GUTE MUSIK 2023

Rezensionen von Lothar Trampert. Nur gute Musik.
Und immer mehr.

  1. BLAKE MILLS: JELLY ROAD
  2. WEATHER REPORT: LIVE IN BERLIN 1971
  3. BÁLINT GYÉMÁNT: VORTEX OF SILENCE
  4. JIMI HENDRIX EXPERIENCE: HOLLYWOOD BOWL AUGUST 18, 1967
  5. TOBIAS HOFFMANN: ITALY
  6. RATKO ZJACA: ARCHTOP AVENUE
  7. MARCUS KLOSSEK: BLINK6
  8. FRANK ZAPPA: OVER-NITE SENSATION
  9. EMMA RAWICZ: CHROMA
  10. COLOGNE: COMMON SENSE
  11. WOLFGANG MUTHSPIEL: DANCE OF THE ELDERS
  12. KENNEDY ADMINISTRATION: SECOND TERM
  13. JÖRG ENZ TRIO: SUNNY-SIDE UP
  14. SLOWFOX 5: ATLAS
  15. ALPENTINES: THIRD FLOOR
  16. DOMINIK SCHÜRMANN ENSEMBLE: THE SEAGULL’S SERENADE
  17. CHRISTINA LUX & OLIVER GEORGE: LIVE DELUXE
  18. JOHN SCOFIELD TRIO: UNCLE JOHN’S BAND
  19. TORSTEN GOODS: SOUL SEARCHING
  20. ALI CLAUDI: SPIEL JA NICHT SO LAUT. GITARRENGESCHICHTEN.
  21. KRAAN: PORTA WESTFALICA 1975
  22. BÄNZ OESTER & THE RAINMAKERS: GRATITUDE
  23. SOOÄÄR / YARALYAN / OUNASKARI: ZULA
  24. MENGAMO TRIO: CHAT BIZARRE
  25. CHARLIE WATTS: ANTHOLOGY
  26. SEBASTIAN GRAMSS’ STATES OF PLAY: METEORS – MESSAGE TO OUTER SPACE
  27. ERKIN CAVUS & REENTKO DIRKS: ÜTOPYA
  28. GREG LAMY / FLAVIO BOLTRO: LETTING GO
  29. VOLKER KRIEGEL: WITH A LITTLE HELP FROM MY FRIENDS 
  30. MIKE KENEALLY: THE THING THAT KNOWLEDGE CAN’T EAT
  31. JULIA KADEL TRIO: POWERFUL VULNERABILITY
  32. RAAB / VAN ENDERT / TORTILLIER: HOPE & GRATITUDE
  33. STEPHANIE WAGNER & NORBERT DÖMLING: FLUTE ‘N‘ BASS
  34. JAKOB MANZ: GROOVE CONNECTION
  35. AFROKRAUT: A GUIDE TO AFROKRAUT III
  36. CHRISTIAN ECKERT & STEFFEN WEBER: WERKSTATTDUETTE
  37. PIETER DOUMA & DORKUS MAXIMUS: MONK IN THE CRACKS
  38. FRANK ZAPPA: MUDD CLUB / MUNICH & FUNKY NOTHINGNESS  
  39. JULIA KADEL TRIO: POWERFUL VULNERABILITY
  40. VLADI NOWAKOWSKI & RICH SCHWAB: FOLKER HÖRT DIE SIGNALE. DER ERSTE FOLKER SCHMITTEM-ROMAN 
  41. MESHELL NDEGEOCELLO: THE OMNICHORD REAL BOOK
  42. PAT METHENY: DREAM BOX
  43. COUNT BASIC FEAT. KELLI SAE: STUDIO LIVE SESSION
  44. EKKO III: WIRED TRIAD 
  45. VANESA HARBEK: VISIONES
  46. THE VOO: BROTHER VOO
  47. ELLA ZIRINA: INTERTWINED
  48. DOMINIC MILLER: VAGABOND
  49. JULIAN LAGE: THE LAYERS
  50. JAKOB MANZ: GROOVE CONNECTION
  51. RICKIE LEE JONES: PIECES OF TREASURE
  52. MONIKA ROSCHER BIGBAND: WITCHY ACTIVITIES AND THE MAPLE DEATH
  53. RICHARD BARGEL: DEAD SLOW STAMPEDE
  54. ARNE JANSEN / STEPHAN BRAUN: GOING HOME
  55. SAMO SALAMON & ASAF SIRKIS: RAINBOW BUBBLES
  56. SCHOENECKER SASSE SCHIEFERDECKER: TRIO TALES
  57. ACHIM SEIFERT PROJECT: DÜNYALAR
  58. MEHDI CHAMMA: LAYLA WA BAHR
  59. JOE KRIEG QUARTET FEAT. NILS WOGRAM: BEAU GOSSE
  60. MALTE VIEFS KAMMER: III
  61. ALI FARKA TOURÉ: VOYAGEUR
  62. TEEMU VIINIKAINEN: SONGS OF SILENCE 
  63. CHRISTINA ZURHAUSEN: SEE YOU IN THE TREES
  64. JOHANNES HAAGE DRIFT: WINGS
  65. AXEL KÜHN TRIO: LONELY POET
  66. ANDREAS HEUSER / JAN BIERTHER: WINDY CITY
  67. YASI HOFER: BETWEEN THE LINES
  68. MAREILLE MERCK LARUS: STILLE WASSER
  69. RUPI: IMMER SPASS AUF DEN BACKEN
  70. ISABELL BODENSEH: FLOWING MIND
  71. JOHN SCOFIELD: INSIDE SCOFIELD
  72. JO AMBROS: HOW MANY TIMES
  73. ARILD ANDERSEN GROUP: AFFIRMATION
  74. LISA WULFF: BENEATH THE SURFACE
  75. JAKOB BRO & JOE LOVANO: ONCE AROUND THE ROOM. A TRIBUTE TO PAUL MOTIAN
  76. SUPERLÄUCHE: SUPERLÄUCHE
  77. JEFF DENSON, BRIAN BLADE, ROMAIN PILON: FINDING LIGHT
  78. Noch mehr gute Musik gibt’s hier!

