne, und die Band rockt! Eine wirklich packende und perfekt eingespielte Band: Gitarrist Tim DiJulio überzeugt immer wieder mit wunderbaren Vintage-Sounds und schönen Effekten, ganz egal ob er begleitet oder soliert; auch Keyboarder Jeff Fielder greift gelegentlich zur Gitarre und Mike Squires Bass und Drummer Michael Musburgers Grooves tragen diese Band, die zwischen straightem Rock, deftigem Punk und countryesken Momenten immer überzeugt.
Der Mann am Mikrofon, meist mit einer Akustikgitarre vor dem nicht vorhandenen Bauch heißt Duff McKagan und hat eine unglaubliche Präsenz. Ich könnte jetzt hier Song für Song durchgehen und jeden Track bejubeln … Nur so viel: Auch nach dem vierten Hören dieses Albums ist es immer wieder ein Erlebnis. Diese Rock-Musik ist straight, handgemacht, berührend, echt. Duff McKagan kann nicht anders, da bin ich mir sicher. Und er und Steve Jones dürfen auch Bowies Meisterwerk ,Heroes‘ spielen, denn sie sind schon länger als nur einen Tag ganz schön coole und absolut bodenständige Helden.
Duff McKagans ,Lighthouse. Live From London‘ ist ein absolut packender Konzertmitschnitt mit großartigen Songs.
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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SLASH: LIVE AT THE S.E.R.P.E.N.T. FESTIVAL
Als Guns-N‘-Roses-&-more-Gitarrist Slash 2024 nach 14 Jahren mal wieder ein Solo-Album veröffentlichte, geisterte der Begriff „Blues“ durch die Szene. Slash-Fans waren irritiert, blaue Dogmatiker wanderten aus und die mediale Welt multiplizierte die nur halbwahre Meldung, das Saul Hudson, die Reinkarnation des klassischen Rock-Gitarristen der 1960er-, ’70er- und ’80er-Jahre, sich jetzt unter den Wurzeln aller populären Musik vergraben habe. Dabei war ,Orgy Of The Damned‘ nicht mehr oder weniger als ein Cover-Album mit Gästen, mit Traditionsbezug und mit einigen, auch bluesigen Tracks, die diesem Rock-Gitarristen am Herzen lagen und die ihn beeinflusst hatten.
Für ,Live at the S. E.R. P.E. N.T. Festival‘ brachte Slash dieses Projekt anschließend auf die Bühne. Das Album wurde am 17. Juli 2024 live im Mission Ballroom in Denver, Colorado aufgenommen. Zwei Audio-CDs plus eine Blu-ray mit dem Konzertfilm (in PCM-stereo und DTS-5.1-Sound) in einem schön designten Digipak mit Booklet – das ist schon ein Paket. Während man die Live-CDs quasi als Konzert durchhören kann, liefert die Blu-ray nach drei, vier Songs immer wieder kurze Interview-Sequenzen mit Slash, in denen er über seine Beziehung zu den einzelnen Tracks informiert.
„Slash’s Blues Ball“ heißt die Band, die man hier erlebt. Und neben Meister S. ist hier auch sein Kollege Tash Neal („rhythm guitar, vocals“) mit einigen Lead-Spots zu erleben. Guter Gitarrist! Dafür zeigt Slash hier in so einigen Tracks echtes Funk-Talent und spielt wirklich coole Rhythmusgitarren-Parts. Der sehr bluesy röhrende Hauptsänger Teddy “ZigZag” Andreadis (keyboards, harmonica, vocals), Johnny Griparic (bass, backing vocals), und Energielieferant Michael Jerome (drums) vervollständigen das Line-up.
Das ganze Konzert kommt wie eine gut vorbereitete Jam-Session rüber, von Musikern, die diesen Kompositionen von Legenden des Rock und Blues, Tribut zollen. Standards wie ,Parchman Farm Blues‘ (Bukka White), ,Killing Floor‘ (Howlin‘ Wolf), ,Oh Well‘ (Peter Green & Fleetwood Mac), ,Papa Was a Rolling Stone‘ (The Undisputed Truth/The Temptations), ,Stone Free‘ (Jimi Hendrix), ,The Pusher‘ (Hoyt Axton/Steppenwolf), ,Crossroads‘ (Robert Johnson) und T-Bone-Walkers legendäre Blues-Komposition ,Stormy Monday‘ spielt diese Band mit voller Energie und Begeisterung. Slash selbst geht dabei immer wieder sehr spontan zur Sache, mit viel Kraft und rauher Virtuosität. Und wenn er sich hier und da mal etwas verhudelt macht das die Sache nur noch sympathischer – dieser Konzertmitschnitt wurde jedenfalls nicht geschönt.
Das straighte ,The Pusher‘, Hendrix‘ ,Stone Free‘, das sehr cool umarrangierte ,Papa Was a Rolling Stone‘ und auch die eigene Version von ,Stormy Monday‘ sind meine Favoriten. Der rauhe und wirklich nicht bei jedem Ton auf Perfektion angelegte Ansatz dieser Band macht einfach Spaß. Und Slash’s unbegleitetes Intro zu ,Stormy Monday‘ ist einfach so eigenwillig wie einzigartig. „Was spielt der da?“ habe ich mich gefragt. „What I feel“, hat Slash geantwortet. Und klar: Mit einem Remake der legendären, sehr reduzierten Allman-Brothers-Version hätte er keine Schnitte gehabt. Also spielt er sich mit vielen, vielen Tönen durch diesen Track. Auch hier ist die Gitarre seiner Wahl mal keine Les Paul sondern eine ES-335 – mit Bigsby-Vibrato. Passt! Und wenn er mit der Band dann plötzlich von Moll nach Dur wechselt, geht die Sonne auf – und da schimmert dann doch ein wenig von der Fillmore-East-Version der Brothers durch. Genial und ohne Frage ist diese Sequenz eines der absoluten Highlights dieses Live-Albums. Blues-Album? Slash-Album!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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CARSTEN HEIN: BASS SIGNAL WORKS I
Der in Berlin lebende Künstler und Kultur-Manager Carsten Hein (*1979) war mir bisher nur als E-Bassist der großartigen Band des Gitarristen Marcus Klossek bekannt – und da schon positiv aufgefallen. Jetzt hat Carsten mir einen Tonträger mit eigener Musik geschickt, „composed, performed, recorded and mixed by Carsten Hein (bass guitar & electronics), 2025“. Vor dem Hörgenuss steht ein haptisches Erlebnis: Denn wann habe ich zuletzt eine MC, also eine Musikkassette bekommen, und schon garnicht eine transparent-rote, über die sich sogar mein Tape-Deck total gefreut hat, weil in dessen Leben schon lange nichts Spannendes mehr gelaufen ist … Aber das ist eine andere, sehr persönliche Geschichte … ;-)
Los geht’s mit dem auf einem Riff aufgebauten, sechseinhalbminütigen Track ,Bass Phase‘, in dem sich das kurze musikalische Motiv vervielfältigt, überlagert, verschiebt, und so eine eigenwillige, hypnotische Atmosphäre schafft. Darüber legt Carsten Hein ein paar knarzige Flageolets, denen dann mit sehr analog klingendem Delay zu einem Eigenleben verholfen wird. Zu diesem Punkt hat sich das musikalische Geschehen schon gewaltig hochgeschaukelt, um dann aber gegen Ende wieder zum sparsameren Intro-Setting zurückzufinden. Cool! Das hat was sehr Eigenes. Wer bei Ambient an Kuschelektro denkt, ist also hier nicht ganz so gut aufgehoben.
Auch der nächste, ähnlich lange Track ,Roblootron‘ hat schon etwas Mysteriöses, Unheimliches im Klangbild – diese Musik hat extremes Soundtrack-Potenzial. Beeindruckend tiefe E-Bass-Töne fluten meine Abhörzelle – da kann man die Heizung runterdrehen. Gleichzeitig jagen aber kurze Zeit später abstrakt-bedrohliche Geräusche im weiten Hallraum messerscharfe, eiskalte Schauer über den Rücken. Bedrückend beeindruckend beängstigend. Carsten Hein muss definitiv nicht mit einer Einladung in den ZDF Fernsehgarten rechnen. Selbst die ,Smile‘ betitelte sechste Klangkomposition irritiert bei aller sphärischen Harmonie noch mit zu viel Verlorenheit und Untiefe, um sich wirklich zurücklehnen zu können. Nein, hier kann man sich eigentlich nur mutig fallen lassen – und warten, was passiert. Ich hatte diese Art von Klangkonsumimfreienfallerlebnis zum ersten Mal bei David Bowies Alben ,Heroes‘ und ,Low‘, in der Zeit, als db Brian Eno und Robert Fripp zur Zeite standen.
Mit dem fast zehnminütigen ,It Hunts, It Seeks‘ ist man dann wirlich Lost in Abstraction – ein absolut haltloser Trip ins Nichts. Ich verrate nicht, wie’s ausgeht.
Das sehr spröde, wieder mit Flageolet-Tönen und weirden Bass-Geräuschen garnierte ,Fleeting Steps‘ beendet dieses eigenwillige Album. Experimentelle Musik, die irgendwo zwischen Komposition und Improvisation, Performance und Happening durch Zeit und Raum schwebt.
Ein absolut eigenwilliges Musikwerk.
www.carstenhein.com
carstenhein.bandcamp.com
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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MARTIN SCHMIDT: VIERSPUR KLEBER & GITARRENKRACH
Erster Eindruck: Ein Buch wie ein Fanzine! Nur etwas dicker: 444 leicht graue Seiten, mit vielen überwiegend schwarzweißen Fotos und -Abbildungen, geschmackvoller grafischer Gestaltung und Content ohne Ende. „Der deutsche Gitarren-Underground der 80er“ lautet der Untertitel, und Autor Martin Schmidt (* 1970) weiß worüber er schreibt, denn er hat die Zeit als junger Mensch miterlebt und ist selbst Musiker geworden. Seit vielen Jahren ist er als Frontman von The Razorblades und The Incredible Mr. Smith bekannt, und ein paar wirklich gute Gitarrenbücher hat er auch schon veröffentlicht.
„Vierspur, Kleber & Gitarrenkrach“ erzählt ein Stück deutscher Musikgeschichte, ausgerechnet der verrufenen 80er Jahre. „Gab es da überhaupt noch Gitarren in Deutschland? Oder hatten die sich nach Punk und NDW in der Bundesrepublik erledigt und alle Jugendlichen tanzten in Neonklamotten zu Synthiepop und ödem Mainstreamrock?“ fragt der Autor. Klar gab es die! Und nicht nur die E-Gitarre, auch der punkige Rock-Approach, die Liebe zur schrägen Musik der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, The Velvet Underground, MC5, Stooges, trieben weiterhin junge Musiker an, ihr eigenes Ding durchzuziehen und es auch in Konzerten, auf Festivals, über Fanzines und alternative Label bekannt zu machen.
Martin Schmidt hat mehr als 30 Interviews geführt mit Bands wie Cliff Barnes & The Fear Of Winning, The Strangemen, Ferryboat Bill, WellWellWell, Fenton Weills, The Multicoloured Shades und die Flowerpornoes, außerdem mit Label-Betreibern, Designer und Fanzine-Machern gesprochen, und so versucht, das Thema möglichst breit und umfassend zu dokumentieren. Natürlich ist da immer Subjektivität im Spiel, angefangen bei der Auswahl der Themen bis hin zu den Fragen, die den schreibenden Fan interessieren. Und genau das macht Martin Schmidts Zugang zum Thema so sympathisch, nachvollziehbar, authentisch. Es geht um Alternativ-Kultur, um musikalischen Underground, weitab vom polierten Pop-Mainstream jener Jahre. Und Martins Schreibstil ist außerdem erfrischend, auch mal ironisch und immer auf den Punkt – das merkt man schon beim Lesen des Infotexts zum Buch: „Der kommerzielle Erfolg blieb übersichtlich, aber für viele junge Menschen waren diese Bands der Sound der 80er. In Jugendzentren, Underground- Clubs und bei kleinen Festivals quietschten und schrammelten die Gitarren, während sich die Indie-Postille Spex den Kopf zerbrach, wie man diese Musik denn jetzt exakt bezeichnen sollte. Mit dem Erfolg von Grunge und der Hamburger Schule verschwand diese deutsche Gitarrenszene unverdienterweise. Laut und schön war sie trotzdem und es ist an der Zeit, sie wieder auszugraben!“
Einziger kleiner Kritikpunkt: Beim nächsten Buch an die hohe Brillenträgerquote auch unter Ex-Punkern denken, und die Schrift einen oder zwei Punkte größer fahren. OK, dann wäre dieser fette Untergrundschinken noch dicker geworden … Also Brille raus und durch! 🤘😎📓 Denn „Vierspur, Kleber & Gitarrenkrach“ ist so oder so ein wirklich tolles Buch von einem Musiker & Fan. Zum Buch hat Martin auch noch ein Album produziert, mit neun Tracks, performed by THE INCREDIBLE MR. SMITH! Es ist als CD oder Digital Download erhältlich.
Das schöne Buch, wie die beschriebene Musik vom Künstler selbst independent produziert, kostet 45 Euro, was angesichts des Umfangs von 444 Seiten absolut angemessen ist. Außerdem ist es einfach ein Hingucker! Für alle Underground-Musikfans, die in den 80ern ohne Alphaville, Scorpions, Nena und Sandra auskamen, ein großartiges Geschenk.
Momentan läuft noch eine STARTNEXT KAMPAGNE zur Vorbestellung des Buchs, das dann in Kürze erscheint.
Weitere Infos: www.vierspurklebergitarrenkrach.de
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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MARCUS DEML: PURE
Marcus Deml mag es klassisch: Während andere Musiker seit Jahren ihre neuen Produktionen auf Streaming-Portalen verschenken und dann genau darüber lamentieren, setzt der in Hamburg lebende Gitarrist auf gute Fan-Arbeit, direkte Kontakte zur Zielgruppe und Präsenz in der digitalen Parallelwelt. Außerdem unterrichtet Marcus Deml seit vielen Jahre und veranstaltet auch immer wieder mehrtägige Workshops für interessierte Gitarristinnen und Musiker. Genau deswegen macht es auch durchaus Sinn für ihn, mit einem physischen Tonträger an den Start zu gehen – die Vorbestellungen für sein neues Album ,Pure‘ sprechen eine klare Sprache. Soviel vorab: Bei Marcus bekommt man eine hervorragend klingende CD im Digipak, plus 24seitigem Foto-Booklet mit vielen Infos. Und zu jedem Song gibt es eine kleine Story und eine genaue Equipment-Liste für die Gitarrengemeinde.
Marcus Nepomuc Deml, 1967 in Prag geboren, in München und Frankfurt aufgewachsen, in Los Angeles am G.I.T. des Musicians Institute ausgebildet und vor über 20 Jahren in Hamburg sesshaft geworden, hat an mehr als 400 Alben als Sideman für Künstler wie Toto-Sänger Bobby Kimball, Laith Al-Deen, Saga, Michael Sadler, John Wetton, Nena, Achim Reichel, Moses P., Phils Sohn Simon Collins, Pat Mears, Sabrina Setlur, Rick Astley, Snap, Kingdom Come u.a. mitgewirkt. Mit seinen eigenen Projekten Errorhead, Electric Outlet, The Blue Poets und Earth Nation hat Marcus bereits 13 Alben veröffentlicht. Erst 2021 kam dann mit ,Healing Hands‘ ein echtes Soloalbum raus, erschienen auf seinem eigenen Label Triple Coil Music ( www.triplecoilmusic.com ).
Und jetzt ist Marcus Deml mit dem Nachfolger ,Pure‘ am Start, einem wirklich intensiven Gitarren-Album, das vor Emotion und Musikalität nur so strotzt. Wobei der technisch extrem versierte E-Gitarrist schon immer größten Wert auf Tone, auf Ausdruck, auf die Intensität jeder einzelnen Note gelegt hat. Mit megaschnellen Licks trendigen Skalensalat als Virtuosität zu verkaufen war nie sein Ding. Das kann er auch, keine Frage. Wichtiger: Bei Marcus Deml hat jeder Ton ein Eigenleben. Was ihn durchaus mit Jeff Beck und Jimi Hendrix verbindet. Aber er liebt auch den Melody Man Carlos Santana, den bluesigen Melodiker und Hardrocker Gary Moore und den gitarrespielenden Außerirdischen Allan Holdsworth. Bei diesem breiten und anspruchsvollen Spektrum bleibt dann wirklich nur der eigene musikalische Weg, wenn man gehört werden will.
Marcus‘ Virtuosität ist in den besten Momenten absolut unaufdringlich, sie findet oft im Detail statt. Noch mal: Jeder Ton hat hier ein eigenes Leben, jede Phrase hat Emotion, jede Komposition erzählt eine Geschichte.
Schon im ersten Track ,Budapest‘ ist das Thema „Tone“ offensichtlich. Denn wie Deml hier das einfach strukturierte Thema interpretiert, wie er den Klang seiner Stratocaster moduliert und von einem cleanen Ton in eine singende HiGain-Linie schwebt, ist Weltklasse. Formal hört man hier eine instrumentale Rock-Ballade, vom spielerischen Ansatz entspricht das Thema-Improvisation-Thema-Konzept einem Jazz-Standard. Und in dem Punkt sind die Grenzen bekanntlich fließend. ,Persecucion‘ kommt dann ganz riffig und jazzrockig daher, mit einem kurzen, hymnischen Interlude und einem absolut fließenden Solo.

Mit Marcus Deml waren für die Einspielung von ,Pure‘ noch Bassist Achim Rafain, Schlagzeuger Felix Dehmel und Keyboarder Tom Aeschbacher im Studio. Bei zwei Tracks ist Sängerin Betty Balue zu hören – im anfangs schrägen ,Only Half A Step‘ nur mit ein paar rudimentären Rap-Vocals zwischen Wah-Gitarre und coolem Bass-Lick – dann wird eine ganz normale Rock-Nummer mit ausführlichem Gitarrensolo daraus.
In ,Just Roll With It‘ geht es ähnlich zur Sache, funky, cool, ein paar Vocal-Samples und dann kommt wieder ganz viel Gitarre. Da werden Erinnerungen an alte Errorhead-Aufnahmen wach.
Die wahre Stärke des Gitarristen Marcus Deml zeigt sich dann einmal mehr im extrem langsamen ,Csardas Blues‘. Hier wird jeder Ton gefeiert und virtuos zu berührender Musik gemacht. Ebenso in der Ballade ,Rusty Leaves‘ wo nur E-Gitarre und Piano/Keyboards zu hören sind.
Und auch ,Rise Of The King‘, ,Pure‘ und ,Yorkshire Man‘, die letzten drei Album-Tracks, gehen in diese eher balladeske Richtung. Und strotzen dabei vor Energie. Es ist weniger das Was sondern das Wie, das die Emotionalität dieser Musik ausmacht. Ich muss bei manchen Gitarrentönen, die atmen, stöhnen und dann in dezente Verzerrung kippen an Billie Holiday (*1915 +1959) und ihr Album ,Lady In Satin‘ (1958) denken. Deml hat, wie vor ihm schon Jimi Hendrix oder im neueren Jazz-&-More-Bereich der Kölner Gitarrist Tobias Hoffmann verstanden, dass der E-Gitarrenton seine kreativste Blüte feiert, wenn er sich im extrem großen Spektrum des vokalen Ausdrucks bedient. Und die menschliche Stimme ist wohl das Instrument, das uns am direktesten berührt, und das wir seit den Sekunden unserer Geburt kennen.