BLAKE MILLS: JELLY ROAD

Denkt man bei den ersten Tönen noch, gleich in einem klassischen, amerikanischen Singer/Songwriter-Setting zu enden, schleichen sich dann doch ein paar eher Genre-untypische Sounds wie Backwards-Gitarren, Synth-Flächen und tiefe Räume ins Klangbild. Auch Soundtrack-Assoziationen sind aber wieder schnell vom Tisch, wenn Multiinstrumentalist Blake Mills seine eigentümlich warme, zarte und doch prägnante Stimme ins Spiel bringt. Er hat die zwölf Tracks dieses Albums größtenteils selbst eingespielt, unterstützt von Songwriting-Partner Chris Weisman und einer Handvoll Gastmusiker und -musikerinnen wie Gitarristin Wendy Melvoin, Keyboarder Larry Goldings und Saxophonist Sam Gendel. Als stilistisch extrem flexibler Studio-Gitarrist, Songwriter und Produzent hat der 1986 in Kalifornien geborene Blake Mills u.a. mit Größen wie Bob Dylan, Norah Jones, Diana Krall, Randy Newman, John Legend, Rufus Wainwright und Lucinda Williams gearbeitet, an seinem 2021 erschienen Album „Notes with Attachments“ war u.a. Bassist Pino Palladino beteiligt. Sein bisherigen vier Solo-Alben waren eher jazzig-experimentell ausgerichtet, und auch „Jelly Road“ ist wirklich bei weitem nicht so folkig wie man beim ersten Hinhören vermuten könnte. Irgendwo zwischen leisem Pop, Rock, experimentellem Jazz und Alternative-Country schwebt seine Musik, die vor allem mit eigenwilligen Klangstrukturen und -Schichtungen begeistern kann. Ein sehr schönes und sympathisch eigenwilliges Album. lt

WEATHER REPORT: LIVE IN BERLIN 1971

Manchmal kann man sich nur wundern, dass hervorragende Live-Aufnahmen offiziell unveröffentlicht bleiben, während wenig Begeisterndes seinen Weg in die Plattenläden findet. Von Joe Zawinul (kb), Wayne Shorter (sax), Miroslav Vitous (b), Alphonse Mouzon (dr) und Dom Um Romao (perc), der 1971er Besetzung von Weather Report, wurde man eigentlich noch nie enttäuscht, und so ist der jetzt erst auf 2CD vorliegende Mitschnitt „Live in Berlin 1971“ ein echtes Geschenk. Die Aufnahmen entstanden vier Monate nach der Veröffentlichung des Debüts „Weather Report“, und in dieser Phase waren der Free Jazz der 60er-Jahre und der elektrifizierte Miles Davis von „Bitches Brew“ ganz wesentliche Inspirationen. Zawinul nannte außerdem auch mal Attila Zollers großartiges Album „The Horizon Beyond“ (1965) als bedeutenden Einfluss auf ihn und Weather Report, bevor die Band mit ihrem dritten Werk ,Sweetnighter’ (1973) zu groove-orientierteren, poppigeren Fusion-Strukturen wechselte, die dann im großen Hit „Heavy Weather“ (1977) kumulierten. Davon war im September ’71 in Berlin noch nichts zu hören, hier blühte der Post-Free-Electric-Jazz in spröder Schönheit, und diese Phase war ganz sicher die spannendste von Weather Report. Als Gäste standen Eje Thelin (tb), Alan Skidmore (ts/fl) und John Surman (bs/bcl) mit auf der Bühne. Ein wirklich gut klingendes, spannendes Live-Album einer sehr energetischen Band. Empfehlung! lt

BÁLINT GYÉMÁNT: VORTEX OF SILENCE

Fast wie E-Piano-Linien perlen Bálint Gyémánts Gitarrentöne beim ersten Album-Track aus den Boxen. Ich habe den ungarischen Jazz-Musiker vor vielen Jahren über seine Duo- und Band-Aufnahmen mit der Sängerin Veronika Harcsa kennengelernt – als kreativen Begleiter und Solisten. Jetzt ist er mit einem eigenen Trio am Start – Vince Bartók an der Bassgitarre und Dániel Ferenc Szabó an den Drums – und schwebt zwischen Jazz und Folk, zwischen akustischen Klängen und auch elektronischen Sounds. Dabei sind seine teils stark verfremdeten E-Gitarrentöne und synthetischen Effekte mit ganz viel digitalem Raumanteil Geschmacksache – gelegentlich überdecken sie aber die filigrane Arbeit des sehr interessant agierenden Drummers und auch die tiefen Basslinien komplett, so im zweiten Album-Track „Waltz For Mr. Diamond“ oder auch bei „Dancing Dragon“. Da sind poppig-folkige Stücke wie „Finding The Way Back“, „Tavaszi Szél“ oder der Titel-Track des Albums dank transparenterer Arrangements mit Akustikgitarre sehr viel eingängiger. Bálint Gyémánt ist ein virtuoser Gitarrist, dessen Musik hier aber nur in den ruhigeren Momenten ihre Ausdruckskraft entfaltet. „Vortex Of Silence“ ist als Vinyl-LP und Download erhältlich. lt

JIMI HENDRIX EXPERIENCE: HOLLYWOOD BOWL AUGUST 18, 1967

Auch über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ist Jimi Hendrix immer noch für mittelgroße Überraschungen, sprich neue Aufnahmen gut. Dieser bisher noch nicht veröffentlichte Live-Mitschnitt entstand in der Woche vor dem US-Release des Hendrix-Debüt-Albums ,Are You Experienced’ – die Band war dort also immer noch relativ unbekannt. Zu diesem Zeitpunkt waren Hendrix, Drummer Mitch Mitchell und Bassist Noel Redding aber bereits zehn Monate durch England und Kontinentaleuropa getourt und entsprechend eingespielt. In die Hollywood Bowl in Los Angeles waren die meisten der knapp 17000 Konzertbesucher aber wegen The Mamas and The Papas gekommen – die Experience war nur der Opener. Warum aber ausgerechnet von dieser Hendrix-Show, zwei Monate nach dem legendären Monterey-Auftritt, über die Jahrzehnte noch nicht mal ein Bootleg auftauchte, bleibt ein Rätsel. Zu hören sind die Tracks ,Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band‘, ,Killing Floor‘, ,The Wind Cries Mary‘, ,Foxey Lady‘, ,Catfish Blues‘, ,Fire‘, ,Like A Rolling Stone‘, ,Purple Haze‘ und ,Wild Thing’. Die sauber gefertigte LP enthält ein großformatiges, 12-seitiges Booklet mit Infos und unveröffentlichten Fotos.
Der Sound ist rauh aber OK, die Ansagen stimmungsvoll, und musikalisch war die Jimi Hendrix Experience (mal abgesehen von ein paar Text-Aussetzern bei ,Mary’) hier in sehr guter Form. Tolles Trio! lt

TOBIAS HOFFMANN: ITALY

Ein vielbeschäftigter Musiker: Neben seinem eigen Trio ist Tobias Hoffmann mit der Formation Expressway Sketches aktiv, taucht als Gastmusiker immer mal wieder bei Shake Stew, Max Andrzejewski’s Hütte, dem Frederik Köster Quartett und dem Jan Philipp Trio auf, ist Mitbetreiber des Label-Kollektivs Klaeng, hat seit 2021 eine Professur für Jazz- & Pop-Gitarre und Ensemble an der Hochschule für Musik Trossingen inne und produziert auch noch jede Menge sehens- und hörenswerte Gitarren-Präsentationsvideos für den Händler Vintage Guitar Oldenburg – solo, nur mit Instrument, Amp und Looper. Tobias’ neues Album entstand in trauter Zweisamkeit mit dem o.g. Schlagzeuger und Keyboarder Jan Philipp, und er ist hier neben diversen Gitarren auch mit E-Bass, Keyboard, Banjo, Lapsteel und Percussion zu hören. ,Italy’ ist das erste Album, das Hoffmann nur mit eigenen Kompositionen und unter ausgiebiger Verwendung der Mehrspurtechnik realisiert hat. Die Aufnahmen entstanden in den vergangenen zweieinhalb Jahren in Jan Philipps Studio, und die Tracks verarbeiten dezent Kindheitserinnerungen an Italien-Urlaube. Das geschieht sehr undogmatisch und musikalisch extrem abwechslungsreich: Mal hört man eine etwas nörgelige Blues-Gitarre mit Manouche-Touch, dann den großartigen Marc Ribot als Inspiration, wilde Fuzz-Sounds, geschmackvolles Fingerpicking- und Pedalsteel-Spiel … eigentlich ist jeder der elf instrumentalen Album-Tracks von ,Italy‘ eine kleine, minimalistische Überraschung mit immer neuen Farben, Kontrasten, Sounds, Geräuschen. Großartig! lt