Das Album ,Pure‘ erscheint am 07.11.2025 – vorbestellen kann man jetzt schon direkt beim Künstler bzw. seinem Label Triplecoilmusic. Und am Samstag den 29.11. ab 19 Uhr kann man das neue Werk von Marcus Deml & Band live in Hamburg in den Elbdeich 23 Studios erleben. Tickets gibt es HIER!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 11/2025
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ADAX DÖRSAM: 25
Was für ein vielseitiger und auch vielsaitiger Künstler! Wenn man Adax Dörsams künstlerische Lebensgeschichte nachliest (adax-doersam.de/bio), merkt man ganz schnell: Der Herr hat(te) keine Berührungsängste, dafür aber anscheinend immer höchste Kompatibilität im Angebot. Und Sound, Stil und Haltung. „Saitenspezialist“ ist seine Website untertitelt: Von Tony Marshall und Die Flippers über Sidney Youngblood bis De-Phazz war er an Produktionen beteiligt. Ich habe Adax Dörsam Mitte der 90er Jahre auf einem Album des Duos Schrammel & Slide für mich entdeckt – und war begeistert. Seinem damaligen Duo-Partner, dem Gitarristen Hans Reffert (*1946 + 2016) ist auch Dörsams Album ,25′ gewidmet, auf dem er mit wenigen Ausnahmen solo, bzw. sich via Multitracking selbst begleitend, zu hören ist. Und was Adax hier an, auf und mit diversen Gitarren, Bässen, Saz, Oud, Lapsteels und anderen Saiteninstrumenten zaubert, ganz gleich ob mit Fingerpicking, Slide oder Plektrumspiel, ist schon beeindruckend. Noch wichtiger und schöner: Er spielt absolut auf den Punkt, die Musik groovt, hat einen extremen Flow, und alles klingt ganz einfach und locker. Dass es nicht ganz so einfach und locker von der Hand geht, solche Musik so zu spielen, weiß jeder, der mal eine Gitarre in der Hand hatte. Neben 13 eigenen Kompositionen, die Ragtime, Folk, Blues, Pop, Jazz und ethnische Musik tangieren, sind hier auch ,When I’m Sixty Four‘ und das berührende ,Mother Nature’s Son‘ von den Beatles zu hören, in großartigen Versionen. Neben dem spielerischen Handwerk auf höchstem Niveau hat Adax Dörsam dieses Album auch noch selbst produziert und laut Liner Notes am 07.08.2025 selbst eingespielt, aufgenommen und gemischt. An diesem 7. August ist der in Mannheim-Lindenhof geborene Musiker 70 Jahre alt geworden, und wenn man den sympathisch lächelnden Adax auf dem Album-Cover richtig versteht, hält Musik jung. Kunst kommt von Machen – und Adax Dörsam ist ein Macher. Und ein ganz großer Könner. Respekt! Und herzlichen Glückwunsch nachträglich!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 10/2025
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NARRSTEIDLE: GHOST ANTS
Es wird wild, laut & intensiv, wenn sich Steffi Narr (Guitar, Electronics) und Oli Steidle (drums, sampler, midi-controller) musikalisch unterhalten. Die 1986 geborene Jazz- und Improvisationsmusikerin und ihr 1975 auf diese Welt gekommener Schlagzeuger und Duo-Partner lassen es auf ihrem gemeinsamen Debüt ordentlich krachen – raumfüllend, zerrend, elektronisch und immer im Dialog. Da blubbert, schreit und dröhnt die Gitarre, mal in Obertönen sägend, dann wieder in Sub-Oktaven versinkend oder in Ambient-Sounds durch den Klangraum schwebend. Oder kommen letztere von Drummer und Elektroniker Oli? Egal, es geht um Narrsteidle, eine musikalische Einheit mit innerer Spannung, mit Reibung und letztlich um Energie. Ihr leicht sphärischerer vierter Track ,I Need Spa‘ ist fast so etwas wie eine kurze Atempause, mit bedrückenden kleinen Details, die auch auf die B-Seite von David Bowies ,Heroes‘ gepasst hätten. Aber dieser ruhigere Ausflug ist die Ausnahme auf dem doch sehr Noise/Industrial-lastigen Album improvisierter Musik, das aber immer wieder mit ganz eigenen Stimmungen überrascht, wie dem gigantischen Traum-Soundscape ,Distant Memory‘ oder auch ,Before Dawn‘, die mich beide an die schönsten Alpträume meiner Kindheit erinnern, aus denen ich immer lächelnd aufwachte. *** Zu denen haben mir Steffi & Oli mit dem knapp elfminütigen letzten Album-Track ,Busy Waltz‘ den Soundtrack nachgeliefert: dystopisch, psycho, zeit- und raumbefreit. Solch eine Intensität muss man erst mal schaffen … What a weird trip!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 10/2025
*** Das hatte aber nur den Grund, dass meine gelegentlichen echten Alpträume absolute Horrortrips waren. Nachzulesen in meinem unter dem Pseudonym Jan Urbanek verfassten Buch POPSOG im Kapitel 03 TRAUM A // www.popsog.de.
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STEVE TIBBETTS: CLOSE
,Close‘ ist das elfte ECM-Album des 1954 geborenen Multiinstrumentalisten Steve Tibbetts, der hier als Percussionist, Pianist und natürlich an diversen Gitarre zu hören ist. Sein Hauptinstrument hat er schon immer mit Elektronik und Effekten behandelt, hat weite Räume und Soundscapes kreiert, Backwards-Sounds und Multitracking-Schichten zu eigenwilliger Musik gemacht. Wo sich dabei Komposition und Improvisation begegnen, ist nicht immer klar bei Tibbetts. Spielt aber auch keine Rolle, denn seine Klangkunst zieht in Räume voller Schwingungen und ermöglicht intensive Emotionen beim Hören. Gemeinsam mit Percussionist Marc Anderson und Schlagzeuger JT Bates hat er dieses Album aufgenommen, wobei die Drums laut Liner Notes in einem anderen Studio (also wahrscheinlich auch nachträglich) eingespielt wurden. Interessant, denn auf die Idee käme beim Hören niemand. „Musik ist eine Sprache der Dämmerung“, kommentiert Steve Tibbetts das zur Musik passende Cover-Foto. „Die Aufgabe besteht darin, Schatten in Klang zu übersetzen.“ Im musikalischen Schatten, den Tibbetts wirft, ist es jedenfalls nicht nass und kalt, da ist sogar oft eine Wärme, die mich beim Hören regelrecht durchflutet. Sedierend, meditativ, intensiv. Steve Tibbets kann aus Saitenschwingungen, ganz egal ob sie von seiner E-Gitarre, der Akustischen oder ein 12-String kommen, sehr angenehme, meist entspannende Gefühle zaubern.
Lothar Trampert / Paleblueice.com 10/2025
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WOLFGANG MUTHSPIEL, SCOTT COLLEY, BRIAN BLADE: TOKYO
Immer wieder interessant zu hören ist, wie Wolfgang Muthspiel sein Instrument im besten Sinne beherrscht: Sein Ton, seine Klangsprache, seine flüssigen Linien und seine Phrasierung haben immer die gleiche Intensität, ganz egal ob er die stahlbesaitete E-Gitarre oder ein akustisches Nylonstring-Instrument, also die klassische Konzertgitarre in Händen hält. Während bei anderen Gitarristen immer ein „Ah, jetzt spielt er mal akustisch!“ im Raum steht, ist das bei diesem Musiker eigentlich kein Thema. Und überhaupt: War nicht die klangliche Wärme der Konzertgitarre auch ein Vorbild für den großen, runden Ton der Archtop-Gitarristen?
Im Trio mit Kontrabassist Scott Colley und Brian Blade am Schlagzeug hat Wolfgang Muthspiel schon zwei Alben eingespielt. Was keine Routine bedeutet, sondern eher eine traumwandlerische Sicherheit auf einem Hochseil, das zudem eine virtuose und unkonventionelle Choreografie aushalten muss. In ,Flight‘ ist Muthspiel auch mal mit einer zweiten Gitarrenspur zu hören, die seinem Singlenote-Solo Harmonien unterlegt. Oder, wie in ,Christa’s Dream‘, wo sich über ein spannendes wie sensibles akkordisches Thema, vorgelegt von der E-Gitarre mit Tremolo-Effekt, noch ein paar klanglich verfremdete Linien mit Synthesizer-Sound legen. Ein kurzer, intensiver Traum. Ebenso beeindruckend, das unberechenbare und immer wieder verblüffende ,Weill You Wait‘ – großartig!
Neben Eigenkompositionen des Gitarristen sind hier mit dem Opener ,Lisbon Stomp‘ von Keith Jarrett und Paul Motians ,Abacus‘ als letztem Album-Track noch zwei Fremdwerke zu hören, von denen das Finale am beeindruckendsten gelungen ist. Denn hier zeigt Muthspiel noch mal seine großen Stärken: Seine breite gitarristische Palette an Sounds und spielerischer Variabilität – und seine in jedem Moment mitschwingende Offenheit für Interaktion. Was der immer wieder mit warmen Linien sehr melodisch tragende Scott Colley, der Meister der sensiblen Intensität Brian Blade und Klangmaler Wolfgang Muthspiel hier kreieren, ist mehr als beeindruckend. Zum Titel des Albums: ,Tokyo‘ wurde im Oktober 2024 in der japanischen Hauptstadt aufgenommen – was sich ansonsten nicht klanglich bemerkbar macht. Musik für spannende, ruhige Stunden.
Lothar Trampert / Paleblueice.com 10/2025
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RAGAWERK: NILA
Wer Gitarrist Max Clouth und Drummer/Elektroniker Martin Standke, die Masterminds von Ragawerk, mal live erlebt hat, kennt auch die absolut großartige E-Bassistin Vroni Frisch, deren tiefe, lebendige und irgendwie immer gut gelaunte Basslines dieses Projekt ganz wesentlich prägen. Interessant ist, wie der Band-Name immer wieder Assoziationen weckt, die ganz sicher berechtigt sind. Wobei dann aber ein Track wie ,Shyam‘ viel mehr mit Gitarrist & Bandleader Volker Kriegels Alben der 70er und 80er Jahre zu tun hat, als mit dem mittleren Osten. Anders ausgedrückt: Martin Standke und Max Clouth haben die kreative Offenheit ihrer Vorgänger und vielleicht auch Vorbilder reanimiert und spielen mit der Welt. Resultat ist da nicht so eindeutig der immer wieder genannte Krautrock, und auch indische Ragas sind nicht viel präsenter als elektronische Loops und die feinen schwebenden Keyboard-Sounds von Robert Schippers. Dieses zweite Album der Formation zeigt, dass es Jazz ist, dass Improvisation, Interaktion, freies Kreieren hier wichtiger sind, als Konzepte. Und das macht Ragawerk jetzt noch authentischer als auf dem Debüt von 2022. Da steht immer Crossover, also die Begegnung im Vordergrund. Definitiv kein Worldmusic- oder Fusion-Eintopf.
Natürlich ziehen sich auch weiter Elemente, Instrumente und Sounds der indischen Kultur durch dieses Album, angefangen bei Max Clouths spannenden Spezialgitarrenklängen, aber auch von den Gästen BC Manjunath (Mridangam), Peter Hinz (Tabla) und Shruti Ramani, Valeria Maurer und Sophie-Justine Herr (Vocals), aber Ragawerk machen hier die Musik und interpretieren in der Album-Mitte auch mal ganz locker ,Computerwelt‘ von Kraftwerk. Und wie! Und dann ,Relagadi‘: funky Jazz-Rock von einer Band die lebt, groovt, abgeht. Auf ,Nila‘ erlebt man großartige, virtuose Musikerinnen und Musiker, die mit sympathischer Horizonterweiterung wunderbare Trips durch spannende Klanglandschaften ermöglichen.
Lothar Trampert / Paleblueice.com 10/2025
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RATKO ZJACA: TOUCHING MINDS
Mit seinem absolut gelungenen, solo eingespielten Gitarren-Album ,Archtop Avenue‘ (2023) und seiner Hommage an das Great American Songbook, hat mich der kroatische Musiker Ratko Zjaca extrem begeistert. Jetzt ist der in Rotterdam lebende Gitarrist mit Künstlern aus Rumänien, England und Indien zu hören: Marius Preda (cimbalom, piano), Nick McGuire (bass) und der legendäre Percussionist Trilok Gurtu, bekannt durch seine Zusammenarbeit mit John McLaughlin, Joe Zawinul, Bill Laswell, Jonas Hellborg, Jack Bruce, Terje Rypdal u.a., kreieren eine ganz eigene Klangwelt um Ratko Zjacas jazzig-warmen Gitarrenton. Acht Tracks mit eingängigen Themen, von denen die ruhigeren, wie ,The Story Of Us‘ die berührendsten sind. Wobei dieses Stück weite improvisatorische Passagen zu haben scheint – und darin liegt eindeutig die Stärke dieser Formation, denn da baut sie mehr Spannung auf, als bei konventionellen Thema/Chorus/Thema-Abläufen. Und auch der finale Album-Track ,Horizons (For Carlo)‘ geht diesen berührenderen Weg. Mehr davon!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 10/2025
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AXEL KÜHN TRIO: VISION AND MOVEMENT LIVE AT BIX
Drei Jahre nach seinem sehr schönen Album ,Lonely Poet‘ ist Kontrabassist Axel Kühn mit einer Live-Aufnahme zurück. Wieder mit dabei sind Pianist Ull Möck und Schlagzeuger Eckhard Stromer. Diese Konzertaufnahmen entstanden am 26. März im Stuttgarter Jazz-Club Bix. Der Mix hat den Raum stark mit einbezogen, und so klingt das Piano manchmal etwas distanziert, während einige Drum-Spots sehr weit vorne stattfinden. Der Bass ist dabei relativ konstant positioniert und kommt immer tragend und warm präsent rüber. Anfangs ist das etwas ungewohnt, aber andererseits passt das zu diesem absolut gleichberechtigten Trio – und die klangliche Komposition im Mix ist schließlich Teil des Kunstwerks. Moderner, harmonischer, europäischer Jazz ist hier zu erleben, Musik, die wie im dritten Track ,Good Friday‘ großartig pulsieren und swingen kann oder auch mal fast balladesk aber mit eigener Energie berührt, wie in ,Awakening‘. Sehr gelungen ist auch ,Song For The Lost Souls‘, mit einem feinen Bass-Solo des Bandleaders. Das Album gibt’s bei Bandcamp – direkt beim Erzeuger!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 10/2025
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TRET TRIO: CROW JAM
Das Wurlitzer-E-Piano ist ein ganz besonderes elektromechanisches Tasteninstrument, dessen Sound sich spätestens seit den 1970er-Jahren eingeprägt hat. Pop-Fans kennen seinen Klang von den Carpenters und „Top of the World“, von Supertramps Nervensäge „Dreamer“, von Pink Floyds Hit „Money“ und natürlich von Steely Dans Klassiker „Do It Again“. Dass Sun Ra bereits 1956 in den Tracks „India“, und „Dreams Come True“ ein Wurlitzer-E-Piano eingesetzt haben soll, war mir allerdings neu; ebenso dass Joe Zawinul 1966 in Cannonball Adderley „Mercy, Mercy, Mercy“ damit zu hören war.
Jedenfalls Gründe genug, diesem Instrument mal wieder Gehör zu verschaffen. Aktuell tut das Pianist Tobias Weindorf (* 1980) im Tret Trio, gemeinsam mit dem englischen Saxophonisten Rob Hall (* 1969) und dem Düsseldorfer Philipp van Endert (* 1969) an der E-Gitarre. Alle erfahrene Künstler, die seit Jahrzehnten in unterschiedlichsten Besetzungen überzeugen konnten. Und jetzt versuchen sie es gemeinsam: Das 2023 gegründete Ensemble hatte zuerst nur Live-Konzerte in Deutschland und England geplant, wollte dann aber doch ein paar Demo-Aufnahmen produzieren, um weitere Promotion-Aktivitäten zu unterstützen. Die Arbeit im Studio übertraf die eigenen Erwartungen, man lud auch noch ein paar Zuhörerinnen und Zuhörer in den Aufnahmeraum ein und dokumentierte weitere Tracks vor Publikum. Und jetzt ist mit Crow Jam das Album-Debüt des Tret Trio da, erschienen als gemeinsame Veröffentlichung der musikereigenen Firma JazzSick Records und des britischen Labels FMR.
Erster Höreindruck: Was für einen Flow, was für eine Klangdichte und welch subtile Energie liefern diese drei Musiker ab! Das gilt für alle sieben Tracks ihres Albums, darunter zwei der vor Publikum eingespielten Mitschnitte, bei denen das eigenwillige Klangspektrum des Wurlitzer-E-Pianos besonders strahlend rüberkommt. Und wenn Philipp van Endert dezent Akkorde und ein paar Bassline-Fragmente unter Tobias Weindorfs Solo legt, in das sich Saxophonist Rob Hall dann gefühlvoll einschleicht, um zum Thema zurück zu führen – so zu hören in „Random Waltz“ – hat man vergessen, was eine klassische Rhythmusgruppe ist. Oder man hört bzw. fühlt Bass und Schlagzeug, trotz Abwesenheit.
Saxophonist Rob Hall soliert hier und da auch mal etwas kraftvoller, lässt aber nie eine gewisse Eleganz im Ton vermissen. Er scheint irgendwo zwischen dem lyrischen Nordeuropäer Jan Garbarek und dem bodenständigeren Weltbürger Lee Konitz zu Hause zu sein, ganz egal mit welchem Instrument er zu hören ist; der Multiinstrumentalist spielt neben Sopranino-, Sopran-, Alt-, Tenor- und Bariton-Saxophon auch noch diverse Klarinetten, Synthesizer und Piano. Im Tret Trio dominieren allerdings Sopran- und Alt-Saxophon.
Und dann ist da noch Philipp van Endert, ein Gitarrist, der neben beeindruckenden, meist leicht angerauten Soli, ein Comping-Könner ist, also des kreativen Begleitens mit Akkorden und harmonischen Fragmenten. Und in einer Trio-Besetzung wie dieser, ohne Kontrabass und Schlagzeug, ist in der Hinsicht eine Menge „Tragfähigkeit“ gefragt um die Solisten zu unterstützen.
Interessant in dieser Hinsicht ist auch der auf einem teils unisono vorgetragenen Riff basierende Track „Landing Grounds“, in dem die drei Musiker eine sehr knackige, funky und fast jazzrockige Themenvorstellung bieten, um dann minimalistisch in die Improvisationen zu starten. Pianist Tobias Weindorf macht den Anfang, unterstützt von der extrem groovenden Rhythmusgitarre van Enderts, der mit seiner Kombination aus Basstönen und Akkorden fast schon die Illusion mehrerer Instrumente erweckt. Dabei hilft ihm gelegentlich der Einsatz eines Octaver-Effekts, der einzelne E-Gitarrentöne quasi tieferlegt. Dann kommt das Saxophon dazu, spielt das Thema noch mal an, und lässt den Gitarristen alleine zurück, mit einem rauen, unbegleiteten Solo-Part, mit verzerrtem Ton und teils brachialem Spiel. Über das bereits erwähnte Riff finden die drei Musiker dann endlich wieder zusammen. „Landing Grounds“ – was für ein Trip! Vielleicht sind das die spannendsten knapp sieben Minuten dieses Albums. Intensiv.
Alle drei Musiker sind mit Kompositionen vertreten, die erstaunlicherweise wie aus einem Guss rüberkommen. Oder liegt das an der Interpretation, die eine Menge Interaktion, Improvisation und Zuhör-Bereitschaft erkennen lässt? Dieses Trio strahlt geradezu eine Sympathie füreinander aus und eine offensichtlich die gemeinsame Kreativität beflügelnde gute Laune. „Es gab auch Helge-Schneider-Momente im Studio“, erzählt Philipp van Endert im Interview.
Und wenn nach dem Ende des letzten Album-Tracks „About Turn“ die CD einfach noch minutenlang weiterläuft, dann ein kurzes Lachen zu hören ist und ein weiteres Stück folgt – es ist noch mal „Heligan’s Hooligan“, jetzt in einer Version ohne Publikum – dann spürt man, dass diese drei Musiker ihr Ding durchziehen, vermutlich immer mit einem Grinsen im Gesicht. Sympathische, schräge Vögel – Crow Jam passt!