RATKO ZJACA: ARCHTOP AVENUE

Seit über 20 Jahren veröffentlicht der in Kroatien geborene und in den Niederlanden lebende und arbeitende Jazz-Gitarrist Ratko Zjaca Alben, deren musikalische Substanz und hochkarätige Besetzungen immer wieder begeistern. Er hat mit den John-Coltrane- und Miles-Davis-Begleitern Reggie Workman (b) und Al Foster (dr) das 2000 erschienene ,A Day in Manhattan‘ eingespielt, danach folgten Kooperationen mit John Patitucci (b), Steve Gadd (dr), Randy Brecker (tp/flh), Miroslav Vitous (b) und vielen anderen. Weitere regelmäßige Partner der letzten Jahre sind Akkordeonist Simone Zanchini, Drummer Adam Nussbaum und Kontrabassist Martin Gjakonovski im ZZ Quartet, mit Vibraphonist Vid Jamnik spielt Ratko Zjaca im Duo – und jetzt ist der Gitarrist auf „Archtop Avenue“ endlich mal solo zu erleben.
Der Titel lässt bereits vermuten, dass Zjaca ein Freund der großen, dickbauchigen Jazz-Gitarre mit gewölbter Decke (englisch: „arched top“ – davon leitet sich die Bezeichnung ab), und für Liebhaber dieses Instrumententyps ist „Archtop Avenue“ ein absolutes Fest: Im 20-seitigen CD-Booklet und auch im inneren Foldout-Cover der LP, die es in einer auf 999 Exemplare limitierten Auflage auch nummeriert und handsigniert gibt, sind alle verwendeten Instrumente abgebildet und genau beschrieben – zwölf Album-Tracks, zwölf legendäre Archtop-Gitarren.
„Das ist mein 17. Album, und mein Debüt in dieser intimsten Form der Sologitarre“, erzählt Ratko im Interview. „Solo-Gitarre zu spielen ist die anspruchsvollste Ausdrucksform auf dem Instrument, da man völlig musikalisch nackt ist und es niemanden gibt, hinter dem man sich verstecken kann oder der einem hilft. Auf der anderen Seite hat man enorme Freiheit für individuelle Ausdrucksmöglichkeiten. Aber man braucht große Disziplin und Konzentration für so ein Projekt.“
Das Tracklisting des neuen Albums spricht eine klare Sprache: „Body And Soul“, „Prelude To A Kiss“, „Lonnie’s Lament“, „Darn That Dream“, „Polka Dots And Moonbeams“ … – alle schon mal gehört. Mit „Way To Go“, „The Dream Of Tomorrow“ und „The Heart Of Time“ sind aber auch noch drei Originalkompositionen von Ratko Zjaca zu hören. Und vom ersten Ton an wird man eingenommen von diesem warmen Instrumental-Sound, trocken aufgenommen, ohne Hall oder Raumanteil. Und so hört sich die Aufnahme an, als würde einem der Künstler mit Gitarre und kleinem Verstärker direkt gegenüber sitzen und spielen. Das tut Zjaca auf sehr eigene Art, flicht Basstöne zwischen Akkorde und Melodien, er nutzt anscheinend alle Möglichkeiten die sich zwischen maximal sechsstimmigen Harmonien und Single-Note-Linien ergeben. Seine Rhythmik ist zurückgenommen, präzise aber nicht so marschierend wie bei manchen Solo-Einspielungen von Joe Pass; hier perlen Harmonien und Chord-Melody-Fragmente durch die Standards. Jim Hall hätte es gefallen, und sicher auch dem wesentlich freier und rougher agierenden Attila Zoller.
John Coltranes „Lonnie’s Lament“ zeigt dann eine ganz starke gitarristische Sprache im Arrangement des Themas, denn diese Interpretation ist wirklich sehr eigenständig und eigenwillig: Hier will der Gitarrist nicht primär virtuos beeindrucken, hier drückt er seine Gefühle für diese Komposition aus und soliert auch sehr straight ins Risiko. Dann knarzen, ganz im Gegensatz zum Piano, auf der Gitarre auch schon mal die Saiten und versprühen ein energetisches akustisches Eigenleben. Das muss man können!
Ratko Zjaca hat es gelernt. Nach Abschluss seiner Ausbildung am Rotterdamer Konservatorium, wo er Jazz-Gitarre, Komposition und auch klassische indische Musik studierte, schrieb er sich anschließend an der New Yorker University School of Music ein. Er besuchte außerdem Meisterkurse der Gitarristen Joe Pass, Jim Hall, Pat Metheny, Mike Stern, John Abercrombie, Mick Goodrick, des Posaunisten und Arrangeurs Bob Brookmeyer und des indischen Meisters der Bansuriflöte, Hariprasad Chaurasia.
„Dieses Jahr jährt sich auch die Veröffentlichung des Albums ,Joe Pass Virtuoso’ (1973) zum 50. Mal, und ,Archtop Avenue’ ist mein persönlicher Dank an Joe“, erzählt Ratko. „Ich habe viel über die Chord-Melody-Technik, Kontrapunkt, Repertoire und andere Dinge von ihm gelernt. Aber mir wurde bald klar, dass ich auch an meiner eigenen Spielweise arbeiten musste.“
Noch mal zurück zur Musik von ,Archtop Avenue’ und zu „Monk’s Dream“: Ich habe noch nie einen Gitarristen so atmosphärisch korrekt den faszinierend kantigen, leicht polternden Ansatz des Pianisten Thelonious Monk auf die sechs Saiten der Gitarre übertragen gehört. Ratko Zjacas Spiel ist ein Erlebnis! Seine Offenheit, Vielseitigkeit und spielerische Spontaneität als Improvisator und auch als Komponist sind ein seltener Glücksfall in der Gitarrenszene. Ein Musiker, den man entdecken sollte! Denn mit diesem Solo-Album hat sich Ratko Zjaca endgültig in die erste Liga gespielt, wo er im Schatten der ganz großen Namen leuchtet. lt / Jazzthetik

MARCUS KLOSSEK: BLINK6

Mit seinem Electric Trio hat der in Berlin lebende Gitarrist & Komponist in den vergangenen zehn Jahren fünf Alben veröffentlicht – mit teils sehr eigenwilliger Musik zwischen Jazz und Rock. Jetzt hat er die Besetzung mit Bassist Carsten Hein und Drummer Derek Scherzer um eine Horn-Section erweitert: Nikolaus Neuser (tp), Ignaz Dinné (ts) und Anke Lucks (tb). Blink 6 heißt das Album und das Projekt – und mit dieser Besetzung hat Marcus Klossek wirklich spannende und oft extrem swingende Musik eingespielt, die ein paar Takte weiter dann wieder in die Abstraktion gleitet und mit Atmosphären zwischen New-Orleans-Kollektiv-Improvisation, Free Feeling und Neuer Musik überrascht. Wobei Klosseks Gitarrenspiel – er gehört wie Ed Bickert, Bill Frisell und Jakob Bro zu den Telecaster-Spielern im Jazz – oft an den Pianisten Thelonious Monk erinnert, sehr kantig und ausdrucksstark rüberkommt, auch seine Arrangements haben eine eigene Handschrift – die immer wieder sogar Carla-Bley-Fans beglücken kann. Beste Inspiration! Viele kleine Details, wie der spezielle E-Bass-Sound, einzelne unbegleitete Solo-Spots aller Beteiligten, der dezente aber prägnante Einsatz von Gitarreneffekten und die originell gesetzten, sehr trocken aufgenommenen Bläsersätze, machen die Musik dieses Albums zu etwas ganz Besonderem. Neben dem Bandleader als Solisten und Harmonienleger fällt hier ganz besonders die wunderbare Posaunistin Anke Lucks auf, die der Musik eine intensive Wärme und Kraft gibt. Tolle Band. lt / G&B

FRANK ZAPPA: OVER-NITE SENSATION

Eine meiner absoluten Lieblingsplatten des genialen Bandleaders, Gitarristen, Komponisten und Menschen Frank Zappa, ,Over-Nite Sensation’ von 1973, steht jetzt als XXL-Genussmittel zur Verfügung. Zum runden Geburtstag erscheint die „50th Anniversary Edition“, ein Box-Set mit 4CDs und einer Blu-ray. Das Original-Album hatte bekanntlich sieben Songs, hier werden jetzt insgesamt 88 Tracks geliefert, davon 57 bisher unveröffentlicht. Neben dem Remaster des Original-Albums von Bob Ludwig aus dem Jahr 2012 und diversen Mixes und Outtakes auf den CDs 1 und 2 bietet die Box zwei weitere CDs mit 1973er Live-Konzertmitschnitten aus dem Hollywood Palladium in Los Angeles und der Cobo Hall in Detroit.
Nach dem jazzigen Fusion-Meisterwerk ,Waka/Jawaka’ (07/1972) und dem Nachfolger ,The Grand Wazoo’ (11/1972), wollte sich Zappa als Vokalist und alleiniger Gitarrensolist stärker featuren. Auf ,Over-Nite Sensation’ (09/1973) waren mit Keyboarder George Duke, Violinist Jean-Luc Ponty, Drummer Ralph Humphrey und Trompeter Sal Marquez interessanterweise vier Jazz-Musiker am Start, neben bewährtem Personal wie Ian & Ruth Underwood (perc) und den Fowler-Brüdern Bruce (tb) und Tom (b). Mit dieser LP und dem Nachfolger ,Apostrophe(‘)‘ (03/1974) – man beachte die zeitliche Dichte der Veröffentlichungen! – legte er mit einigen so eingängigen wie anspruchsvollen Songs den Grundstein für seine Mainstream-Pop-Karriere, die bekanntlich 1979 im Hit ,Bobby Brown’ gipfelte.
Highlight der aktuellen „50th Anniversary Edition“ ist die Blu-ray, mit der man das Original-Album in Hi-Res-Stereo, Dolby Atmos und 5.1-Surround-Sound genießen kann. Wer jetzt denkt, das sei nicht im Sinne des Künstlers gewesen, irrt: Zappas originaler 4-Kanal-Quadraphonic-Mix ist hier jetzt endlich auch abrufbar. Solche Experimente haben auch andere Künstler, z.B. Deep Purple damals gemacht; das Resultat konnte man aber wegen der technischen Voraussetzungen anfangs nur im Tonstudio genießen. Was kaum bekannt ist: Zappa veröffentlichte ,Over-Nite Sensation’ auch auf Mehrspur-Tonband und auf der nur in den USA verbreiteten 8-Track-Cassette, für die es Abspielgeräte mit Vierspur-Decoder, auch fürs Auto gab.
Zur Box gehört noch ein 48-seitiges Booklet mit unveröffentlichten Fotos vom Album-Cover-Shooting sowie Liner Notes und Infos. Auszüge dieser erweiterten Wiederveröffentlichung sind auch als 2- bzw. 3LP-Sets oder digital erhältlich.
,Over-Nite Sensation’ und ,Apostrophe(‚)‘ sind nach wie vor perfekte Alben, um in den Zappa-Kosmos einzusteigen. Zwei Meilensteine, die für sich stehen können, aber auch zur weiteren Beschäftigung mit komplexeren Werken des genialen Künstlers anregen können. Frank Zappa starb am 4. Dezember 1993, kurz vor seinem 53. Geburtstag. lt / G&B