Lothar Trampert in Jazzthetik 11-12 / 2025
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LEON HATTORI: HORIZONS
Für mich ist er eine Neuentdeckung: Leon Hattori, geboren 1998 in Sapporo, wuchs in Japan, Deutschland und Neuseeland auf und begann bereits als Kind mit dem Klavierspiel. Nachdem er als Teenager mehrere Preise gewonnen hatte – als Pianist und Komponist – zog es ihn mit 20 Jahren nach Deutschland, wo er zwischen 2018 und 2022 Jazz-Piano an der Hochschule für Musik und Tanz Köln studierte, u.a. bei Florian Ross, Hubert Nuss und Jürgen Friedrich. In dieser Zeit war er auch Mitglied des Bundesjazzorchester.
Nach seinem Master-Abschluss gründete Hattori mit dem Trompeter Chris Mehler, dem Saxophonisten Adrian Gallet, Bassist Calvin Lennig und Drummer Simon Bräumer sein eigenes Quintett, von dem 2024 das Debüt-Album Evergreen Forest erschienen ist. Weiter hat er sich als Sideman von Lage Lund, Joey Baron, Ben van Gelder, Anat Cohen und Sofia Will einen Namen gemacht. Für Pianisten ein Prestige-Gewinn: Im Jahr 2022 erhielt Leon Hattori den „Steinway Förderpreis Jazz“.
2025 ist er mit einem neuen Album und zwei neuen Musikern am Start: Und auf ,Horizons‘ ist Hattori zudem auch am Synthesizer zu hören. Sein kompositorischer Ansatz wurde unter anderem von der Beschäftigung mit der bildenden Kunst geprägt, von Protagonisten, die wie er selbst zwischen westlichen und asiatischen Kulturen sozialisiert wurden. Der letzte Album-Track „Kōen“ ist z.B. eine Hommage an den japanisch-amerikanischen Bildhauer Isamu Noguchi, der u.a. auch einen Parks in Hattoris Heimatstadt Sapporo entworfen hat, den Leon als Kind gerne aufsuchte. Und die Komposition „Beat Generation“ ist nicht nur der gleichnamigen literarische Bewegung der 1950er Jahre in den USA gewidmet, sondern auch den expressiven Gemälden der chinesisch-amerikanischen Malerin Bernice Bing.
Das neue Album Horizons startet mit „Fountain Lady“: Ein fragiles, eigenwilliges Piano-Thema schwebt über den rauschenden Becken von Schlagzeuger Simon Bräumer (* 1997), der Bass von Nico Klöffer (* 1998) bleibt tief im Untergrund, und was da sonst noch an eingefadeten Violining-Sounds durch den Klangraum wabert, kommt von Gitarrist und Effekt-Fan Eliott Knuets, der im zweiten Track, seiner Komposition „Cranes“, die Melodieführung übernimmt, wieder über wildesten Drum- und Becken-Attacken, aus denen der belgische Gitarrist dann mit einem absolut virtuosen, fast boppigen Solo, irgendwo zwischen John Scofield und Allan Holdsworth, ausbricht.
Trotz seiner Jugend ist Eliott Knuets (* 2004) ist schon ein paar Jahre im Geschäft, hat mit 12 Jahren den Jazz entdeckt, mit 17 sein erstes Album eingespielt und heute, mit 21 hat er einen wirklich reifen spielerischen Ansatz, Geschmack und überzeugt mit cooler Phrasierung. Gelernt hat er bei Peter Hertmans, Wolfgang Muthspiel und Lionel Loueke. Dass er immer wieder an die legendären Enja-Aufnahmen von John Scofield in den 1970ern erinnert, mag Zufall sein. Wer John Scofield Live (aufgenommen 1977, mit Richie Beirach am Klavier), das nachfolgende Studioalbum Rough House (1979) oder seine Sideman-Aufnahme mit Pianist Hal Galper (Ivory Forest, 1979) kennt, als Scofield noch mit einem modernen Bebop-Ansatz begeisterte, weiß, dass Eliott Knuets damit nicht schlecht liegt. Und dass er den reinen Sco-Epigonen der späteren Dekaden voraus hat, über diesen Einfluss eine eigene spielerische Originalität zu entwickeln. Back to the roots – richtig! Von diesem jungen Musiker werden wir noch hören.
Horizons ist aber auch eines dieser Alben, die man letztlich kaum zeitlich einordnen kann. Mit Musik, die vor einem halben Jahrhundert genauso gelungen gewesen wäre, wie sie es heute ist. Zeitlos, zeitgeistig oder retro – egal. Keine Frage: der explosive Energie-Drummer Simon Bräumer hätte Mitte der 1970er Jahre für sehr viel Aufsehen gesorgt – aber das tut er heute noch. Er spielt seit seinem sechsten Lebensjahr Schlagzeug und landete ebenfalls mit 12 Jahren beim Jazz. Studiert hat er dann in Köln bei Michael Küttner und Jonas Burgwinkel und in London an der Guildhall School of Music and Drama. Ich habe ihn zum ersten Mal in der Band von Gitarrist Daniel Tamayo gehört, einem weiteren hochinteressanten jungen Musiker.
Pianist und Bandleader Leon Hattori hat mit dem ihn spielerisch maximal kontrastierenden Schlagzeuger und dem boppenden Gitarristen eine gute Wahl getroffen. Auch mit seinem dezenten und solide tragenden Tieftöner Nico Klöffer, der ebenfalls mit einigen interessanten Solo-Spots auffällt, etwa in „C-Star“, einer weiteren Komposition des Gitarristen Eliott Knuets oder auch dem nachfolgenden „Beat Generation“ von Hattori. Dessen großartige Komposition „Under our Feet“ ist ein weiteres, sensibles Highlight dieses Albums, wie auch das treibendere „Corduroy“ – und vielleicht hat sich in diesen drei letztgenannten Tracks die Band am stärksten „gefunden“, ist stilistisch und atmosphärisch absolut auf einer Linie. Jazz lebt!
Lothar Trampert in Jazzthetik 11-12 / 2025
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MAREILLE MERCK: KALEIDOSKOP
Ein paar sphärische Arpeggios, dann fast folkloristische Leichtigkeit, die einige Takte später in einen an Ragtime-Piano erinnernden Groove übergeht, um dann zurückzufinden zur Atmosphäre des Anfangs – was die Jazz-Gitarristin Mareille Merck hier im ersten Track ihres Solo-Albums an Farben und Stimmungen unterbringt, ist schon verblüffend: „Kaleidoskop“ heißt die Komposition, so wie das Album.
„Als Kind hatte ich ein Kaleidoskop“, schreibt die Musikerin. „Es sah aus wie ein kleines Fernrohr. Man konnte durch das Guckloch schauen und mit jeder Drehung sah man ein neues Bild voller Farben und geometrischer Muster. So empfinde ich das Improvisieren und Komponieren auf der Gitarre. Es gibt klare Linien und Formen, doch schon durch kleine Veränderungen, eine kleine Drehung sozusagen, öffnen sich zahlreiche neue Klänge, harmonische Wege, wandelbare Melodieverläufe. Mit dem Entdecken neuer musikalischer Möglichkeiten ist man nie zu Ende, es ist eine weite Welt, in der ich mich gerade im Solo-Kontext völlig frei bewegen kann.“
Und wenn der Opener im Kleinen dem Titel gerecht wird, tut es das ganze Werk ebenfalls. Mareilles E-Gitarrenton ist warm, etwas verhangen, kommt immer mit dezentem Raumklang, und ihr Spiel hat oft etwas Geheimnisvolles, kann aber auch mit prägnanten Linien oder krachenden Chords für viel Dynamik sorgen. Nach ein paar Tracks hat man ihre sehr eigene musikalische, gitarristische Sprache erkannt, ihre feine Sensibilität was Dynamik und Tonbildung angeht, ihren Groove.
Mareille Merck wurde 1996 in Stralsund geboren und lebt und arbeitet in Zürich. Mit 15 Jahren gewann die Gitarristin den Wettbewerb „Jugend Musiziert“ in der Kategorie „Gitarre (Pop)“, von 2012 bis 2014 erhielt sie Unterricht bei Jazz-Gitarrist Kalle Kalima, studierte später u.a. bei Lionel Loueke, Wolfgang Muthspiel, Frank Möbus und Roberto Bossard. Mit ihrem Trio Larus hat sie zwei Alben mit eigenen Kompositionen veröffentlicht.
Auf Kaleidoskop ist Mareille neben acht eigenen Stücken auch mit Interpretationen des Richard-Rodgers-Klassikers „My Favorite Things“ und Steve Swallows „Falling Grace“ zu hören.
Eine weitere Ausnahme ist ihre der Jazz-Gitarren-Ikone Mr. Frisell gewidmete Komposition „Bill“, in der sie einen Looper einsetzt und so verschiedene musikalische Schichten aufbaut, also quasi mit sich selbst spielt. Ansonsten hört man hier Gitarre pur – von einer sympathisch unbefangen und virtuos spielenden Musikerin, die mit ihrem Repertoire an Anschlagtechniken, kreativen Chord- und Arpeggio-Variationen und Flageolett-Einsätzen eine eigene Musik kreiert. Und ihre bereits erwähnte Version von „My Favorite Things“ ist wirklich Weltklasse! Mit den beiden sich an diesen Standard anschließenden Eigenkompositionen zeigt Mareille Merck dann noch mal ihr Talent, aus kleinen kompositorischen Grundideen, spannende Geschichten zu zaubern, die wie in „Kaleidoskop II“ auch schon mal Ecken, Kanten und feine Intonationseigenarten aufweisen, wobei manche Licks wie von einem leicht verstimmten alten Klavier klingen. Mareille hat ihr Instrument kreativ unter Kontrolle, keine Frage. Sie malt mit Klängen und Stimmungen bunte Bilder.
Lothar Trampert: *****-Review in Jazzthetik 09-10 / 2025
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DANIEL STELTER: WOODEN SONGS
Wenn ein als E-Gitarrist bekannter Musiker zum rein akustischen Instrument greift, hört man immer ganz genau hin: Nylonstrings oder Stahlsaiten? Klassisches Fingerpicking oder Plektrum-Einsatz? Eine Aufnahme mit kammermusikalischer Wärme oder mit dem berüchtigten Kathedralenhall?
Der 1977 in Wiesbaden geborene Daniel Stelter ist als Jazz-and-more-Gitarrist, Komponist, Solist und gefragter Begleiter bekannt – u.a. war er bis 2018 in der TV-Sendung „Sing meinen Song“ als Band-Musiker zu erleben. Stelter hat mit so unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstlern wie Wolfgang Haffner, Chris de Burgh, Till Brönner, Lars Danielsson, Helen Schneider, Georg Ringsgwandl, Al Jarreau, Sarah Connor, Thomas Quasthoff, Moses Pelham sowie diversen Big Bands und Orchestern live und/oder im Studio gearbeitet. Seit 2019 organisiert er außerdem ein Gitarrenfestival in seiner Heimatstadt Ingelheim, das im November zum siebten Mal stattfindet und das Instrument Gitarre solistisch, in Duos und größeren Besetzungen präsentiert.
Zuletzt war Daniel Stelter gemeinsam mit dem Klarinettisten David Orlowsky und Schlagzeuger Tommy Baldu auf Tour, er spielt mit der Band Heavytones in Stefan Raabs TV-Show DGHNDM, und seit vier Jahren ist er auch noch als Coach in der Kika-TV-Sendung „Dein Song“ zu sehen, die das Ziel hat, Kinder für Musik zu begeistern.
Seit 2008 besteht das Daniel Stelter Quartet mit Ulf Kleiner (p), Tommy Baldu (dr) und Michael Paucker (b) – eine wirklich spannende Besetzung mit erfahrenen Musikern, die alle schon in diversen Projekten und Sideman-Jobs ausgiebig über den Jazz-Tellerrand geblickt haben. Jetzt ist der Gitarrist im Trio zu erleben: Pianist Ulf wurde dafür beurlaubt, Tommy Baldu (1966) ist primär mit Percussion-Instrumenten und Michael Paucker (1980) mit einem akustischen Bass zu hören. Und um die oben genannten, drängenden Fragen zu beantworten: Daniel Stelter spielt auf dem gemeinsamen Album Wooden Songs durchgehend eine klassische Konzertgitarre mit Nylonsaiten, überwiegend in Fingerpicking-Technik, und aufgenommen wurde sein Instrument wie auch das ganze Trio sehr trocken, ohne irritierende bis nervende künstliche Räume: Diese CD ist also im besten Sinne Wohnzimmer- und Garten-Party-kompatibel.
Gab es eine Inspiration zu diesem Projekt? Vielleicht John Scofields Akustikgitarren-Album Quiet von 1996? „Scofield war es weniger“, meint Daniel Stelter im Interview. „Im Kopf hatte ich Aufnahmen von Joe Pass von 1992, wo er Konzertgitarre spielte. Und auch Alben von Dominic Miller, Ulf Wakenius und Wolfgang Muthspiel, dessen Sound ich wirklich liebe.“
Dass ein open minded artist, ein Künstler der Grenzen überschreitet und Stile verbindet, jetzt auch mal mit einem leichten akustischen Album zwischen Jazz, mediterranem Flair und eingängigen Themen mit Pop-Potenzial daherkommt, überrascht nicht. Gemeinsam mit Percussionist Tommy Baldu hat Daniel die 15 Tracks komponiert; zu zwei Nummern haben die Gastsängerinnen Fola Dada und Menna Mulugeta eigene Lyrics beigesteuert. Eingespielt wurden die Wooden Songs in zwei Tagen im Studio von Tommy Baldu – komplett live, wobei sich die drei Musiker in einem Raum gegenüber saßen, nur leicht akustisch getrennt durch transparente Stellwände, um Übersprechungen zu minimieren. Nachträglich wurden bei wenigen Tracks minimale Overdubs hinzugefügt, mal eine dezente Oktavierung eines Gitarrenthemas, mal eine kleine harmonische Unterstützung in einem Solo.
„Fünfzehn Tracks, allesamt One-Takes, inspiriert von Klang, Geruch, Gefühl und den schier unendlichen Nuancen der Farben, widmet Stelter sein siebtes Album dem organischen Werkstoff Holz. Eine stimmungsvolle Reflexion, die uns durch Wälder und Weinberge über die Alpen bis zum Bosporus führt“, lese ich im Infotext zur CD. Wie so oft ist auch hier die Programmatik der Kompositionsphase weder klanglich offensichtlich noch wirkt sie aufgesetzt. Also keine eingestreuten Cover-Versionen von „Knock On Wood“ oder „Lustigen Holzhackerbuam“, sondern eigene, sehr unterschiedliche Instrumentalwerke, von originellen, knapp einminütigen Miniaturen bis zur viereinhalbminütigen Ballade „Palatina Dawn“, mit der wunderbaren Fola Dada am Mikrofon, deren Interpretation Hitzewallungen und Gänsehaut zugleich erzeugt. Was für eine Stimme! In diesem Track zeigen Daniel Stelters Fills und Chords seine Erfahrungen als Begleiter. „Palatina Dawn“ ist aber auch in einer rein instrumentalen Version auf dem Album zu hören, die sehr berührend ausgefallen ist und Stelters solistische Sensibilität in den Vordergrund stellt. Anders als erwartet verläuft der „Woodländler“, der nach einem folkloristischen Intro in eine eher düstere, bedrückende Stimmung mit bedrohlichen Trommel-Sounds abdriftet. Ein dystopischer Soundtrack zu den immer häufiger zu sehenden kahlen Landschaften mit toten Resten der vom Borkenkäfer vernichteten Nadelhölzern?
Es sind diese kleinen Kontraste, die sich beim Hören nach und nach erschließen, die den Reiz dieses Albums ausmachen. Nach einem etwas Ragtime-inspirierten Intro entgleitet „Water Lily“ dann zwischendurch mal kurz in ganz andere harmonische Sphären, um zum lyrischen „Morgennebel“ überzuleiten – mit einer sehr schönen unbegleiteten Gitarren-Sequenz.
Ein durchgehender Pluspunkt dieses Albums ist das sparsame aber trotzdem sicher tragende Spiel der Rhythm-Section. Tommy Baldu und Michael Paucker tragen und grooven intensive und leise – das muss man können. Gelungen!
Lothar Trampert in Jazzthetik 09-10 / 2025
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DAVID HELBOCK / JULIA HOFER: FACES OF NIGHT
Das klingt eigenwillig: David Helbock spielt am präparierten, ganz nah mikrofonierten Piano, das nur stark gedämpfte Töne zulässt. Und Julia Hofer hört man am Cello von ganz weit hinten. Auch beim zweiten Track ist die Abmischung ungewöhnlich aber durchaus reizvoll: Julia ist jetzt ganz vorne, virtuos am E-Bass zu hören, David haut kraftvoll in die Tasten und der musikalische Gast Mahan Mirarab an der Gitarre soliert virtuos. Energie! Die Prince-Nummer „Purple Rain“ wird von Helbock & Hofer im Duo interpretiert – extrem originell! Im Eddie-Harris-Klassiker „Freedom Jazz Dance“ ist dann die wunderbare Veronika Harcsa zu Gast, und macht die schräge Nummer zu einem energetischen Scat-Trip. Zu Monks „Round Midnight“ hat die Sängerin einen ungarischen Text verfasst, den sie ebenfalls beeindruckend interpretiert.
Sehr gelungen ist auch „Song Of A Dream“ mit Lorenz Raab am Flügelhorn – eins der stärksten Stücke dieses Albums. In „Clara’s Romance“ ist Julia Hofer (*1994) am Cello und am Fretless Bass zu hören. Die Österreicherin ist eine wirklich kreative Künstlerin, hat mit ihren hervorragenden YouTube-Tutorials viele Fans gewonnen und ist auch als Dozentin aktiv. Gemeinsam mit Gitarrist Hanno Busch und Schlagzeuger Tobias Held hat sie 2024 das fantastische Album To Tortuga veröffentlicht. Handgemachte Musik zwischen Jazz, Pop und etwas Folk, mit Groove, Interaktion, Dynamik und Feeling.
Ein kreativer Grenzgänger ist Pianist und Komponist David Helbock (*1984), der sich übrigens schon 2012 auf dem Album Purple ausgiebig der Musik von Prince widmete. Diesmal hat er sich noch von dem mysteriösen Georges I. Gurdjieff inspirieren lassen – und von Robert Schumann: Bei „Theme from Schumann’s Piano Concerto“ ist noch mal Lorenz Raab zu hören, der sehr gut mit Helbock & Hofer harmoniert. Eine Bereicherung. Und ein sehr gelungenes Album.
Lothar Trampert in Jazzthetik 09-10 / 2025
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PETER HEDRICH: SIMPLICITY
Das swingt! Posaunist Peter Hedrichs Quintett, mit dem er sein zweites Album Simplicity eingespielt hat, ist kompetent besetzt. Fabian Schöne am Altsaxofon überzeugt mit einem unglaubliche Flow, Pianist Felix Hauptmann kann geradezu inspirierend spartanisch begleiten, der mit allen Wassern zwischen Free, Noise und Modern Jazz gewaschene Reza Askari strickt hier unauffällig anspruchsvolle Kontrabass-Linien, und Schlagzeuger Kevin Naßhan (der in der zurückliegenden Jazzthetik-Ausgabe mit seiner Big Band Silent Explosion Orchestra vorgestellt wurde) überzeugt mit virtuosem, auffallend leise tragendem Spiel.
Vier der acht Album-Tracks präsentieren noch internationale musikalische Gäste: Trompeter Ernie Hammes, Sängerin Veronika Morscher, Posaunist Luke Brimhall und im finalen „Better Go Blues“ den Pianisten Thilo Wagner.
Posaunist Peter Hedrich wurde 1993 in Saarlouis geboren, hat erst Jura und dann Jazz studiert und wurde u.a. von Jiggs Whigham, Andy Hunter, Ludwig Nuss, Ansgar Striepens und Hansjörg Fink unterrichtet. Seit dem Wintersemesters 2023/24 ist Hedrich außerdem Lehrbeauftragter für Jazz-Posaune und Ensemble an der Hochschule für Musik Saar.