EMMA RAWICZ: CHROMA

Sie ist eine britischen Saxophonistin, so jung wie das Jahrhundert, die nach ihrem Debüt ,Incantation’ (2022) jetzt beim Münchener Label ACT gelandet ist. Mit ihrem zweiten Album ,Chroma’ zeigt Emma Rawicz so einige Farben ihrer musikalischen Palette – und alle leuchten. Schon im siebenminütigen Opener ,Phlox’ fliegt einem eine Druckwelle entgegen, die sprachlos macht. Hier stellt sich auch die komplette, kompetent besetzte Band mit Solo-Spots vor, die wirklich begeistern können. Neben Pianist Ivo Neame und Drummer Asaf Sirkis sind es vor allem der grandiose E- und Kontrabassist Connor Chaplin und Gitarrist Ant Law, ein umwerfender Jazz-Rock-Solist, die hier für Staunen sorgen. Ich habe selten eine so energetische, musikalische, lebendige Transformation der Pre-Fusion-Idee „Jazz Rock“ in die Gegenwart erlebt. Das ohne Angeber-Gefrickel, Mathematiker-Metren oder Virtuosen-Wettbewerbe. Für zusätzliche Farben sorgt die Vokalistin Immy Churchill, und Bandleader Emma Rawicz ist neben dem Tenorsax auch noch mit Flöte und Bass-Klarinette zu hören. Aus der Londoner Szene heraus hat sie inzwischen die Insel erobert – und weiter geht’s! Noch was zum musikalischen Spektrum: Album-Tracks wie ,Xanadu II’ und ,Middle Ground’ haben schon sehr deutliche Jazz-Roots, die vom John Coltrane der frühen 1960er-Jahre genau so inspiriert zu sein scheinen, wie von den besten Aufnahmen von Chick Coreas Formation Return To Forever – ,Light As A Feather’ gehört dazu. Was für eine coole Band! lt / G&B

COLOGNE: COMMON SENSE

Er ist Gitarrist, Bassist, Produzent, Komponist, nach eigenen Angaben auch Erdbewohner, Band-Mitglied bei The KBCS, hat als Studiomusiker und Live-Begleiter in vielen Genres gearbeitet. Jetzt hat Lars Cölln mit „Common Sense“ sein zweites Soloalbum veröffentlicht: „Cologne“ lautet der Künstlername des in Berlin geborenen und aufgewachsenen Multiinstrumentalisten, der inzwischen in Hamburg lebt.
Angefangen hat Lars im Alter von acht Jahren mit dem Schlagzeugspielen, die Gitarre kam mit 13 dazu und irgendwann auch der E-Bass. Ab 2006 folgten die ersten professionellen Studio-Jobs mit der Band Mutabor, mit Culcha Candela, Flo Mega, Die Fantastischen Vier, Nneka, Pohlmann, Helene Fischer und Irie Révoltés. Die Liste seiner Verpflichtungen als Live-Musiker ist noch länger und ebenfalls sehr vielseitig: Unter anderem hat er in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten, neben einigen der bereits Genannten, auch Yvonne Catterfeld, Revolverheld, Malia, Thomas D, Fat Freddy’s Drop, Elif, Henning Wehland, Jesper Munk, Wolfgang Niedecken, Gunter Gabriel und Nelson Müller begleitet.
Mit seiner Band The KBCS, zu der Daniel Stritzke (b), Nicolas Börger (kb) und Lucas Kochbeck (dr) gehören, hat Lars Cölln neben den „Phô Sessions Vol. 1“ (2019) und „Color Box“ (2021) auch noch ein gemeinsames Album mit Fanta4-Rapper Thomas D veröffentlicht, „“M.A.R.S Sessions“ (2021), das große Aufmerksamkeit bekam. Im selben Jahr erschien mit „Episode I: Elevating Music“ auch Lars’ Solo-Debüt unter dem Namen Cologne: Zwölf eingängige instrumentale Tracks, viel akustische Gitarre, relaxte Grooves – ein sympathisches Album mit unexotischer Urlaubsstimmung. Im Juni 2022 stellte Cölln dann die Live-EP „Visions“ vor. Und die fünf Tracks, eingespielt mit Bassist Beat Halberschmidt, der sonst mit Marteria und Lychee Lassi aktiv ist, und BAP-Drummer Sönke Reich haben dann schon ein ganz anderes, elektrischeres Energie-Level und jazzrocken sehr intensiv und ideenreich.
Daran schließen die zehn Tracks von „Common Sense“ an, die aber im Studio entstanden sind und komplexer, farbenfroher und noch überraschender als die Trio-EP rüberkommen. Denn hier tanzt Lars Cölln ausgiebig zwischen den Stilen, wenn er eingängige Fusion-Sound mit sehr schönen Westcoast-Pop-Einflüssen, coolen HipHop-Drumbeats und modernem, jazzigen E-Gitarrenspiel verbindet. Insgesamt waren 15 Musikerinnen und Musiker an der Produktion beteiligt. Die Arrangements sind aber nie überladen, die Grooves immer klar und straight. Cologne sucht die Harmonie, die Schönheit, die Entspannung – und hat eine Musik produziert, in die man sich fallen lassen kann.
Der Künstler will aber mehr als nur unterhalten: „In Zeiten computerbasierter Musikproduktion möchte ich eine Lanze für echte, handgemachte Musik brechen, für Unperfektion, für Menschlichkeit. Für gemeinsames Musizieren. Für Risiken. Unsere Zeiten sind politisch und wirtschaftlich schwierig, zusätzlich sind wir gesellschaftlich einsamer geworden. Musik und Konzerte können das hoffentlich wieder ein wenig kitten.“
Dieser hohe Anspruch ist jedenfalls musikalisch und künstlerisch sehr niveauvoll verpackt, und Lars Cöllns Gitarrenspiel kann man eine sehr sympathische Mischung aus Coolness, geschmackvollen Sounds, spielerischer Ökonomie und effektivem Minimalismus bescheinigen. Er ist ein erfahrener Band-Player, der hier keine Sekunde Vehikel für egomane Solo-Trips kreiert sondern instrumentale Statements, Bilder, Farben, Stimmungen.
„Meine frühen Einflüssen kamen eher aus dem Rock“, erzählt Lars. „Die Seele von Jimi Hendrix, die Attitude von Slash, die politische, konsequente Spielweise von Tom Morello von Rage Against The Machine und die Riffs von Metallicas James Hetfield haben mich geprägt. Natürlich auch der Blues von Albert und den anderen Kings. Blues ist eh die Wurzel! Dann habe ich viel The Meters und James Brown gehört – denn ich stehe auf songdienliche, tasty Gitarren. Schließlich erschien einer auf meinem Radar, der das alles irgendwie vereint hat: John Mayer. Zuletzt habe ich aber auch viel John Scofield gehört und ohne Frage sind auch Wayne Krantz und Derek Trucks zu nennen. Und Kurt Rosenwinkel, der war und ist mind blowing.“
Und Lars Cölln spielt auch songdienlich. Eigentlich macht er aus den genialen, melodischen Solo-Spots, wie man sie in vielen klassischen Pop-Aufnahmen genießen konnte, kleine eingängige Gitarren-Songs. Mir fallen Steely Dan, Tower Of Power, The Crusaders ein, Soli von Larry Carlton, Robben Ford oder auch Michael Landau in den Backing-Bands von Joni Mitchell, James Taylor oder Vonda Shepard. Musik mit viel Ausstrahlung und dezenter Intensität – und irgendwie kommt da Liebe, zu dem was er macht, rüber: „Wenn ich Menschen inspirieren kann, den Weg des Herzens zu wählen, möchte ich das tun. Genial, wenn es allen Freude bereitet und Erfüllung schenkt! Ich bin dankbar für diesen Beruf.“ lt / Jazzthetik

Cologne? Kölle? Keine Angst: Karnevalsmusik oder Mundart-Rock aus der rheinländischen Metropole ist nicht so ganz sein Ding. Hinter dem Projektnamen verbirgt sich der Gitarrist, Bassist, Produzent, Komponist und Studiomusiker Lars Cölln, auch bekannt als Band-Mitglied von The KBCS. 2021 erschien mit ,Episode I: Elevating Music‘ Lars’ Solo-Debüt, es folgte noch die Live-EP ,Visions‘, und jetzt ist das Cologne-Album Nr. 2 da. Die instrumentale Musik spielt hier ausgiebig zwischen den Stilen, tangiert Fusion-Jazz und Westcoast-Pop, verbindet HipHop-Grooves mit erstklassigem, groovigem Gitarrenspiel. Lars Cölln spielt dabei songdienlich, kann immer mal wieder überraschen und man merkt, dass er von ganz unterschiedlicher Musik geprägt wurde. Wie man gute, instrumentale Songs schreibt, hat er dabei gelernt. Cologne lässt die Gitarre singen. lt / G&B

WOLFGANG MUTHSPIEL: DANCE OF THE ELDERS

Der österreichischer Gitarrist und Komponist Wolfgang Muthspiel hat seit 1985 eine Unmenge Alben veröffentlicht, u.a. mit seinem Bruder Christian, Gary Peacock, Paul Motian, Rebekka Bakken, Marc Johnson, Mick Goodrick, Ambrose Akinmusire, Brad Mehldau und Larry Grenadier. Auf seinem neuen Trio-Album ,Dance Of The Elders’ ist Muthspiel, wie schon auf ,Angular Blues’ (2020), wieder mit Kontrabassist Scott Colley und dem großartigen Drummer Brian Blade zu erleben. Die musikalische Welt dieses Gitarristen ist mir seit unserer ersten Begegnung 1998 extrem sympathisch, wirkt aber immer auch geheimnisvoll, eigenwillig und auch mal distanziert auf mich. Umso erstaunlicher, wie Wolfgang Muthspiels Musik trotzdem berühren kann – diese so spannende wie entspannte Intensität und Ausstrahlung hat er ohne Frage mit dem legendären Klangmaler Mick Goodrick gemeinsam. Muthspiel verbindet immer wieder dezent folkloristische Leichtigkeit mit klassischer Präzision, serviert in sphärischen ECM-Hallräumen. Zu den Fremdkompositionen des Albums gehört Joni Mitchells Klassiker „Amelia“ – eine Ballade, die sie 1976 auf ihrem Album „Hejira“ mit Larry Carlton und 1979 noch einmal live mit Pat Metheny und Jaco Pastorius für „Shadows & Light“ eingespielt hat. Wolfgang Muthspiels neue Version ist emotional ein Trip in ganz andere Welten, wobei Joni Mitchells sehr eigener eigener Stil, sich auf der Gitarre zu begleiten, hier manchmal durchschimmert. Schönes Geburtstagsgeschenk: Joni wird am 07. November 80 Jahre alt. lt / Jazzthetik


Er ist ganz sicher einer der eigenständigsten europäischen Gitarristen, ein großartiger Komponist und sensibler Band-Player. Der Österreicher Wolfgang Muthspiel (*1965) hat mit seinem neuen Trio-Album ,Dance Of The Elders’, gemeinsam mit Kontrabassist Scott Colley und Drummer Brian Blade, seinem Katalog ein weiteres Großwerk hinzugefügt. E- und Akustik-Gitarrist Muthspiels Musik verbindet für mich immer wieder eine Art von folkloristischer Leichtigkeit mit geradezu klassischer Präzision; sein Jazz-Ansatz ist absolut europäisch und harmoniert perfekt mit dem legendären Repertoire seines Labels ECM. Zu den Highlights dieses Albums gehört, neben den fünf großartigen Muthspiel-Originals eine der beiden Fremdkompositionen: Aus Joni Mitchells Klassiker ,Amelia’ macht dieses Trio sein ganz eigenes Ding … Gelungen! lt / G&B