Sein traditioneller Modern-Jazz-Ansatz funktioniert insofern gut, als er die Zetlosigkeit dieser Musik rüberbringt. Was in der zugegebenermaßen schönen aber komplett anachronistischen Pop-Jazz-Ballade „Hope and Tears“, in der Gastsängerin Veronika Morscher durch ein sehr „saftiges“ Streicher-Arrangement schwebt, weniger gelingt. Aber: Auch dieses Stück ist verdammt gut arrangiert, überrascht mit einem ausgiebigen Kontrabass-Solo und einem weiteren sehr schönen Beitrag des Bandleaders. Das muss man erst mal können. Doch es sind ohne Frage die straight ahead swingenden Tracks, in denen das Quintett am überzeugendsten rüberkommt, ebenso im balladesken „Mourn“, mit einem emotionalen Posaunen-Solo und noch einmal sehr originellen Beiträgen von Pianist Felix Hauptmann. Ein absolutes Highlight dieses Albums.
Lothar Trampert in Jazzthetik 09-10 / 2025
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OLA ONABULÉ / NICOLAS MEIER: PROOF OF LIFE
Wenn der britische Singer/Songwriter Ola Onabulé in höchsten Lagen jubiliert, wird es schon manchmal pathetisch. Sein quirliger Pop-Jazz-Ansatz erinnert oft sehr an Al Jarreau, allerdings nach ein paar kräftigen Tassen Kaffee. Mit dem Schweizer Gitarristen Nicolas Meier hat Onabulé zudem einen virtuosen Partner an der Saite, der da absolut mithalten kann. Zwei erfahrene Musiker, die in vielen verschiedenen Besetzungen aktiv waren und deren künstlerischer Horizont wirklich weit ist und afrikanische Musik, Jazz, Mediterranes und diverse Crossover-Projekte umfasst. Nicolas Meier hat zudem 2013 in der Jeff Beck Group gespielt und tourte zweimal mit dem legendären britischen Lead-Gitarristen, ebenfalls ein großartiger Grenzgänger, durch die halbe Welt.
Ich vermeide trotzdem auch hier wieder das beliebige Label „Weltmusik“. Denn Meier mixt hier keine Zeitgeist-Cocktails, er hat sich wirklich mit der Kunst verschiedener Kulturen befasst und beherrscht u.a. auch diverse Saiteninstrumente der (fern)östlichen Musik. Mit dem 1964 in London als Sohn nigerianischer Studenten geborenen Ola Onabulé, der gesanglich auch schon mal an Jack Bruce erinnern kann („Centauri“), traf er einen erfahrenen Studiomusiker der aber auch schon als Jazz-Crooner mit Big Bands aktiv war. Das Album Proof of Life reflektiert das alles für meinen Geschmack nicht angemessen, denn irgendwie gehen diese beiden großartigen Solisten immer etwas in den opulenten, oft fast orchestralen Arrangements unter. Die haben aber ohne Frage Kraft.
Lothar Trampert in Jazzthetik 09-10 / 2025
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IPACH / MAIBAUM: FINDING PLACES
Frank Ipach kenne ich eigentlich nur von ein paar lesenswerten Social-Media-Posts. Als er mir Soundfiles seines neuen Albums zuschickte war ich nach dem ersten Hören wirklich begeistert – und wollte natürlich auch die fertige CD, inklusive schön gemachtem Digipak. Ist angekommen!
Das Album „Finding Places“ ist eine Ko-Produktion von Frank Ipach (Vocals, Backing Vocals, Acoustic Guitar, Resonator Guitar) und Rolf Maibaum (Electric & Acoustic Guitars, Baritone Guitar, Danelectro Sitar Guitar, Bass, Backing Vocals, Programming), und schon die ersten Töne zeigen, dass die beiden Herren die Welt zwischen lockerem Country und handgemachtem Pop lieben, den US-Westcoast-Sound und die Musik von Tom Petty erklärtermaßen auch. Was die wirklich intelligent und stimmungsvoll gestrickten Songs und auch die Arrangements sowie den absolut gelungenen Sound dieser Produktion angeht, erinnern mich Ipach / Maibaum in manchen Momenten auch mal dezent an Steely Dan: Dem Perfektionismus mit Herz von Donald Fagen & Walter Becker setzen die beiden Herren aus dem Ruhrpott mit ihrer Version des weiten Themas Americana jedenfalls etwas Ebenbürtiges entgegen.
Dabei mitgeholfen im Studio haben Gert Neumann (Electric Guitar, Banjo, Resonator Guitar), Markus Doms (Electric Guitar), Helt Oncale (Fiddle, Banjo), Olaf Behrends (Mandolin), Lutz Weigang (Piano, Organ), Nico Kozuschek (Piano, Hammond Organ), Frank Schut (Harmonica) sowie Michael Bormann, Rudi Gall, Noah Wall (Backing Vocals). Und ganz egal ob diese Musiker straight rocken, akustischen Country mit Fiddle und Mandoline zelebrieren, oder eigene Westcoast-Popsongs zum Besten geben – immer wieder fallen geschmackvolle Gitarren-Sounds und sehr gelungene Soli auf. Rolf Maibaums Einsatz der Danelectro-Sitar-Guitar in ,Safe And Sound‘ ist da so ein kleines Highlight, ebenso die coole Gitarrenbegleitung von ,Sally Reed‘ – ein großartiger Song! – das dezent jazzige ,Used To Bad News‘ oder das perfekt groovende, berührende ,Cedar Lake‘. Hier stimmt jeder Song, jedes Arrangement ist auf den Punkt, der Sänger kommt sympathisch rüber und die Musik macht einfach Spaß.
Und wenn ich das schreibe, muss das stimmen – denn die Welt zwischen Country und Westcoast ist eigentlich überhaupt nicht die meine. Aber gute Musik ist eben gute Musik. Respekt!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 07/2025
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ANNA KALK: DIFFERENT TIMES
„Ich wurde in Tartu, Estland, dem nördlichsten der baltischen Staaten, geboren“, erzählt Anna Kalk auf ihrer Website. „Im Alter von 12 Jahren begann ich mit dem klassischen Gitarrenunterricht, was später dazu führte, dass ich als Teenager Nirvana-Cover auf der E-Gitarre spielte und mir anschließend meine erste Jazz-Gitarre kaufte.“
Eine nicht gerade typische Entwicklung, denn solche Impulse konnte ich bei Kurt Cobain & Co. bisher noch nicht verspüren. Anna meinte es ernst und begann in Tallinn ein Jazz-Studium an der Estnischen Musik- & Theaterakademie, das sie nach zwei Jahren in Weimar fortsetzte. Nach dem Bachelor ging es weiter mit Musik-Performance/Jazz an der Hochschule der Künste Bern.
Besucht man die Künstlerin auf annareginakalk.com, sieht man eine dunkel gekleidete junge Frau mit einer Fender Stratocaster in der Hand, spätestens seit Jimi Hendrix‘ Ankunft in England 1966, das Synonym für Rock-Gitarre. Anna Kalk (*1993) zeigt sich aber hier alles andere als irgendwie genretypisch, Zeitgeist-korrekt oder sonst irgendwie kategorisierbar – ihre Erscheinung wirft, ohne Musik gehört zu haben, eher Fragen auf: Eine Singer/Songwriterin? Gothic beeinflusst? Naturklangkomponistin?
Der Album-Opener von ,Different Times‘ heißt „Only Answers“ und verzaubert direkt mal mit ganz eigenwilligen Tönen, die nur circa vier Sekunden lang an die britische Band The XX erinnern. Mit einem sehr bizarren Dialog zwischen nervöser Trompete und perkussiver, fast spröde klingender E-Gitarre geht es weiter – extrem ausdrucksstark und getragen von einem lebendigen Kontrabass und anfangs eher zurückhaltendem Schlagzeug, das dann explodiert. Und immer wieder sind da diese spannenden, dissonanten Eric-Dolphy-Momente. Im folgenden Track, „Different Times“, agiert Drummer Xavier Kaeser wesentlich dominanter und durchsetzt die Klangflächen und Arpeggios von Anna Kalk mit deftigen Snare-Drum-Hits, um sich dann wieder etwas zurückzuziehen. In der Mitte bewegt sich Kontrabassist Loic Baïllod wie ein großer, alter Baum im Wind – er bildet immer wieder die Achse der Musik. Und plötzlich hört man nur noch Trompeter Paul Butscher mit ganz lyrischen, warmen Tönen, unter die sich, zuerst kaum wahrnehmbar, ein paar Gitarrenharmonien einblenden. Der Bass kommt dazu, und alle finden sich zu einem fast folkloristischen Thema zusammen, mit dem dieses Titelstück des Albums endet. Es ist mit über sieben Minuten auch der längste Track – eine kleine Klangreise in der großen Klangreise.
Im sehr schön gestalteten Digipak der CD schreibt Anna über ihre Musik: „this album is a personal reflection about the last turbulent years of my life. it’s about ups and downs. about loss and change …“ It’s about Kontraste: „Alles Leicht“ startet mit einer schweren, trockenen, marschierenden Kontrabasslinie, die Trompete schwebt im weiten Hallraum, Gitarre und Schlagzeug finden nach etwas Nervosität zu einem kantigen Thema zusammen, aus dem sich wieder und wieder Neues entwickelt. Hier zeigt sich dann Anna Kalks Talent, aus komponierten Parts und Sounds, aus melodischen Motiven, kurzen Themen und sphärischen Harmonien immer wieder kleine „Suiten“ zu kreieren. Fast jedes ihrer Stücke verblüfft mit so vielen musikalischen Wendungen und Überraschungen wie das gesamte Album. „Endstart“ ist der nächste kleine Sound-Trip betitelt, wieder mit ganz eigenwilligen Gitarrenklängen.
Natürlich ist das Jazz! Modern Jazz. Europäischer Jazz. Dabei aber auch Klangmalerei, mit geradezu cineastischer Dramaturgie. Absolut großartig!
Lothar Trampert / Paleblueice.com 07/2025
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MATTHIAS MÜLLER / ANDREAS WILLERS: TROUBLE IN THE EAST
Dass der legendäre Posaunist Albert Mangelsdorff auch Gitarre spielte und dieses Instrument liebte, zeigen u.a. seine Duo-Aufnahmen mit Attila Zoller, einem Gitarristen, der die Möglichkeiten seines Instruments zwischen swingenden Standards und wunderbaren Free-Jazz-Experimenten auslotete.
Dass Matthias Müller (tb) und Andreas Willers (g) diese Ikonen des europäischen Jazz bekannt sind, ist einigermaßen sicher. Die beiden Musiker kennen sich von gemeinsamen Projekten in der Berliner Improvisations- und Jazz-Szene. Gitarrist Willers (1957) hat im vergangenen halben Jahrhundert zwischen bodenständigem Blues und experimenteller Avantgarde gewirkt – und immer wieder mit gelungenen, kreativen Einspielungen überrascht. Diesmal tut er das also in Zweisamkeit mit einem Posaunisten, dessen akustischem Blech er teils abgedrehte und ins Geräuschhafte übergehende E-Gitarrenklänge entgegensetzt. Wobei die Künstler auch „durch überlegten Aufbau ausgewählter Texturen gekoppelt mit intuitiver, dabei immer variabler Interaktion“ überzeugen. Wie Matthias Müller (1971) kommt auch Andreas Willers aus Norddeutschland, was Track-Titel wie „as sik dat höört“ oder „spökenkieker“ erklärt. Die frei improvisierten Aufnahmen, in denen das Duo klanglich sehr plastisch rüberkommt, entstanden bereits im September 2023. Eine spannende, kreative musikalische Kommunikation.
Lothar Trampert in Jazzthetik 07-08/2025
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ARTHUR POSSING QUARTET / JOEL RABESOLO: HOMES
Das international besetzte Arthur Possing Quartet kommt aus Luxemburg – Homes ist nach Four Years (2018) und Natural Flow (2021) das dritte Album der Formation. Arthur Possing (p), Pierre Cocq-Amann (sax/fl), Sebastian Flach (b) und Niels Engel (dr) haben mit Joel Rabesolo an der Akustik- und E-Gitarre einen weiteren kompetenten Solisten an Bord, der so einige Farben beisteuert und eine sehr eigene Art zu phrasieren hat. Bandleader Possing hörte Joel erstmals am Brüsseler Konservatoriums, dann bei diversen Sessions und Konzerten – und war begeistert. Der aus Madagaskar stammende Gitarrist fügte sich nicht nur organisch in das seit 2013 bestehende Quartett ein, er bringt darüber hinaus auch noch etwas Rock-Energie, Blues-Feeling und schöne Chord-Sounds ins Klanggeschehen. Das verstärkt noch mal die stilistische Offenheit des Arthur Possing Quartet, das bereits früher auch dezent Musik anderer Kulturen als der europäischen und der afroamerikanischen in seine Kunst einfließen ließ. Den albernen Begriff der Worldmusic umgehe ich hier bewusst – es geht um künstlerische Offenheit. „Es gibt so viele Dinge auf dem Album, die gar nicht geplant waren. Auch tolle Zufälle, die es noch reicher gemacht haben“, erzählt Pianist Possing. Reichlich Studiozeit ermöglichte zudem Experimente mit Overdubs und den Einsatz eines Fender Rhodes E-Pianos mit Effekten. Resultat: Farbenfrohes Musik mit einem sehr originellen Solisten an der E-Gitarre.
Lothar Trampert in Jazzthetik 07-08/2025
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SPECTRAL PASSENGERS: AHAB’S TRAUM
Die ersten, noch ganz zurückhaltenden Klänge dieses Albums kommen von Geige, Becken, Klangschalen, Percussion, und sind kaum klar zuzuordnen. Konkreter werden da die nachfolgenden Gitarrentöne von Christian Verspay auf die Adriana Sanchez am Piano antwortet. Die Multiinstrumentalistin Katya Schroeder steuert einige intensive und wunderbar spröde Geigentöne bei – und Perkussionist Jaime Gamero legt ein ganz feines, transparentes Fundament, dessen Sounds immer präsent sind.
Gitarrist Christian Verspay hat das Ensemble Spectral Passengers ins Leben gerufen, und diese Formation hat sich für die Aufnahmen zu Ahab’s Traum wirklich zum ersten Mal zusammengefunden und komplett frei improvisiert. Dass vier der fünf Album-Tracks jeweils um die 10 Minuten lang sind, scheint hier die einzige „Vorgabe“ gewesen zu sein, die dem Wunschmedium Vinyl-LP geschuldet ist. Ansonsten geht es den Musikerinnen und Musikern um den kreativen Moment, den Aufbau von Spannung, um Interaktion und Entwicklung. Dabei bleibt die Musik immer in einem gewissen harmonischen Kontext – diese Möglichkeit ist ja auch ein Teil der großen Freiheit, zu spielen, was der Moment fordert. Besonders spannend gelungen sind Der Eremit und dann The True Enemy Lies Within, mit einem großen Spannungsbogen und einigen unterschwellig bedrückenden Sounds, die das Kopfkino triggern.
Lothar Trampert in Jazzthetik 07-08/2025
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SILENT EXPLOSION ORCHESTRA: PAINTINGS OF AN EXHIBITION
Mit dem Album-Titel „Paintings of an Exhibition“ (JazzSick / Membran) hat das Silent Explosion Orchestra, die saarländische BigBand um Schlagzeuger und Produzent Kevin Naßhan, sich an ein etwas älteres, heute aber durchaus ebenfalls popmusikalisches Werk angelehnt, nämlich Modest Petrowitsch Mussorgskis programmatischen Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ aus dem Jahr 1874, der in Maurice Ravels Orchesterfassung von 1922 bis heute extrem beliebt ist. Zu den bisherigen Adaptionen dieses opulenten Meisterwerks zählen unter anderem Pictures at an Exhibition von der Rock-Band Emerson, Lake and Palmer (aus dem Jahr 1971), sowie die 1997 entstandene etwas brachialere Interpretation der deutschen Thrash-/Progressive-Metal-Formation Mekong Delta. Kammermusikalischer, dabei aber oft geradezu bedrückend hypervirtuos ausgefallen, ist die 1980 entstandene Fassung des Japaners Kazuhito Yamashita für Konzertgitarre solo
Und jetzt also die Jazz-BigBand-Umsetzung? Nicht so ganz, denn hier taucht zwar ebenfalls immer wieder Mussorgskis verbindendes „Promenaden-Thema“ auf, dazwischen wurden aber neue Kompositionen implementiert: Kevin Naßhan hat sich für Paintings of an Exhibition mit einigen bekannten Gemälden der Kunstgeschichte befasst – darunter „Die Seerosen“ von Claude Monet, Pablo Picassos „Der alte Gitarrenspieler“ oder „Caféterassen am Abend“ von Vincent van Gogh – und dazu eigene Stücke geschrieben bzw. schreiben lassen, wobei er von den Komponisten Christian Pabst, Manfred Honetschläger, Philipp Schug und Malte Schiller unterstützt wurde. Diese sechs neuen Stücke und die fünf Promenade-Variationen sind also hier zu hören, in sehr eingängigen Arrangements, eingespielt von einer 18-köpfigen BigBand unter der Leitung des norwegischen Dirigenten David Hveem.
Fünf Saxophone (Fabian Schöne, Gregor Schor, Marc Doffey, Ralf Frohnhöfer, Sebastian Nagler), vier Trompeten (Felix Blum, Ernie Hammes, Jan Rolle, Niklas Müller), vier Posaunen (Peter Hedrich, Jonathan Strieder, Tobias Metzger, Robert Hedemann) und eine mit László Szitkó (Piano), Thomas Wainer und Johannes Schmitz (E- & A-Gitarren), Nico Klöffer (Bass) und Bandleader und Schlagzeuger Kevin Naßhan opulent besetzte Rhythmusgruppe – diese große Band kann wirklich einerseits energetische Walls Of Sound kreieren, aber auch wunderbar ruhigere Passagen ausgestalten.
Mit diesem dritten Studio-Album hat das SEO sich die anspruchsvolle Aufgaben gestellt, eine spannende Brücke zwischen Musik und Malerei zu kreieren – und diese auch gelöst bzw. spannend umgesetzt. Und wenn das Silent Explosion Orchestra im vorletzten Album-Track „Backgammon“ noch mal fast zehn Minuten lang in jazzrockigen Gefilde explodiert und die verzerrten E-Gitarren hinter dem ekstatischen Saxophon-Solo von Marc Doffey oder dem absolut großartigen E-Piano-Part von László Szitkó schreien lässt, erlebt man die ganze Stärke dieser BigBand. Eindeutig der beste Track dieses Albums. Und die finale „Promenade 5“ ist zudem wirklich ein gelungenes Outro.
Lothar Trampert / Paleblueice.com 07/2025
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JAZANDO GUITAR DUO: FROM BEETHOVEN TO HOLLYWOOD
Christoph Steiner (Stahlsaiten-Akustikgitarre) und Jost Edelhoff (Nylonsaiten-Akustikgitarre) haben mit ihrer dritten CD-Veröffentlichung den passenden Soundtrack zur aktuellen GEMA-Diskussion über die schon immer sinnfreie Aufteilung der Klangwelt in E-und U-Musik geliefert. Die beiden Herren des Jazando Guitar Duo haben da nämlich absolut keine Berührungsängste und möchten eher verbinden, was nie hätte getrennt werden sollen. It’s all about music! In ihrem Fall auch about humour, denn der Zugang zu Pop-Klassikern wie Beethovens 5. Sinfonie, Mozarts Serenade Nr. 13 oder Ravels Bolero, Saite an Saite mit Filmmusik-Themen von Ennio Morricone, Leonard Bernstein und John Williams, zaubert immer wieder ein Grinsen zwischen die Ohren. Hier begegnen sich also die europäische musikalische Hochkultur und populäre Kinoklangkunst à la Harry Potter, Rocky, Der Pate, Forrest Gump und La Boum, letzteres vertreten durch den Schmachtfetzen „Reality“. Außer geschmackvollen Arrangements hört man hier auch zwei Könner an den Gitarren, die mit ihren Improvisationen immer wieder auch in Dialoge eintreten. Absolut unterhaltsam!
Lothar Trampert in Jazzthetik 07-08/2025
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DANIEL TAMAYO QUINTET & VICTOR ACEVEDO: POR LA FUERZA DEL HÁBITO
Daniel Felipe Tamayo Gómez stammt aus Medellín, Kolumbien – seit 2015 lebt der Gitarrist in Köln, wo er ein Aufbaustudium in Komposition an der Hochschule für Musik absolvierte. In den letzten Jahren realisierte er sein Masterstudium-Projekt, No Strings Attached, das ein Kammer-Orchester und ein Jazz-Ensemble kombiniert. 2021 veröffentlichte Tamayo mit seinem Quintett, zu dem Yaroslav Likhachev (ts), Moritz Preisler (p), Conrad Noll (b) und Simon Bräumer (dr) gehören, das Album ,Unjustified Paranoia‘, das mich damals absolut begeisterte. Grooves waren hier immer auch Sounds und ständig in Entwicklung, und die Musik ließ die Grenzen zwischen Dissonanz und koventioneller Tonalität/Struktur verschwimmen – und hinter sich. Genau das und natürlich auch wieder jede Menge kollektive Improvisationen prägen auch das Ende August 2024 erschienene Album ,Por la fuerza del hábito‘, das Daniel Tamayo und sein Quintet mit dem Gitarristen und Elektronik-Sound-Tüftler Víctor Acevedo eingespielt haben. Veröffentlicht wurde dieses spannende Werk als „Olive Green Limited Edition 12″ Vinyl“ – Plattensammler werden nervös! Und wieder kontrastiert Tamayo seine Band aus akustischen und elektrischen Instrumenten, mit Samples, Electronic-Sounds und -Texturen, ausgiebigen Kollektiv-Improvisationen und ruhigeren Soundscapes. Diese Musik ist komplex, vielschichtig, lebendig und wirklich spannend, wenn man sich auf diese freie Klangwelt mit Coltrane-esken Momenten und gelegentlichen James-Blood-Ulmer-meets-Mahavishnu-Soli einlassen kann. Sehr originelle, großartige Kunst!
Lothar Trampert / paleblueice.com
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MARKUS APITIUS: WATCHING GHOSTS
Lässt man seine Debüt-EP von 1994 mal außen vor, ist ,Watching Ghosts‘ das siebte Album des in Köln lebenden und arbeitenden Musikers Markus Apitius. ,In God’s Machine‘ erschien 2005, danach ging es in sehr unterschiedlichen Abständen weiter mit ,Los Angeles‘ (2007), ,Golden Parachute‘ (2009), ,Sinking Fishing Trawlers Off The Coast Of Senegal‘ (2014), ,Age Of Straw‘ (2019) und ,Busy Dreamers‘ (2022) – und jetzt ist der Singer/Songwriter mit ,Watching Ghosts‘ am Start. Singer/Songwriter? Irgendwie ja, aber ganz sicher nicht nur: Denn Markus Apitius ist nebenberuflich noch studierter Musikwissenschaftler, produziert Theater- und Filmmusik, ist Mitveranstalter der Konzertreihe „Lied United“, und er produziert und promotet seine Kunst in Eigenregie. Das frühere Beschäftigungsfeld der Vermarktung habe ich bewusst nicht genannt, denn davon ist bekannntlich nur noch „Verung“ übrig geblieben. Wer heute noch LPs und CDs produziert, meint es wirklich ernst und ist – Respekt! – absoluter Überzeugungskreativer.
Und als Sänger und Songschreiber passt Markus auch nicht unbedingt in die Standardschublade des gleichnamigen Genres. Ich sample mal meine eigenen Anmerkungen zum großartigen Vorgänger-Album ,Busy Dreamers‘: „Auch diesmal wandern die Songs des Markus A. durch diverse Stile, tangieren Folk, klingen mal rockig, mal fast jazzig, oft mit fein dosiertem Progressive-Pathos, im Finale auch noch psychedelisch, immer zusammengehalten von seiner absolut berührenden, besonderen Gesangsstimme“ Und weiter: „Und genau das macht dieses Album und überhaupt die Musik von Markus Apitius aus: Sie führt dich über ganz eigene Wege durch bekannte Terrains und vermittelt so neue Perspektiven. Intelligentes Songwriting, geschmackvolle Sounds, tolle Instrumental-Parts und spannenden Arrangements erzeugen eine lebendige Musik, die hörende Menschen berühren kann.“
Ich schreibe diese Zeilen bisher, ohne einen einzigen Ton vom neuen Album ,Watching Ghosts‘ gehört zu haben. Im Infotext des Künstlers lese ich „In seiner achten Soloveröffentlichung hat Markus Apitius seinem Faible für psychedelische Klänge freien Lauf gelassen … Fans von Todd Rundgren oder der frühen Pink Floyd werden sicherlich auf ihre Kosten kommen.“ Die Spannung steigt extrem, die CD liegt auf der Schublade des Players (die einzige Musikschublade, die ich akzeptiere), ich drücke auf Open/Close, dann auf ▷ und los geht’s!
Nach wenigen Tönen von ,Jennifer Travels‘ fühle ich mich wirklich an die ganz alten Pink Floyd erinnert, an Songs wie ,Arnold Layne‘ und ,See Emily Play‘, die noch von Beat, Byrds und Beatles beeinflusst waren. Das folgende ,New Canoo‘ erinnert einmal mehr an David Bowies selbstbetiteltes Debüt von 1967 oder auch an das großartige,1968 entstandene Stück ,In The Heat Of The Morning“. Und dann ist da aber auch wieder diese besondere Stimme, die nur wie Markus Apitius klingt – und eigentlich den Sound und die Arrangements seiner Musik dezent dominiert.
Die Musik läuft: Tolle Backing-Vocals in ,Nobody Sees You‘, ganz abgedrehte, schräge Sounds folgen in ,Part Of The Cult‘ mit einem wirren instrumentalen Solo, das einfach nur großartig klingt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich eine E-Gitarre oder ein anderes Tier schreien höre. Ein Blick in die sparsamen Liner-Notes des CD-Digipaks hilft nicht wirklich weiter: „Markus Apitius: vocals, instruments / Lucy Apitius: backing vocals (1,3,6) / Matthias Ebbing: percussion (4, 5, 11), backing vocals (11)“. Ohne Frage war Lucy bei dieser Produktion mal nicht in the sky with diamonds und auch Matthias hatte Zeit – die Bässe, Gitarren, Tasten, Effektgeräte und mehr hat Apitius aber selbst bedient, aufgenommen und arrangiert. Wobei hier aber einmal mehr auffällt, dass auch dieses Album wieder ganz und gar nicht wie ein Alleingang klingt. Ich höre eine Band, das Schlagzeug etwas weit hinten im Klangbild – die Percussion-Einsätze von Matthias Ebbing in drei Stücken bringen da deutlich Lebendigkeit ins Geschehen. Zur Gesamtkomposition gehört auch diesmal wieder die sehr gelungene Gestaltung der Tonträgerverpackung.
,Watching Ghosts‘, der Titeltrack des Albums, startet transparenter, ruhiger, mit schönen Arpeggios – Markus‘ hohe Stimmlage erinnert einen Moment lang an Pavlo’s Dog, bevor sie im Raum fast wegschwebt. Das Sound-Design dieses Stücks ist einfach mitreißend. Ja, hier „hat Markus Apitius seinem Faible für psychedelische Klänge freien Lauf gelassen“ – Fakten-Check beendet. Und wer beim nächsten Track, ,Strange Churches‘ an noch mehr Raumfülle denkt, liegt einen Moment lang richtig, bevor der Künstler, sich jetzt am Klavier begleitend, das Thema ganz schnell mal in eine andere Richtung zieht.
Und wieder sind da diese feinen Backing-Vocals, und noch eine weirde E-Gitarre … was für ein Trip!
Es ist wunderbar, wenn man nicht auf die Zeilenzahl achten muss. Aber wenn ich jetzt immer weiter schreibe und z.B. verrate, dass der nächste Track nicht auf Englisch gesungen wurde, nehme ich dir vielleicht die letzten musikalischen Überraschungen deines Lebens als CD-Käufer. ,Watching Ghosts‘ macht es ganz sicher noch mal bunter. Bestellen kann man dieses vom ersten bis zum letzten Track beeindruckende Album direkt beim Künstler über www.popsong.de – auch einige ältere Tonträger sind da noch zu haben.
,Gone Now‘ heißt der letzte Track dieses großartigen musikalischen Kunstwerks – mit 7 Minuten und 47 Sekunden auch das längste Stück des Albums. Ich fade langsam zurück in dieses andere Leben, das ohne solche Musik sehr arm wäre. Das mit solcher Musik aufblüht. Inspirierend.
Lothar Trampert / paleblueice.com
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KLAUS MICHEL: STRANGE FUTURE
Die musikalische Arbeit von Sänger, Gitarrist, Produzent, Fotograf und Radfahrer Klaus Michel verfolge ich jetzt seit drei Jahrzehnten. Und das macht man in der Regel nur, wenn Musik fasziniert, berührt, Kraft hat. Acht oder neun Alben und ein paar Singles habe ich von seiner Band Tunes for the takin‘ im Regal, über die wir uns Mitte der 90er-Jahre kennengelernt haben, dazu kommen drei weitere seiner Formation Red Hill, und jetzt gibt es schon sechs Longplayer, die Klaus unter eigenem Namen veröffentlicht hat. Er lebt mit seiner Familie im Hunsrück, geht hauptberuflich einem anderen Job nach, arbeitet aber auch als Gitarrenlehrer und gehört zu den künstlerisch produktivsten und beständigsten Musikern, die ich kenne.
Immer wieder und auch diesmal an seiner Seite: Oliver Kölsch (dr), Kay Zingler (b), Tim Greiner (kb) und Peter Duemmler am Mischpult. Klaus Michel selbst hat nicht nur Text und Musik geschrieben, er bedient auch diverse Gitarren, Keyboards, Xylophone, Tambourin, und er steht am Mikrofon.
Seine Stimme hat Wiedererkennungswert, ist eigenwillig prägnant, wie seine Gitarren-Parts, die so originell sind wie die Saiteninstrumente, auf die er steht. Ein paar dieser schrägen Vögel sind im Booklet zur CD und auf www.klaus-michel-music.com zu sehen.
Zu hören sind auf ,Strange Future‘ zwölf Songs, die im Gegensatz zum Album-Titel, eigentlich eine positive, lebensbejahende Ausstrahlung zu haben scheinen, wobei die ein oder andere Textzeile dann schnell und deutlich auf den Boden der Tatsachen zurückholt. ,Down To Earth‘ heißt einer dieser Songs, auf den George Harrison stolz gewesen wäre, mit sphärischem Gitarrensolo, sehr opulentem Arrangement und einer berührenden Gesangsstimme. Oder auch das düstere ,Mother, Father Forever‘, das eine Sogwirkung hat, der man sich kaum entziehen kann.
Hier hört man, dass hinter dem Handmade-Faktor dieses Albums auch einiges an Kopfarbeit stehen dürfte, denn hier stimmt einfach jede Basslinie, jede schräge, kontrastierende Gitarrenüberraschung, jeder Hallraum und jeder Keyboard-Sound, wie zum Beispiel die archaischen Strings in ,You‘.
Mit dem Vorgänger-Album ,The End‘ hatte Klaus Michel 2022 einen großen Sprung gemacht, fand ich damals. Heute weiß ich, dass das anscheinend nur ein Schritt auf dem Weg war, den er immer weiter geht. ,Wherever you were, Wherever you are, Wherever you’ll be‘ ist das eigenwilligste Liebeslied, dass ich je gehört habe. Die geräuschhaften Sounds am Anfang sind so bedrückend wie der Gedanke an die Endlichkeit, die ersten Akkorde machen Hoffnung, die Worte und Gitarrentöne gehen extrem nahe. (Gerade habe ich mal wieder gemerkt, dass man das alberne deutsche Wort Gänsehaut eigentlich kaum ohne Grinsen einsetzen kann und es für solche Zusammenhänge einfach nichts taugt. Daher lasse ich das Tier in Ruhe.)
,Bédoin‘, Track Nr. 10, zeigt, dass Klaus Michel auch den leicht sentimentalen Feuerzeug-an-und-mitsingen-Song mit Niveau absolvieren kann, und auch die so schönen wie Pedalsteel-Sounds im folgenden ,Without You‘ sind so sentimental wie berührend. Mit ,Decisions‘ endet dieses Album dann doch noch mal extrem düster, geradezu beängstigend. Vom ersten Ton an warte ich auf die Katastrophe, so wie ich zwei Jahre lang immer wieder auf die blinkende LED an meinem Festnetztelefon gewartet habe, die mir sagen sollte, dass der Anruf da war, als ich nicht da war – der Anruf, den ich befürchtete. Jeder hat sein Trauma, und wenn ein Song so starke Gefühle erzeugen oder abrufen kann, dann steckt da auch ganz große Kunst, Psychologie und Gefühl dahinter.
Mit diesen Gedanken bin ich wieder beim ersten Stück gelandet, ,Dreaming Of Los Angeles‘, das jetzt ganz anders klingt als vor einer knappen Stunde. Noch beeindruckender.
,Strange Future‘ ist ein Album mit schönen Songs, düsteren Klangbildern und ganz viel dazwischen. Eine großartige Produktion. Musik mit enormer Kraft.
Lothar Trampert / paleblueice.com
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COLONEL PETROV’S GOOD JUDGEMENT: MADMAN THEORY
,Madman Theory‘ ist bereits im Dezenber 2024 erschienen – es ist das vierte Studio-Album des Quartetts um den Gitarristen Sebastian Müller. Gemeinsam mit Leonhard Huhn an Saxophon & Electronics, Bassist Reza Askari und den Schlagzeugern Dominik Mahnig und Thomas Sauerborn, die sich hier den Job hier teilen, sowie den Gästen Philip Zoubek (synth) und Philipp Gropper (sax), ist dem virtuosen Brachial-Sound-Experten aus Königswinter mal wieder ein deftiges Energiepaket gelungen.
Bestes Beispiel: Der sechsminütige Track ,The Dark Triad‘ vereinigt so ziemlich alles, was zwischen Avantgarde Jazz, Doom Metal und Progressive Rock möglich ist. Da weiß man in keinem Moment so ganz genau, wo das feste Arrangement auf die freie, improvisierte Explosion trifft, denn die Musik ist immer in Entwicklung, immer im Übergang. Die Dichte, die dieses Ensemble erzeugt, ist unglaublich: Bass und Schlagzeug interagieren auf eine extrem eigenwillige Art, und das Gitarrensolo von Sebastian Müller ist einfach schrägste Weltklasse. In ,CRM114′ schaltet er dann noch mal einen Gang hoch und vereint Hendrix, Holdsworth und ein bisschen Tommy Bolin auf sehr eigene Art. Und dann: ,Harmony Obliteration‘ erinnert mich an alles, was ich an Tony Williams Lifetime in der Besetzung mit John McLaughlin und Jack Bruce liebte – nur schneller, lauter, härter. Diese Band ist weiterhin unglaublich – und unglaublich gut.
Zum Abschluss startet ,Ashes‘ dann noch mal ganz ruhig, baut eine beängstigende Stimmung auf, fast fünf Minuten lang – und der große Knall, auf den man wartet, passiert nicht. Die Angst bleibt. Mich erinnert dieses Stück von der Stimmung her extrem an ,The Unanswered Question‘ vom amerikanischen Komponisten Charles Ives (*1874 +1954). Der Mann war nicht nur Musiker, er hatte auch noch ganz pragmatisch nebenbei ein Versicherungsunternehmen aufgebaut und war so zu Wohlstand gekommen, den er auch zur Kunstförderung und zur Unterstützung befreundeter Kollegen nutzte. ,The Unanswered Question‘ und ,Ashes‘ von Colonel Petrov’s Good Judgement sind jedenfalls perfekte Soundtrack für Nachrichtensendungen unserer Zeit.
Mehr über diese unglaubliche Band erfährt man bei colonelpetrovsgoodjudgement.com. Das ähnlich düster gelungene Cover Artwork stammt übrigens von Jannis Sicker / jannissicker.com, der ebenfalls ein großartiger und sehr individueller Gitarrist ist.
Lothar Trampert / paleblueice.com
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NINA FELDGRILL: JAZZ CATS OF TOMORROW VOL.3
Nicht nur A-Bassistinnen und E-Bassisten werden direkt bei den ersten tiefen Tönen dieses Albums erstaunt die Augen und Ohren aufreißen: Hier weiß jemand, wie’s geht! Die tiefen Töne stammen von der österreichischen Musikerin Nina Feldgrill (*1999) und ihrem sechssaitigen E-Bass. Das Label Quinton hat ihr Ausgabe 3 der CD-Reihe ,Jazz Cats of Tomorrow‘ gewidmet, und das zu Recht. Denn alleine schon ihr Solo, das nach vier Minuten dem ersten Album-Track ,Turn Left‘ noch mal ein ganz eigenes, virtuoses Leben einhaucht, ist so berührend, bewegend, großartig – da ist eine Musikerin zu hören, die sich mit dem weiten Welt zwischen Jazz und Rock auskennt, die Weather Report, Jaco Pastorius und vermutlich auch ihrem Vater Werner Feldgrill genau zugehört hat, ebenfalls ein großartiger E-Bassist und auch Gitarrist.
Nina Feldgrill ist Teil des 2022 gegründeten Quartetts River, zu dem Robert Unterköfler (sax), Erik Asatrian (kb) und Simon Springer (dr) gehören, alles sehr kompetente Musiker, die mit spannenden Soli und gutem Groove überzeugen. 2023 hat sie ihr Jazz-Bass-Studium an der MUK Wien bei Uli Langthaler abgeschlossen, und bereits seit 2022 unterrichtet Nina auch selbst an der Joe Zawinul Musikschule. Mit River gewann sie zuletzt das arte4artists-Kunststipendium und im vergangenen Jahr auch noch das Ö1 Jazz Stipendium. 2024 erschien auch das River-Album ,Chameleon Circuit‘.
Von dieser Band sind insgesamt vier Tracks auf Jazz Cats of Tomorrow Vol. 3′ zu hören, zwei weitere hat Nina in einer Formation mit ihrem Vater eingespielt – und so sind bei Feldgrill2 dann auch gleich zwei E-Bässe zu hören. Die dritte Besetzung, die auf dieser Compilation-Album präsentiert wird heißt Wind’s Whispers – Das Flüstern des Windes: Zu ihr gehören die iranische Sängerin Saba Robatjazy, Keyboarder Erik Asatrian, Matheus Jardim am Schlagzeug und wieder Nina Feldgrill am Bass, der hier, insbesondere im Solo, leider etwas zu weit hinten im Mix gelandet ist. Wobei man immer noch die unglaublichen Vibes spürt, die diese Musikerin ausstrahlt. Eine spannende Besetzung mit sehr eigenen Farben und ein feiner Kontrast zum groovigeren Konzept von River. Was zeigt: Diese Musikerin hat Spektrum, sie kann am bundierten und am Fretless-Bass begeistern, und ihre charakteristischen Sounds mit viel Gefühl in unterschiedliche musikalische Zusammenhänge implementieren. Feeling und Sensibilität! Ich hätte nicht gedacht, dass man auf diesem nicht gerade neuen Terrain zwischen Jazz und Fusion so spannend Musik machen kann. ,Jazz Cats of Tomorrow Vol. 3′ präsentiert eine Menge davon, und viele beeindruckende Musikerinnen und Musiker. Nina Feldgrill ist eine Bassistin, die man nicht vergisst.
Lothar Trampert / paleblueice.com
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DER VIERTE ZUSTAND: LAYERS
Hanna Schörken (* 1985) gehört zu den beeindruckendsten Musikerinnen, die ich bisher gehört und auch live erlebt habe. Sie ist eine großartige Jazz-Sängerin, was sie bereits 2016 mit ihrem Album ,Filán‘ bewiesen hat – um danach immer weiter in die freie Musikwelt zu reisen und Improvisation und Experiment in den Vordergrund ihrer Kunst zu stellen. Ihre Stimme ist ein Instrument, das Laute, Worte, Perkussion, Farben erzeugen kann. Manchmal glaubt man bei dieser expressiven Vokalistin fast schon Temperaturveränderungen und Luftbewegungen zu spüren, wenn sie dir mit ihren Sounds kurz mal eiskalte Schauer den Rücken runterjagt, um dich dann im nächsten Moment in eine warme Decke einzuhüllen.
Wie Hanna Schörken ist auch Christina Zurhausen eine Jazz-Musikerin, die sich immer weiter in den Bereich der freien Improvisation bewegt hat. Sie hat u.a. bei Frank Wingold, Joachim Schönecker, Christian Thome, Philipp van Endert und Angelika Niescier studiert – da zeigt sich schon ein gewisses Spektrum zwischen Tradition und Avantgarde. Und diese Jazz-Gitarristin liebt auch Grunge, Rock, ihre Effektgeräte, perkussive kleine Licks, überraschende klangliche Wendungen, Hall und Echo, und sehr weirde Sounds, wie z.B. im Track ,Evolve and Repeat‘, in dem das Trio über acht Minuten lang auf Klangreise geht, durch Free Jazz, Neue Musik, Noise Rock und wieder zurück.
Und dann ist da noch Ramon Keck am Schlagzeug, ein großartiger Teppichleger, der extrem intensive, engmaschige Strukturen zaubern kann, um einen Track weiter fast im Unhörbaren zu verschwinden. Diese kreative Unberechenbarkeit macht sein energetisches Spiel extrem spannend. Noch ein Musiker mit Spektrum: Denn wenn man ihn, gemeinsam mit Christina Zurhausen, in der Band Endgegner Computerspielmelodien interpretieren hört, ist man auf einem ganz anderen Planeten.
Mit Der Vierte Zustand und ,Layers‘ erlebt man Kontraste – was Sounds angeht, die variierende musikalische Dichte und auch die Spieldauer der Album-Tracks ist extrem unterschiedlich ausgefallen: zwischen ,Toxic Impact‘ (00:34) und ,Three Paces in front of me‘ (15:13) liegt eine knappe Viertelstunde, wobei die Miniaturen genau so spannend sind wie die längeren Improvisationen. Die Aufnahmen zu ,Layers‘ entstanden im Juli 2024 im Kölner Topaz Studio von Reinhard Kobialka – der Sound ist absolut raumfüllend, transparent und dynamisch.
Dieses Debüt-Album von Hanna Schörken, Christina Zurhausen und Ramon Keck unter dem Namen Der Vierte Zustand ist wirklich spannend gelungen. Dass improvisierte Musik ein eher kleines Publikum hat, ist bekannt, und zu einem Album wie ,Layers‘ finden viele Menschen nur schwer Zugang. Was live, im Konzert, aber sicher leichter fällt, denn dann erlebt man die spannende Interaktion dieses Trios akustisch und auch visuell. Dieses Experiment sollte man sich auch als Free-Allergiker mal gönnen – Desensibilisierung und Symptomlinderung sind absolut wahrscheinlich. ;-)
Live-Termine findet man bei www.christinazurhausen.com/termine. Entdecken!
Lothar Trampert / paleblueice.com
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THOMAS NAÏM: MAY THIS BE LOVE
Thomas Naïm lebt in Paris, ist Gitarrist, Komponist und Produzent, und hat bereits 2020 ein Album mit Musik von Jimi Hendrix veröffentlicht: ,Sounds Of Jimi‘ ist leider komplett an mir, als Hendrix-Fan, vorbeigegangen. Und das neue Werk ,May This Be Love‘ lässt vermuten, dass ich was verpasst habe. Wird nachgeholt! Gitarre spielt Thomas seit er zwölf ist, und seitdem ist er ständig irgendwo zwischen Rock und Jazz aktiv. Mit Erfolg: Das französische Jazz Magazin und die Jazz News zeichneten ihn 2023 als einen der drei besten Gitarristen des Landes aus.
„Acoustic Guitar Takes On Jimi Hendrix“ lautet der Untertitel dieses neuen Albums, das direkt im ersten Track mit einem sehr direkten, wunderbar warmen Akustikgitarren-Sound punktet, der sich mit wenig Hall perfekt – das heißt ohne Kathedraleninnenraumsimulationseffekt – ins Abhörzimmer integriert. Mit ,Hey Joe‘ zu starten ist mutig, aber andererseits solidarisiert sich Thomas Naïm dadurch auch mit dem Cover-Künstler Hendrix, der mit der 1961 von Billy Roberts verfassten Folk-Nummer seinen ersten Single-Hit hatte. Mit ,Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band‘ von den Beatles hat Naïm noch eine weitere von Hendrix gecoverte Nummer auf dem Album – außerdem hat er einfach auch noch John Lennons ,Jealous Guy‘, das als Skizze bereits seit 1968 existierte, in dieses Album geschmuggelt. Und dann ist da noch Thomas Naïms eigener ,Cherokee Blues‘, eine sehr gelungene Hommage an den experimentierenden und improvisierenden Klangkünstler Hendrix, finde ich. Hier spürt man in jedem Ton, dass Thomas Jimi wirklich verinnerlicht, verstanden und gefühlt hat.
Übrig bleiben neun Hendrix-Originalkompositionen – ,Manic Depression‘, ,Drifting‘, ,Voodoo Child (Slight Return)‘, ,The Wind Cries Mary‘, ,Purple Haze‘, ,One Rainy Wish‘, ,Crosstown Traffic‘, ,Spanish Castle Magic‘, ,May This Be Love‘ – und die gehören in den Naïm-Versionen zum besten, was ich je an Jimi-Hendrix-Tribute-Musik gehört habe. Alleine Thomas‘ Interpretation von ,Drifting‘ ist unglaublich gefühlvoll und gekonnt gespielt – dabei begleitet er sich via Multitracking oder Looper selbst. Wobei man ansonsten auf diesem Album überwiegend Akustikgitarre solo hört – das aber ohne irgendwelche eitlen Virtuositätsbeweise und 36-Finger-Picking-Eskapaden. Nein, Thomas spielt die Musik von Jimi Hendrix mit echtem Feeling und mit Respekt, interpretiert sie dann aber auch mal mit Humor, wie bei dem jazzigen Intermezzo in ,The Wind Cries Mary‘, um irgendwann wieder zur eigentlichen Komposition zurückzufinden.
,Purple Haze‘ hat hier einen dezent orientalischen Touch bekommen, ,One Rainy Wish‘ ist eine wirklich emotionale Interpretation, bei der man Hendrix‘ Stimme zu hören glaubt – auch ,Spanish Castle Magic‘, und ,May This Be Love‘ haben einen ähnlichen Ansatz. Thomas Naïm spielt die Atmosphäre der Originale aus, tut das aber nie dogmatisch oder akribisch. Das zeigt dann noch mal ,Crosstown Traffic‘ sehr deutlich, wo er aus dem cool abfahrenden Rap-Song vom dritten Hendrix-Album ,Electric Ladyland‘ (1968) eine eigenwillig marschierende Nummer mit zwischendrin etwas Ragtime-Flair zaubert.
Ein absolut gelungenes, unterhaltsames und respektvolles Tribute-Album. Mehr hier: www.thomasnaim.com
Lothar Trampert / paleblueice.com
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HANNAH KÖPF: FLOWERMIND
Hannah Köpf (* 1980) hat sowohl eine klassische Klavierausbildung als auch ein Jazz-Gesangsstudium am Conservatorium van Amsterdam absolviert. Sie verbindet Americana, Country und Folk mal mit Steely-Dan-Flair, dann mit dezenter Eigenwilligkeit einer Rickie Lee Jones oder an anderer Stelle mit der Fragilität von Joni Mitchell. Aber sie tut das mit eigener, starker Stimme, sympathisch unaffektiert, klar und sensibel.
Die Kölner Sängerin hatte bei der Produktion ihres Albums ,Flowermind‘, das live in der Fattoria Musica in Osnabrück eingespielt wurde, eine tolle Band am Start: Allen voran der wunderbar geschmackvoll solierende Bastian Ruppert an diversen Gitarren. Neben Joon Laukamp (Fiddle), Mike Roelofs (E-Piano & Orgel), Kontrabassist Jakob Kühnemann und Torsten Haas am E-Bass war Schlagzeuger Tim Dudek in doppelter Funktion: Er war auch Produzent des Albums. Überraschung: Tim ist bei mehreren Tracks auch als Gitarrist, an der Mandoline und mit der Pedal Steel Guitar zu hören – und das mehr als gekonnt. Diese Zutaten und auch den Album-Mix hat er in der Nachbearbeitung der Live-Aufnahmen in seinem Kölner Studio kreiert.
,Flowermind‘ hat eine starke Handschrift, einen durchgehenden, warmen Sound und – insbesondere in den ganz ruhigen Stücken – ein berührendes Flair. Ein absolut gelungenes, eingängiges und vor allem stilsicheres Album allerfeinster Americana-Popmusik. Mehr über die Künstlerin erfährt man bei www.hannahkoepf.com
Lothar Trampert / paleblueice.com
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CLAUDIA DÖFFINGER & TORSO VENTUNO: NACHTWACHE
Die verschiedenen Schreibweisen des englischsprachigen Begriffs für eine große Instrumentalbesetzung haben mich schon immer fasziniert: Die Big Band kann auch als Bigband oder bescheiden als bigband daherkommen, wirkt aber markanter als BigBand, und manche dieser Formationen haben ganz fette Versalien verdient, die ich uns an dieser Stelle aus Gründen der Schriftbildästhetik erspare. Dazu gehört auf jeden Fall Torso Ventuno, ein 21-köpfiges Ensemble unter Leitung der Komponistin und Arrangeurin Claudia Döffinger.
Nachtwache heißt das neue Album von Torso Ventuno. Es wurde an drei Tagen Anfang März 2024 in der Fattoria Osnabrück eingespielt. Soviel vorab: Eine kreative Höchstleistung in hervorragendem Sound mit extrem spannenden Kompositionen, Arrangements und Soli. Ebenfalls sehr gelungen ist das schöne CD-Cover-Artwork von Rafael Koller. Ein klingendes Kunstwerk.
Claudia Döffinger, 1989 in in Leonberg geboren, spielt seit ihrem achten Lebensjahr Klavier, studierte an der Hochschule Luzern Jazz-Piano und Musikpädagogik und gründete in der Schweiz ihre Band fourscape, mit der sie zwei Alben veröffentlichte. Nach einem weiteren Studiengang in Jazz-Komposition und -Arrangement an der Universität Graz entstand 2028 das Album Monochrome mit dem Graz Composers Orchestra. Produktionen mit der hr-Bigband, dem Subway Jazz Orchestra und weiteren größeren Formationen folgten. Und auch diverse Auszeichnungen sowie Verpflichtungen als Dozentin für Komposition & Arrangement an den Musikhochschulen Luzern und Frankfurt. Seit 2021 ist Köln der Lebensmittelpunkt von Claudia Döffinger.
Bei ihrer Biografie ist die Idee einer eigenen großen Band nicht weiter verwunderlich. „Auf Reisen begegnet man vielen großartigen Menschen, die man nur ungern zurücklässt. Genau solche Weggefährt*innen – vor allem aus Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden – haben sich nun bei Torso Ventuno zusammengefunden“, schreibt sie im Pressetext zum neuen Album. Der Name des Ensembles – deutsch: Körper Einundzwanzig – bezieht sich auf die 21 beteiligten Musikerinnen und Musiker, darunter bekannte Namen wie Heidi Bayer (tp), Matthew Halpin (ts), Alex Parzhuber (dr), Alex Eckert (g), Charlotte Lang (as) und andere.
Die beiden letztgenannten sind die Solisten des ersten Album-Tracks „Nachtwache“. Und die Musik kommt mit einer unglaublichen Wucht rüber, mit dynamischen BigBand-Klangwänden die immer weiter in die Höhe schießen um Sekunden später von ein paar unbegleiteten Gitarrentönen abgelöst zu werden, die einen Moment lang wie eine Überleitung zum nächsten Stück wirken, das aber dann wieder in eine ganz andere Richtung geht: „Zlatorog“ kommt erst soulig, bluesig rüber, Sopransaxophonist Julius van Rhee zieht dann aber geradezu ekstatisch diese bereits beschriebenen Walls-Of-Sound hinter sich her, die ihn dann fast verschlucken. Interessant, welche starken Bilder diese Musik mitliefert bzw. erzeugen kann.
Die australische Jazz-Sängerin Kristin Berardi ist mit ihrer eigenen Komposition „Cover To Cover“ zu hören, bei der das so komplexe wie einfühlsame Arrangement von Claudia Döffinger alle Grenzen zwischen Pop und Jazz überfliegt. Was für eine Energie!
Claudia Döffingers Musik ist definitiv nicht nur von klassischen BigBand-Settings geprägt – da schwingt noch mehr mit. Sie hat „eine große Affinität zu Hip-Hop, elektronischer Musik und verwandten Musikstilen. So finden sich in den Kompositionen nicht nur kraftvolle Beats, sondern auch typische Elemente und Effekte aus diesen Musikrichtungen – allerdings auf analogem Wege instrumental umgesetzt“, schreibt sie selbst über ihre Musik. „Und das Album The Gil Evans Orchestra Plays the Music of Jimi Hendrix habe ich früher oft gehört, aber auch Aufnahmen von Steely Dan. Das war alles wichtig.“
„Döffinger wants to move people through her music, either emotionally or physically“, lese ich auf Claudias Website. Und wer Funk, HipHop und diverse Techno-Spielarten erlebt hat, weiß, dass Musik nicht nur berühren sondern auch extrem bewegen kann. Gelegentlich erinnert ihre stilistische Offenheit und ihre Experimentierfreudigkeit an Jazz-Rock-Ensembles der späten 1960er und frühen 70er Jahre, wie Blood Sweat And Tears, Chase, Chicago oder eben das Gil Evans Orchestra. Studiert hat sie u.a. bei bei Ed Partyka (Bob Brookmeyer New Art Orchestra, Vienna Art Orchestra, Carla Bley, Milan Svoboda Prague Big Band) und Michael Abene (Metropole Orkest, WDR Big Band), und 2015 nahm Claudia Döffinger am Arrangers Workshop des Metropole Orkest mit Vince Mendoza teil – alles ganz sicher prägende und inspirierende Begegnungen.
Carla Bley, Toshiko Akiyoshi, Maria Schneider – ohne Frage Künstlerinnen mit einem ganz eigenen Feeling für große Besetzungen, die Musikgeschichte geschrieben haben. Und schön, dass das Thema gerade in Mitteleuropa regelrecht aufblüht, mit so großartigen Musikerinnen wie z.B. der Jazzrausch Bigband, dem Fuchsthone Orchestra, dem Ensemble der Sängerin und Gitarristin Monika Roscher oder Saxophonistin Luise Volkmanns Formation Été Large. Und wer der Leichtigkeit und den Farben der großen Genre-Ikonen auf ganz eigene Art nahekommt, und sie mit ganz eigenen Konzepten, Ideen, Sounds weiterentwickelt, wie es Claudia Döffinger mit Torso Ventuno tut, spielt in der höchsten Liga mit.
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 05-06/2025
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BUGGE WESSELTOFT: AM ARE
Sphärische Keyboardflächen im weiten Raum, ganz vorne ein minimalistisches Piano-Motiv, aus dem sich eine kleine Melodie schält, die diesen kammermusikalischen Einstieg in Am Are prägt. Und schon im üppiger instrumentierten Nachfolger ist man in einer ganz anderen, sehr nervösen, hektischen Welt. Auch hier wieder der tiefe Hallraum, allerdings schon sehr viel bedrohlicher wirkend. Aber dann: „Is Anyone Listening“ präsentiert, nach einem sehr einfachen Pianomotiv, die ausdrucksstarke Sängerin Rohey Taalah, eine soulige Interpretin, die immer wieder verzweifelt nach Zuhörern fragt.
Ja, das ist Bugge Wesseltoft (*1964), und die Musik des norwegischen Pianisten, Synthesizer-Spielers und Komponisten hat bei aller Unberechenbarkeit Wiedererkennungswert. Und wenn er es im pulsierenden Track 4 „BAG“ mal wieder sehr jazzig angeht, virtuos soliert, gefolgt von einem packenden Kontrabass-Solo des großartigen Arild Andersen, begleitet von Gard Nilssen am Schlagzeug – dann geht die Sonne auf; Dieses Trio ist auch noch mal im nachfolgenden „Reel“ zu hören.
In den nächsten beiden Tracks ist eine weitere Trio-Besetzung am Start, die komplett anders agiert: Wesseltoft ist an E-Piano und Synthesizer zu hören, E-Bassist Sveinung Hovensjø mit seinen von alten Terje-Rypdal-Aufnahmen bekannten extrem verzerrten Linien und der geniale Jon Christensen strickt mit „Drums and Bells“ am Zusammenhalt.
Am Are ist ein Album der Begegnungen hervorragender Musiker verschiedener Generationen und Genres, in dem sich akustische Klänge und dezente Elektronik in weiten Räumen treffen. Ich verrate nur so viel: Es geht noch bunter weiter. Ein extrem spannendes Werk!
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 05-06/2025
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CHRISTIAN PABST, ANDRÉ NENDZA & ERIK KOOGER: RHYTHM RIOT
Warme, wuchtige Akkorde fliegen mir entgegen, mit einer Klangfülle, als würde ich selbst vor dem geöffneten Flügel sitzen – oder vielleicht sogar direkt zwischen den kraftvoll schwingenden Bass-Saiten, die von einer starken linken Hand angeschlagen werden. „Incoming Signal“ heißt das erste Stück des Albums Rhythm Riot – und die starke Hand ist nur eine von zweien, mit denen Bandleader, Produzent, Komponist und Pianist Christian Pabst (*1984 in Saarlouis) auf diesem sechsten Album große Musik geschaffen hat.
Und schon nach wenigen Tönen ist klar, dass es sich hier auch klanglich um eine großartige Produktion handelt. Aufgenommen wurde an zwei Terminen im Mai 2022 und im Februar 2023 im Kölner Club Loft von Christian Heck, einem Klangkünstler dessen Name schon in unzähligen Liner Notes zu lesen war. Heck war auch für die Abmischung und das Mastering dieses sehr plastisch klingenden Albums verantwortlich.
Christian Pabst hat an den Konservatorien von Amsterdam, Paris und Kopenhagen Jazz-Piano studiert. Ein Studium der Filmmusik am Conservatorium van Amsterdam folgte. Seit 2019 hat Pabst einen Lehrauftrag für Jazz-Klavier an der Hochschule für Musik Saar, unterrichtet und gibt Ensemble- und Instrumental-Workshops oder referiert über das zweite Miles Davis Quintet, das Thema seiner Master-Arbeit war.
Saß ich eben als Hörer noch neben dem Pianisten, habe ich im Kontrabass-Solo des nächsten Tracks, „Mount Rakan“, meine Ohren ganz nah am Korpus dieses großen Instruments und spüre geradezu den Luftzug aus den Schallöffnungen. Mit dem wunderbaren André Nendza (*1968) ist hier ein Instrumentalist zu hören, der in vielen unterschiedlichsten Besetzungen immer einen beeindruckenden Ton ablieferte, und der die Fähigkeit hat, auch in virtuosen Lead-Spots zu tragen. Und zu berühren. Nach dem Bass-Solo habe ich das Gefühl fast über diesem Trio zu schweben und es erstmals etwas stärker im Raum zu erleben. Um dann in „24-7“ ganz nah am Drum-Set von Erik Kooger zu landen. Der 1971 in Alkmaar, Niederlanden geborene Schlagzeuger hat in den 90ern in Den Haag studiert und seitdem mit Größen wie Teddy Edwards, Scott Hamilton, Ack van Rooyen, Gino Vannelli, Deborah Carter, Hans Dulfer, Sonny Fortune, Ingrid Jensen gespielt und länger mit dem Pianisten Michiel Borstlap und dem Gitarristen Jerôme Hol zusammengearbeitet.
„Was bedeutet Musik in einer brennenden Welt? Christian Pabst reflektiert die Kraft der Kunst in Krisenzeiten“ lese ich im Presse-Info zum Album, dessen Musik mich gerade so sehr gepackt und aus der beängstigenden Nachrichtenwelt in andere, bessere Sphären entführt hatte. Die „Kraft der Kunst in Krisenzeiten“, und sei sie nur als individuell dosiertes Psychopharmakon, als klingender Stimmungsaufheller erlebt, existiert unbestritten, wenn man Musik liebt. Ein Zitat von Leonard Bernsteins hat Christian Pabst bei dieser Produktion begleitet und inspiriert: „This will be our reply to violence: to make music more intensely, more beautifully, more devotedly than ever before.“
Nach dem anfangs entspannten, dabei aber harmonisch bedrückend angelegten „Sky“, einem Stück, das die Hörenden nicht ganz hoffnungslos zurücklässt, ziehen mit „Kimnara“ endgültig schwarze Wolken auf, die dann aber, wie in einem Schwarzweißfilm im Zeitraffer-Modus, über uns hinweg rasen. Ein geradezu hypnotisches Stück Musik, das aus einem fast schon technoiden Monster-Thema in eine grandios boppende, zeitlose Modern-Jazz-Nummer mutiert, die einen unglaublichen Puls hat und in der alle Beteiligten alles geben. Ein extrem eingespieltes Trio ist hier zu erleben. Wer mehr davon hören will: Christian Pabst, André Nendza und Erik Kooger haben bereits auf dem 2021 erschienenen Album Balbec und auf dem Live-Mitschnitt Ida Lupino (2022) zusammengearbeitet.
Das Mysterium Intensität hat dieses Trio in allen Facetten ausgelotet, und ja – sie haben diesen im Vergleich zu Pulse, Swing, Groove fast unfassbaren Parameter zum Eigenleben erweckt. In „Enigma“ ist dann das höchste Level an Intensität erreicht, in einem minimalistischen, transparenten Arrangement, aus dem nach und nach alle Instrumente geradezu manisch auszubrechen versuchen, ohne der Depressivität dieser Komposition zu entkommen. Ist das der Rhythm Riot? Ein Aufstand, der kein Problem löst. Komplexe Musik für schwierige Zeiten.
Mit „Encore“ schickt uns dieses beeindruckende Trio dann aber doch noch fast schon optimistisch nach Hause: Mit ganz viel McCoy-Tyner-Energie und einem geradezu übersprudelnden Piano-Solo von Christian Pabst, das André Nendza und Erik Kooger fliegen lassen. Hin zu einem überraschenden Ende …
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 05-06/2025
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STRUKTURSTRUKTUR: THE GESTALT
„Genre: kraut-wave, post-rock, minimal music“ informiert das Label über seinen Act. Das klingt interessant, und auch der Band-Name hat was: Strukturstruktur – dahinter verbergen sich Vincent Rigling (git, fx), Leander Schöpfer (bass, fx), Simon Scherrer (dr, fx) und Silvan Schmid (dr, fx). Und dass die vier Herren alle ein fx hinter ihrem jeweiligen Hauptinstrument vermerkt haben, sagt uns, dass hier wohl ganz effektiv an Sounds geschraubt wird. Und dem ist auch so: Coole, minimalistische, teils hypnotische Grooves und Bass-Riffs sind zu hören, originelle akkordische Einwürfe oder auch mal kurze Echo-Licks von Gitarrist Vincent Rigling, und immer wieder fliegen sehr spannende und oft schräge Elektro-Sounds mit analogem Flair durch den Klangraum.
Die Luzerner Band wurde im Herbst 2021 gegründet, und die vier Musiker haben wirklich ihren eigenen Sound gefunden. In Handarbeit erzeugen sie repetitive Muster, die fast technoid rüberkommen, nie so ganz minimalistisch angelegt sind, aber auch das große Musikdrama mancher Post-Rock-Band vermeiden. Die eigenwillige Kühle dieser Tracks hat mehr von Kraftwerk als von Can, und mit Kraut und Wave hat die Musik von The Gestalt nun wirklich nichts gemein. OK, der Promotor braucht nun mal die Schubladen – die Strukturstruktur-Entdeckenden bekommen aber eine ganze Menge mehr. The Gestalt ist ein abgedrehter Sound-Trip.
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 05-06/2025
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TOBIAS HOFFMANN TRIO: START/STOP
Das Trio des 1982 in Remscheid geborenen Gitarristen Tobias Hoffmann ist weiterhin ein Garant für großartig gestaltete Album-Cover. Von Cover-Versionen bekannter Kompositionen aus Jazz, Rock und Pop haben sich Hoffmann, Bassist Frank Schönhofer und Minimal-Schlagzeuger Etienne Nillesen nach den großartigen Werken 11 Famous Songs Tenderly Messed Up (2014), Blues, Ballads & Britney (2017) und Slow Dance (2022) jetzt aber verabschiedet: Start/Stop enthält nämlich ausschließlich Eigenkompositionen des Bandleaders. “Wir haben eine Reihe meiner neuen Stücke aufgenommen, die größtenteils sehr einfach sind, mit sich wiederholenden, tranceartigen Riffs oder meditativen Akkordverbindungen. Das ist genau mein Ding!“, schreibt Tobias, der sich hier einmal mehr als Grenzüberschreiter und Schubladenverweigerer präsentiert. Und so schweben die elf Album-Tracks irgendwo zwischen Jazz-Improvisation, bizarrem Blues, sentimentalem Americana und hypnotischen Jams mit knorrigen Basslines, über die der Gitarrist und Sound-Tüftler gelegentlich dezent abgedrehte Klangeffekte legt. Aus denen meldet sich dann aber immer wieder sein warmer Saitenklang zurück, um mit ein paar wenigen Akkorden ganz intensive Stimmungen zu schaffen. Das von Jan Phillip an zwei Tagen aufgenommene und geschmackvoll abgemischte neue Album Start/Stop gibt’s als CD, Vinyl und Download – und es soll das letzte gemeinsame Werk dieser Besetzung sein. Das Album ist dem 2024 verstorbenen Freund und Musikerkollegen Ralph Beerkircher gewidmet.
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 03-04/2025
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EMILY REMLER: COOKIN‘ AT THE QUEENS
Emily Remler (*1957 +1990) war eine der wenigen Jazz-Gitarristinnen der 1980er-Jahre, eine virtuose Solistin, die die Musik von Größen wie Pat Martino, Joe Pass, George Benson und vor allem Wes Montgomery genau so studiert hatte wie in ihren Anfängen die der Rock- & Blues-Ikonen Jimi Hendrix und Johnny Winter. Sieben Alben erschienen zu ihren Lebzeiten – jetzt kommen, nach 35 Jahren, noch 17 Tracks dazu, veröffentlicht als 2CD-Set in einem schön gestalteten Digipak mit 40-seitigem Booklet. Dokumentiert wurden zwei Live-Auftritte aus Las Vegas, die damals auf Radio KNPR übertragen wurden. Hier war sie 1984 mit Cocho Arbe (p), Carson Smith (b) und Tom Montgomery (dr) zu hören, bei den 1988er-Mitschnitten im Trio mit Carson Smith (b) und John Pisci (dr). Emily Remler hatte Wes Montgomerys sehr eigenen Flow, seine coole Art zu swingen und seine organische Phrasierung extrem verinnerlicht – und so bietet ihre Interpretation des Wes-Klassikers „West Coast Blues“, abgesehen von einigen hochvirtuosen BeBop-Linien im Pat-Martino-Format eher wenig Platz für Eigenes. In den sieben Trio-Aufnahmen von 1988 hat sie sich dagegen auf höchstem Niveau gefunden, mit klarem Ton, einer sehr eigenen Dynamik und beeindruckender Linienführung, so z.B. in „Cisco“, im Medley „So What/Impressions“ und auch in der Montgomery-Nummer „D-Natural Blues“, die sie hier absolut packend und souverän interpretiert. Im Mai 1990 starb Emily mit 32 Jahren an den Folgen ihres langjährigen Opiatkonsums. Dieses Live-Album ist ein großartiges Erbe.
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 03-04/2025
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PERCEPTIONS TRIO: THE WICKED CREW
Eine im Raum schwebende E-Gitarre gibt ein paar Akkorde vor, ein dezenter, fast trockener Drum-Beat folgt, darüber legt sich ein einfaches Saxophon-Thema das dann in ein furioses Solo übergeht. Das nachfolgende Gitarrensolo kommt im angezerrtem Fusion-Sound unter den das Saxophon wiederum stark mit Raum-Effekten verfremdete Stakkato-Motive und Orgelpunkte legt. Charley Rose (sax/fx), Silvan Joray (g/fx) und Paulo Almeida (dr) haben ohne Frage so Einiges aus dem ECM-Katalog studiert und verinnerlicht. Sie kommen allerdings nicht aus Skandinavien sondern aus Frankreich, der Schweiz und Brasilien. 2019 haben sie ihr Trio der Wahrnehmungen in Basel gegründet, dessen Musik stark von Gitarrist Silvans musikalischem Ansatz geprägt ist: Seine Soundscapes, repetitive Pattern und Raumklänge bilden immer wieder die Achse dieses Trios, um die Saxophon und Schlagzeug tanzen – was konzeptuell ein bisschen an die Jimi Hendrix Experience mit ihrem ruhigen Bass-Pol Noel Redding erinnert. Wobei Silvan Joray hier aber auch als sehr abwechslungsreicher Solist auffällt. Ausgerechnet der Titel-Track des Albums, „The Wicked Crew”, ist eher konventionell ausgefallen und erinnert an Weather Report, die diese Art von 70s Fusion authentischer drauf hatten. Das kreative Potential von Rose, Joray & Almeida zeigt sich dann aber schon wieder im nächsten Stück: „Lit Candles“ könnte man als kammermusikalisch charakterisieren, was aufgrund der weiten Hallräume etwas absurd klingt. Beim Perceptions Trio liegen die Stärken aber ganz klar in solch ruhigen, meditativen Stücken.
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 03-04/2025
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PETROS KLAMPANIS: LATENT INFO
Eine Kinderstimme, ein schwebender Sound im tiefen Raum, dann eine simple, kleine Piano-Melodie an der vorbei sich ein kraftvoller, sehr plastisch aufgenommener Kontrabass in den Vordergrund drängt um kurz darauf wieder, neben der geradezu tanzenden, minimalistischen Schlagzeugbegleitung die Achse für dieses ganz eigene Klavier-Trio zu bilden.
Kreativer Motor dieser Achse ist Bandleader Petros Klampanis, der hier gelegentlich auch noch elektronische Sounds beisteuert, wie auch sein Schlagzeuger Ziv Ravitz – am Klavier ist Kristjan Randalu zu hören. Letzterer hat sehr gut verstanden, dass sein Instrument hier einmal nicht in der klassischen Lead-Position steht, und so profitiert dieses Trio von einer absolut gleichberechtigten, sehr offenen Interaktion der drei Musiker. Ihre Musik atmet, schwebt, berührt und entspannt.
Petros Klampanis wurde 1981 auf der griechischen Insel Zakynthos geboren – er lebt und arbeitet sowohl in Griechenland, als auch in den USA. Ab 2005 studierte er Kontrabass am Conservatorium van Amsterdam, wechselte dann 2008 an die New Yorker Aaron Copland School of Music und erspielte sich einen Platz in der Jazz-Szene der Stadt. Als Live- und Studio-Musiker war er seitdem an zahlreichen Produktionen und Projekten beteiligt. Sein Debüt-Album als Leader, Contextual, erschien 2011 auf Greg Osbys Label Inner Circle Music; es folgten Minor Dispute und Like a Great River (2015), Chroma (2017), Irrationality (2019), Rooftop Stories (2021), der Soundtrack Tettix (2021) und das in Sextett-Besetzung plus Gäste eingespielte Tora Collective (2023).
Klampanis’ neues Album heißt Latent Info und ist mit Ausnahme eines Tracks, der den Trompeter Andreas Polyzogopoulos als Gast featured, eine etwas transparentere Produktion als der Vorgänger Tora Collective. Wobei die Musik hier keineswegs spartanisch oder karg instrumentiert wurde – vor allem geben die großen, weiten Raumeffekte den Linien der Instrumentalisten ganz viel Lebendigkeit und Freiraum im wahrsten Sinne, was ausgerechnet in „Day Breaks“, dem Track mit Trompeter Polyzogopoulos ganz besonders auffällt. Das zusätzliche Instrument liefert diesem Trio eine weitere Farbe, verdichtet aber nicht das musikalische Gesamtbild. Was einmal mehr beweist, dass hier sehr sensibel interagierende Künstler am Werk waren. Nur ganz gelegentlich macht sich das Piano mit romantischen Episoden etwas dominanter im Vordergrund breit – dann gibt es einen Hauch von Lyle-Mays-Momenten, wie auf alten Metheny-Group-Alben. Der in Estland geborene Kristjan Randalu ist eben auch ein Tasten-Virtuose mit zehn Fingern, der sich jedoch, wie bereits betont, überwiegend sehr im Sinne dieses musikalischen Konzepts, zurücknimmt: „Manchmal reicht es, einen einzelnen Ton zu spielen – und dann geht die Welt auf! Jeder Ton hat eine Aussage, ist wichtig, hat Gewicht“, meint Kristjan Randalu, den Bandleader Petros Klampanis wie folgt charakterisiert: „Ich habe noch nie jemanden gehört, der das Klavier so sehr zum Singen bringt.“
Und dann ist da noch der in Israel geborene Drummer Ziv Ravitz, der seit 2000 in New York lebt. Ravitz ist ein Cymbal-Zauberer, der mit seinen sensiblen Ride-Beiträgen gekonnt durch den Raum wirbelt und so die Linien von Piano und Kontrabass umspielt und geradezu umschmeichelt. Das gelingt ihm besonders gut und auch etwas kraftvoller als in anderen Track in „Day Breaks“, dem bereits erwähnten Track mit dem wunderbaren Trompeter Andreas Polyzogopoulos, dessen wenn auch kurzer Beitrag zu diesem Album absolut gelungen ist. Vielleicht reift ja hieraus auch noch eine dauerhafte Quartett-Besetzung heran – das Potenzial ist kaum zu überschätzen. „Disoriented“ heißt der finale, gut fünfminütige Track von Latent Info, der dann wieder im Trio eingespielt wurde und eine ganz besondere Tiefe hat. Und der beim Hören irgendwie direkt wieder zum Anfang dieses gelungenen Albums hinzieht. Intensiv, berührend, eigenwillig. Schönklang mit Tiefe.
Lothar Trampert in Jazzthetik – Magazin für Jazz und Anderes 03-04/2025
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INNES SIBUN: THE PREACHER
Den britischen Blues-Rock-Gitarrrist Innes Sibun (*1968) kenne ich jetzt schon seit 30 Jahren – seit seinen ersten Solo-Produktionen ,Superstitious‘ (1995), ,Honey Pot‘ (1996) und ,Stardust‘ (1997). Davor war der sympathische Musiker 1993 mit Ex-Led-Zeppelin-Sänger Robert Plant auf „Fate of Nations“-Tour, die ihn in die USA, nach Südamerika und durch Europa führte. Damals hatte Sibun sogar Gelegenheit mit einigen seiner Idole zu jammen, darunter Buddy Guy und James Cotton.
2011 wurde Innes Sibun, schon immer großer Rory-Gallagher-Fan, eingeladen in New York ein Konzert zur Erinnerung an dessen Album ,Notes from San Francisco‘ zu spielen – die Musik des legendären irischen Kollegen beschäftigt ihn bis heute. Nach diversen Kooperationen, u.a. mit Sängerin Sari Schorr und zuletzt mit Marcus Malone, mit dem er unter dem Namen „Malone Sibun“ 2020 das Album ,Come Together‘ veröffentlichte, ist Innes Sibun jetzt erstmals mit einem fast rein instrumentalen Werk am Start: ,The Preacher‘ ist ein Gitarrenfest, bei dem er von virtuosen, sahnigen Slide-Passagen über klassischen Blues, Rock-Balladen, bis hin zu fast poppiger Leichtigkeit alles Mögliche im Repertoire hat: In ,Time Is Tight‘ klingt es fast ein bisschen nach Westcoast-Fusion, kontrastiert mit einem feinen Hammond-Solo von Anders Olinder, der immer wieder innerhalb der wechselnden Besetzungen glänzt und enorme, soulige Wärme in die Musik bringt. ,Freya’s Smile‘ ist ein weiterer, sehr positiv gestimmtes Instrumental, mit etwas Wes-Montgomery-Flair über straightem Rock-Beat, gefolgt von einem verzerrten Gitarrensolo – einem dieser sich oft fast selbst überholenden, ekstatischen Soli, die Innes Sibun immer wieder als wirklich eigenständigen Interpreten auszeichnen. ,I Found Your Letter‘ ist noch so ein gitarristischen Highlight, und einer von zwei Tracks, bei denen Sänger Marcus Malone zu hören ist. Die meisten Songs des Albums wurden von Bassist Charlie Jones (The Cult, Goldfrapp), Drummer Clive Deamer (Jeff Beck, Portishead, Radiohead) und Pianist John Baggott (Portishead) eingespielt, alles kompetente Könner.
Spätestens nach der relaxten Ballade ,Inky‘, die wunderbar irgendwo zwischen Soul, Jazz und instrumentalem Pop schwebt und berührt, ist klar, dass hier ein Gitarrist seine ganze Liebe zum Instrument und zur Musik offenbart – und die passt wirklich nicht in eine Schublade. Besonders sympathisch ist, dass Innes Sibun immer wieder auf Risiko spielt, und dass es ihm ganz offensichtlich wichtiger ist, dass seine Soli aus dem Bauch und von Herzen kommen. Polierte Angeberware für den Gitarristen-Wettbewerb sind nicht sein Ding. Meins auch nicht. Und so zaubert auch sein stampfender Blues-Rocker ,Jump For Joy‘ sofort ein Grinsen ins Gesicht, denn der geht einfach ab – inklusive feiner, fast jazziger Licks und noch einem tollen Hammond-Solo.
Und dann Bobby Hebbs ,Sunny‘, die einzige Fremdkomposition dieses Albums: Innes interpretiert mit bluesigem, leicht crunchigem Gitarrens-Sound, phrasiert jazzig, artikuliert rough und intensiv, wie eine aufgeregte Nina Simone, und erinnert im Finale ein wenig an den frühen Carlos Santana.
Das Album endet mit einer Reprise von ,Time Is Tight‘ in einer etwas abgespeckten und für mich sehr viel gelungeneren Version: Nach ein paar ganz coolen E-Gitarren-Licks steigert sich die Nummer, die dann Innes noch mal ordentlich Gas geben lässt – immer mit Geschmack, bluesy, soulful. Mehr davon! Wirklich ein sympathische Musiker.
Lothar Trampert 01/2025 // Paleblueice.com
FOTO Jan Urbanek
MODEL Gibson ES-175
Made in USA 1967
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MICHAEL SAGMEISTER & WERNER EISMANN: OPPOSITES ATTRACT
Michael Sagmeister ist seit Jahrzehnten eine Größe der europäischen Jazz-Szene. Jetzt ist der Gitarrist erstmals mit Werner Eismann am Bass zu erleben, einem Musiker, den ich bisher nur von diversen Rock-Formationen kannte, u.a. von der Marburger Band Scrifis und der Cover-Combo Purple. Da ist schon mal kein kammermusikalisches Duo von Jazz-Gitarre und Kontrabass zu erwarten – das Album-Foto von Eismann mit einem Rickenbacker-Bass stellt schon mal einiges klar. Und auch Michael Sagmeister setzt hier auf extrem rockige, verzerrte E-Gitarren-Sounds. Die beiden Bandleader spielen ansonsten mit virtuellen Mitmusikern – was man beim Hören nicht vermutet. Denn – und das hat Produzent, Programmierer & Arrangeur Sagmeister schon früher bewiesen – auch dieses Album klingt extrem organisch. Musikalisch bewegen sich die elf Tracks absolut authentisch durch die Jazz-Rock- und Fusion-Klangwelt der1970er- bis ’90er-Jahre. Einziger Kritikpunkt ist die von Schreibfehlern durchsetzte Rückseite des Digipaks, die das Label zu verantworten hat. In dem Punkt hätte dieses virtuose Album von Sagmeister & Eismann mehr Respekt und Professionalität verdient. Denn hier haben zwei Musiker auf höchstem Niveau gearbeitet: Die Tracks sind rund, die Arrangements knackig, die Gitarre brilliert in bester Meola-Manier, der Bass slappt auch schon mal deftig und die Unisono-Riffs krachen. Retro total! Bei dieser Musik fühlt man sich in die eigene Jugend zurückversetzt.
Lothar Trampert 01/2025 // Paleblueice.com
FOTO Jan Urbanek
MODEL Jarrett Guitars
Zaffiro JZ 00058
Made in USA 2007
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YOSEF GUTMAN & PETER BRODERICK: RIVER OF EDEN
Der Kontrabassist und Bass-Gitarrist Yosef Gutman Levitt wurde 1979 in Südafrika geboren, studierte ab 1998 am Berklee College of Music in Boston wo er mit magna cum laude abschließen konnte. Sein Versuch als Jazz-Musiker in New York Fuß zu fassen gestaltete sich trotzdem schwierig. 2009 wanderten Yosef mit seiner Familie nach Israel aus, arbeitete in verschiedenen Jobs und fand erst 2018 zur Musik zurück. Seitdem hat Gutman zehn Alben veröffentlich, auf denen er überwiegend mit akustischer Bassgitarre und seinem fünfsaitigem Harvey-Citron-E-Bass zu erleben ist – u.a. mit Musikern wie den Gitarristen Lionel Loueke und Gilad Hekselman. „River of Eden“ hat er mit dem in Irland lebenden amerikanischen Multiinstrumentalisten Peter Broderick eingespielt, der hier an der Violine zu hören ist, deren Klangspektrum er gelegentlich mit elektronischen Effekten erweitert. Bei ihren überwiegend fragilen Soundscapes und Klanggemälden wurden Gutman & Broderick sensibel von Pianist Yonathan Avishai, Akustik-Gitarrist Itay Sher und Yoed Nir am Cello unterstützt. Irgendwo zwischen romantischer Harmonik, sentimentalem Blues des vorderen Orients und Alternative-Folk-Anklängen, erzeugen diese Musiker mit oft einfachsten melodischen Motiven und sparsamen Arrangements eine Intensität und Tiefe, die extrem berührt. Musik, die man sich für seinen Lieblingsfilm-Soundtrack wünscht. Großartig.
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 /2025
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LENNART ALLKEMPER: AWAKENING
Eine angenehm warm und lebendig klingende Aufnahme – das ist mein erster Eindruck vom Solo-Debüt des Kölner Saxophonisten und Komponisten Lennart Allkemper (*1992). Und wer schon mit zwölf Jahren einen ersten Preis bei „Jugend jazzt NRW“ gewonnen hat, beherrscht mit Anfang 30 sein Handwerk wie der berühmte alte Hase. Lennart hat in Köln und Amsterdam Jazz studiert, diverse weitere Auszeichnungen bekommen und überzeugt in dieser Aufnahme von 2023 mit klarem, fast vibratofreiem Ton, mit anfangs oft zurückhaltenden Linien die zu puren Energieschüben mutieren um sich dann wieder auf ganz eigene Art zurückzuziehen. Ein spielerischer Ausdruck und eine Klangsprache, die absolut authentisch wirken, am Sopran- wie am Tenorsaxophon. Überzeugen können auch Bassist Stefan Rey, dessen großartige Soli und kraftvolle Töne an Kontra- und E-Bass in dieser Produktion sehr gut eingefangen wurden, der so zurückhaltend wie verlässlich tragende Schlagzeuger Niklas Walter und der großartige Pianist Billy Test, der u.a. als Mitglied der WDR Big Band bekannt ist. Er transferiert sogar eine Allkemper-Komposition namens „Bottrop“ in die weite Jazz-Welt und überzeugt immer wieder mit packenden Soli, auch am perligen E-Piano. Und wenn der Bandleader in „Ginseng“ dann mit sprödem Tenor-Sound und interessanten Tonsprüngen ein weiteres Mal überrascht und die ganze Band in „Rear Up“ fliegt, freue ich mich auf mehr. Gelungen!
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 /2025
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EUROPEAN GUITAR QUARTET: FOURTUNE
Ich denke kurz an Bassist Ali Haurands legendäres European Jazz Quintet, bei dem drei Tenorsaxophonisten das Klangbild prägten, höre dann die ersten Tönen von Fourtune und bin in einer ganz anderen Welt. Was zu erwarten war, wenn vier hervorragende Akustikgitarristen – die Klassik-Interpreten Zoran Dukic aus Kroatien und Pavel Steidl aus Tschechien sowie die zwischen Jazz, Folk und dem Rest der Klangwelt aktiven Deutschen Thomas Fellow und Reentko Dirks – gemeinsame Sache machen. Zehn Jahre nach ihrem Debüt „Danza“ haben die viel beschäftigten Virtuosen es noch mal ins Studio geschafft und mit „Fourtune“ einen weiteren Trip zwischen den Stilen abgeliefert. Klassische Gitarrenkunst, zeitgenössisches Acoustic-Fingerpicking, ethnische Einflüsse, ein bisschen Jazz und hier und da gibt’s dezente mediterrane Reminiszenzen an „Friday Night In San Francisco“, dem Pop-Erfolg von Al Di Meola, John McLaughlin & Paco De Lucía. Wobei das European Guitar Quartet aber wirklich nicht den hypervirtuosen HiSpeed-Ansatz der o.g. Ikonen im Focus hat sondern eher auf sehr komplexe Vielschichtigkeit setzt. Neben Eigenkompositionen von Fellow, Dirks und Steidl sind hier auch zwei Werke von Frank Zappa zu hören. Noch überraschender sind aber die klanglichen Feinheiten, die die vier Musiker mit diversen Saiteninstrumenten, Percussion, gelegentlichen Vokal-Einsätzen und auch mal einem bluesigen Slide-Solo zu Gehör bringen. Das European Guitar Quartet hat wirklich eine Menge Farben auf der Palette.
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 /2025
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LIFE IS GREAT: OPTION A
Life is Great ist die Band von Schlagzeuger & Komponist Johannes Koch, einem Musiker, der nicht nur im Jazz sondern auch im Independent-Rock aktiv ist. Und ja, das hört man in dieser instrumentalen Produktion, dem Debüt der Formation, ganz deutlich. Zusammen mit Asger Nissen (sax/synth), Johannes Mann (g) und Thörbjørn Stefansson (E-Bass), alle Studenten am Jazz-Institut Berlin, gründete er eine Rock-Band, die ohne Vocals auskommt, dafür aber kleine Grenzüberschreitungen liebt. Und so reiben sich auch schon mal definitiv jazzige Saxophonsoli an Slap-Basslinien, klingt die E-Gitarre mal nach 70s-Rock, mal nach 80s-Fusion, jagen zappaeske Unisono-Attacken effektwabernde Gitarrenflächen. Da „fühlt sich Musikmachen wieder so an, als würde man im Keller der Eltern am Weltruhm basteln“, kommentiert Bandleader Johannes Koch. Eine tragende Rolle spielt ohne Frage Bassist Thörbjørn Stefansson, der mit fettem, prägnanten Ton und extremer rhythmischen Exaktheit eine starke Achse zwischen den quirligen Drums und den beiden Solisten an Saxophon und Gitarre bildet. Das musikalische Konzept der Reibung von Rock-Elementen und Jazz-Improvisation verliert im Laufe des Albums etwas an Spannung, da die Gitarre fast immer mit dem gleichen Flanger-Effekt-Sound durch die Tracks schwebt und die riffigen bis rudimentären Jazz-Rock-Themen dem hier oft wenig entgegensetzen. Diese Band muss man auf der Bühne erleben, tippe ich mal. Live is greater!
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 /2025
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MAGNOLIA: EMBRACE
Eine Kölner Sängerin und ein Düsseldorfer Gitarrist – kann das gut gehen? Bei aller Weltoffenheit des Rheinlands und der bierseligen Gelassenheit seiner Bewohnerinnen und Bewohner, wäre dieses Thema in beiden Metropolen im Falle von „Volksschauspieler trifft Lokalpolitikerin“ ein ganz heißes. Aber im Jazz geht bekanntlich so einiges am (un)gesunden Volksempfinden vorbei, und das ist auch gut so. Seit 2005 spielen Anne Hartkamp und Philipp van Endert im Duo Magnolia zusammen. 2006 erschien das gemeinsame Debüt Humpty’s Amazing Boogie Pencil, sechs Jahre später, 2012 das kreativ betitelte Wait a Second.
Die wachsenden Zeiträume zwischen den Veröffentlichungen haben damit zu tun, dass Sängerin Anne Hartkamp (1964) neben eigenen Projekten mit einem Dozenten-Job für Jazz-Gesang an der Hochschule Osnabrück beschäftigt war. Und Philipp van Enderts (1969) wunderbares Trio-Album Cartouche (2019, mit Bassist André Nendza und Trompeter/Flügelhornist Christian Kappe) und sein 2022 erschienenes orchestrales Meisterwerk Moon Balloon mit dem Filmorchester Babelsberg, sowie seine Dozententätigkeit in Düsseldorf und Osnabrück, deuten ebenfalls auf einen vollen Terminkalender hin.
Im Januar 2025 erscheint jetzt endlich Magnolia-Album Nr. 3, Embrace, wieder beim Label JazzSick, das von van Endert und André Nendza geführt wird. Und Anne Hartkamp und Philipp van Endert bleiben bei ihrem transparenten Duo-Konzept, das im Studio und nahtlos auch live funktioniert – mit eigenen Kompositionen, Standards aus Jazz, Latin Music und Pop, sowie einer feinen Mischung aus Arrangement und Improvisationen. Dieses Duo klang noch nie so nah beieinander.
Was sieht Anne Hartkamp als die wichtigste Veränderung gegenüber den früheren Magnolia-Produktionen? „Die Arbeitsweise! Zum einen haben wir uns für die Entwicklung des Ganzen sehr viel Zeit gelassen, haben uns immer wieder getroffen, Stücke ausprobiert, gemeinsam die Arrangements erarbeitet und überlegt, in welche Richtung das Ganze gehen könnte.
Zum anderen haben wir in Philipps Studio aufgenommen. Das hieß, wir waren uns im Prozess der Aufnahmen vollkommen selbst überlassen, hatten keine dritte Meinung dabei und mussten alle Entscheidungen selbst treffen. Wir konnten ganz unserer Intuition folgen und uns auf die Musik einlassen. Ich glaube, dadurch ist Embrace noch intimer geworden als seine Vorgänger – sehr nah, sehr pur.
Anne und Philipp interagieren wunderbar, und reizen beide die Möglichkeiten ihrer Instrumente aus. So ist Anne Hartkamp auch mal mit Bass-Linien im Scat-Format zu hören, während Philipp van Endert von Walking-Bass- und Akkordbegleitung in einen linearen Solo-Spot wechselt. Immer bleibt der Fluss erhalten, und die Bälle, die beide sich zuwerfen, bleiben stets in der Luft. Ebenso harmonieren der relativ klare, aber dennoch warme Gitarrenton mit etwas Hall sehr gut mit einer Stimme, die fast ganz auf Vibrato und Geräuschhaftes verzichtet und meist nah am Song bleibt. Anne Hartkamp hat gegenüber früheren Aufnahmen eine berührende Ruhe entwickelt. Und wen sie mal in einem Song pausiert, kann Philipp seine Gitarre mit etwas mehr Raum-Effekt als sonst in die Breite führen und eines seiner wirklich eigenwillig-schönen Soli abliefern. Seine handwerklichen Fähigkeiten gepaart mit einem beeindruckenden Gefühl für Tongestaltung, Harmonik und den geschmackvollen Effekteinsatz zeigen sich u.a. in einer Interpretation des Jimi-Hendrix-Klassikers „Angel“. Für mich ohne Frage eine der schönsten, intelligentesten, wärmsten Interpretationen dieser wunderbaren Ballade vom 1971 posthum erschienenen Studio-Album The Cry of Love.
„Ich glaube, der Vorschlag, „Angel“ zu spielen, kam von mir“, erzählt Anne Hartkamp. „Auch wenn ich bisher nichts von Hendrix aufgenommen habe und ja auch von meiner Singweise und Stimme her eher kein Jimi-Klon bin, begleiten mich doch einige seiner Songs schon sehr lange, und ,Angel’ mit seiner charakteristischen Harmonik, seinem geheimnisvollen, innigen Text und dieser starken und geschmeidigen Melodie ist einer davon. Einfach ein großartiges Stück Musik, das ich mir gut mit Philipps wunderbarem Gitarren-Sound vorstellen konnte.“
Und auch die Umsetzung der van-Endert-Komposition „Moon Balloon“ hat diese Qualitäten, einen eigenen Flow, Wärme und ein paar Ecken und Kanten in Musik zu wandeln, die auch noch mit feinen Details überraschen kann. Denn auch hier wurde wieder überwiegend mit Raumeffekten und etwas Loop-Einsatz gearbeitet, die Stimme und Gitarre auf ganz eigene Art in höheren, weiteren Sphären verschmelzen lassen. Das muss man erst mal in sich hören und dann auch so gekonnt umsetzen können wie Philipp van Endert, dessen E-Gitarre auf ganz eigene Art orchestral wachsen kann, um einen Track weiter, in der Charlie Parker/Dizzy Gillespie-Komposition „Anthropology“, mit unglaublichem Akkord- und Walking-Bass-Spiel extrem virtuos zu begleiten. Und Anne goes BeBop, scattet was das Zeug hält.
Keine Frage, dass sich die lange Zusammenarbeit dieser beiden Künstler hier auf jeden Ton auswirkt. Solche Musik entsteht eben nur mit Nähe, Respekt und einem tiefen und intuitiven gegenseitigen musikalischen Verständnis. Und wenn die beiden dann in „April, She Says“ noch mal etwas gewagter, moderner improvisieren und echtes Powerplay mit ganz feinen Kontrasten bieten, zeigt das die Vielseitigkeit dieses berührenden Duos.
Ein absolut gelungenes Album.
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 /2025
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UNIONEN: UNIONEN
Unionen ist schwedisch und bedeutet „Die Union“. Nun, dieser Begriff ist in Deutschland bekanntlich politisch auch noch anders besetzt als im Rest der Welt. Und Zusammenhalt ist ein Thema gerade in diesen Tagen, in denen einmal mehr klar wird, dass die Kunst in Mitteleuropa immer noch freier, kreativer und experimentierfreudiger ist als die von Sachzwängen und Macht-Ambitionen durchsetzte Politik. Von Kunst kann man viel lernen.
In unserem Fall ist „Unionen“ ein Zusammenschluss von vier skandinavischen Jazz-Musikern, deren Namen man aus anderen Zusammenhängen kennt: Der norwegische Pianist und Keyboarder Ståle Størlokken hat mit Elephant9, Supersilent, Terje Rypdal und dem Trondheim Jazz Orchestra gearbeitet, sein Landsmann, Schlagzeuger & Percussionist Gard Nilssen, spielte u.a. mit dem Supersonic Orchestra und ebenfalls mit dem Trondheim Jazz Orchestra. Aus Schweden kommt Per „Texas“ Johansson: Er war u.a. auf Aufnahmen mit Rebecka Törnqvist und Dan Berglund zu hören – bei Unionen bedient er Tenorsaxophon, Flöte, Klarinette und die beeindruckende Kontrabassklarinette. Und dann ist da noch der seit 2009 in Berlin lebende schwedische E- und Kontrabassist Petter Eldh, der in den vergangenen Jahren für seine kreative Arbeit mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde – zuletzt 2024 mit dem „Deutschen Jazzpreis“ in der Kategorie „Saiteninstrumente“ – dem ignoranten Sammeltopf für alles was keine Tasten, Felle oder Klappen hat. Der 1983 geborene Eldh bedient übrigens auch noch die legendäre Techno-Geheimwaffe Akai MPC – er bezeichnet sich selbst als Enthusiast dieses digitalen Music Production Controllers. Petter war auch für die Abmischung der gut klingenden Aufnahmen aus dem Atlantis Metronome Studio in Stockholm zuständig.
Kategorien wie Bandleader, Supergroup etc. greifen bei Unionen nicht. Ebenso wenig die Zuordnung zu klar definierten Jazz-, Crossover- oder Nordic-Jazz-Schubladen, oder auch die Prädikate „akustisch“ kontra „elektrisch“. Diese Formation vier kompetenter Solisten und noch kreativerer Kollaborateure hat etwas ganz Eigenes zu bieten, was musikalische Entwicklung, Spannungsaufbau, Dramaturgie und auch Sound-Design angeht. Hier werden Klanglandschaften kreiert, bei denen man nie genau sagen kann, was abgesprochen, komponiert, konzipiert oder einfach nur, im Sinne von Er-Improvisation, irgendwann mal passiert und geblieben ist. Und dann sind da noch das Licht, das Wetter und die unberechenbaren Wolken, die diese Klanglandschaften innerhalb von Minuten ganz anders aussehen lassen können. Ja, aussehen: Denn die Musik des Kollektivs Unionen ist unglaublich assoziativ, erzeugt Bilder und Stimmungen. Sehr eigene Stimmungen.
Und so kommt der Opener des Albums, mit dem bei uns oft martialisch eingesetzten Wort „Ståhlbad“ betitelt, sehr sensibel und zerbrechlich daher, ohne straighte Beats, und endet mit dem minimalistischen Motiv, mit dem das Stück begonnen hat. Aber dann pulsiert es, die Band kocht regelrecht: „Den Grimme Elling“ hat beste John-Coltrane-Spätwerk-Energie, dabei aber klanglich noch eine Menge mehr zu bieten. Hier fliegen die vier Musiker durch große, weite Räume. „Ganska Långt Ut På Vänsterkanten“ (deutsch „Ziemlich weit draußen am linken Rand“) ist dann wieder motivisch angelegt und marschiert stoisch an einem tiefgelegten Riff von Kontrabassklarinette und E-Bass entlang.
„6983“ ist ein weiterer Energieschub, fast schon klassischer Jazz-Rock, wieder in einen weiten Hallraum verlegt. Das eher einfache, Riff-basierte Thema, mit dem kein Kompositionspreis zu gewinnen ist, zeigt aber ganz deutlich eine weitere Qualität dieser Formation: die große Spielfreude. Und was Saxophonist Per Johansson und Ståle Størlokken am Synthesizer hier solistisch rausholen, ist wirklich ganz großes Energiekino mit Live-Feeling. Darunter die immer wunderbaren Kontrabass-Linien von Petter Eldh, der hier konzeptuell dezent an Miroslav Vitous erinnert, einen der größten Klangmaler dieses Instrument.
Interessant ist auch der Titel-Track des Albums, „Unionen“: Hier hört man ein fast schon klassisches, modernes Jazz-Quartett, mit sphärischen Beckenwirbeln, sparsamen Bass- und Piano-Tönen und einem traurigen Themen-Fragment von der Klarinette. Diese eher romantische Tristesse, fernab vom skandinavian blues des Terje Rypdal, leitet auch das fünfeinhalbminütige „Search Party“ ein, das dann aber in eine fast bedrohliche Grundstimmung kippt, mit einem verzweifelt wütenden Kontrabass-Solo, nach dem das zurückkehrende, einleitende Thema schließlich in komplett anderer Stimmung erklingt.
„Kolgruvan“, mit Mattias Ståhl als Gast am Vibraphon, beendet dieses spannende Album mit Musik, die trotz etlicher atmosphärischer Abgründe auch Ruhe und etwas Hoffnung vermittelt. Wir müssen da durch, gerade in diesen Tagen. Unionen zeigt uns, warum es sich lohnt, nicht aufzugeben.
Lothar Trampert in Jazzthetik 01-02 /2025
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