KENNEDY ADMINISTRATION: SECOND TERM

Perlige Synthesizer-Klänge in einem großen Hallraum, dezente Percussion und eine Frauenstimme eröffnen dieses Album: „Hi, how are you?“, fragt Sängerin Kennedy im ersten Track und wünscht den Hörenden dann noch: „Have a good time!“ Die kann man mit diesem groovigen Pop-Album haben, das soulige Klänge, Oldschool R&B der 80er- und 90er-Jahre und bewährte Song-Strukturen liefert. „Second Term“ ist das zweite Studio-Album von Kennedy und Keyboarder/Produzent Ondre J Pivec, der ansonsten in der Band des Jazz-Sängers Gregory Porter aktiv ist. Er hat für Abwechslung gesorgt: So hört man zwischen den Studio-Tracks auch mal kurze Live-Sequenzen oder die Durchsage eines Airline-Piloten – bei der Masse an Retro-Sounds und teils programmierten Drums und Basslines, die dieses Party- Album durchfluten, vermutet man eine Propellermaschine. Trotzdem schaffen es die zehn Tracks, fünf Interludes plus Intro und Outro, das man sich immer wieder über kleine Arrangement-Überraschungen oder instrumentale Beiträge von Hammond-Player Pivec und seinen wechselnden Studio-Band-Besetzungen freuen kann. Darüber wirbelt Sängerin Kennedy mit dezent angerauter Stimme, so wie einst Anita Baker, Oleta Adams oder Toni Braxton, kann aber auch mal swingen und erinnert in „Everyday Thank You“ an die junge soulige Aretha Franklin. „File under: R&B contemporary“ lese ich mit leichtem Grinsen im Presse-Info. We’re living in the past … lt / Jazzthetik

JÖRG ENZ TRIO: SUNNY-SIDE UP

Jörg Enz, 1974 in Böblingen geboren, gehört zu den straight ahead swingenden Modern-Jazz-Gitarristen mit starkem Traditionsbezug. Nachdem er sich in den letzten Jahren auf die klassische Orgel-Trio-Besetzung konzentriert hatte, ist er auf seinem neuen Album mit dem in Deutschland lebenden amerikanischen Vibraphonisten Joe Kenney und dem griechischen Kontrabassisten Giorgos Antoniou zu hören – beide kompetente Band-Musiker und Solisten, die hier absolut überzeugen. Direkt beim ersten Stück, einem Enz-Original, wird man atmosphärisch etwas an das Modern Jazz Quartet erinnert – ein wirklich legendäres Ensemble, das musikalische Strenge und klassische Formen mit swingendem Jazz verschmolzen hat. Da liegt die Messlatte hoch, will man dem Trademark-Sound dieses Ensembles etwas Eigenes entgegensetzen. Jörg Enz tut das mit Repertoirekenntnis und Stilsicherheit, seine musikalische Sprache innerhalb des Genres hat Stil und Niveau. Dass bei seinem Trio kein Schlagzeug im Spiel ist, merkt man wirklich erst spät, denn diese drei Musiker grooven in ihrem Mix aus Eigenkompositionen und Standards auch so einwandfrei und sehr intensiv. lt / Jazzthetik

SLOWFOX 5: ATLAS

Eigentlich ist Slowfox eines der unzähligen Band-Projekte des Kölner Bassisten und Komponisten Sebastian Gramss – ein Trio, zu dem noch Saxophonist & Flötist Hayden Chisholm und Pianist & Moog-Spieler Philip Zoubek gehören. Die Formation besteht seit zehn Jahren und hat bereits drei Alben veröffentlicht: „The Wood“ (2013), das mit einem Echo-Award ausgezeichnete „Gentle Giants“ (2017) und „Freedom“ (2022), das für den Deutschen-Jazz-Preis in der Kategorie „Instrumental album of the year“ nominiert war. Seit Gründung tourte Slowfox in ganz Europa und einigen afrikanischen Ländern.
Zum runden Geburtstag präsentiert sich die Formation jetzt in erweiterter Besetzung: Bei Slowfox 5 sind noch Valentin Garvie (tp) und Martin De Lassaletta (b) mit im Boot. Das vierte Band-Album „Atlas“ widmet sich in 23, meist zwischen zwei und drei Minuten kurzen Tracks, „der klanglichen Vielfalt unserer Welt und erkundet in Quintett-Besetzung traditionelle Volksweisen aller fünf Kontinente als auch Klassiker u.a. von Don Cherry, Mulatu Astake und Caetano Veloso“, informiert das Presse-Info. Die Aufnahmen entstanden im Dezember 2022 im Rahmen einer Südamerika-Tour in Argentinien, im legendären Studio Espacio Aguaribay in Buenos Aires.
Die beiden musikalischen Gäste, der argentinische Trompetenvirtuose und Ensemble-Modern-Mitglied Valentin Garvie und der aus Patagonien stammende Kontrabassist Martin de Lassaleta erweitern das klangliche Spektrum des Slowfox-Trios erheblich – dessen Verzicht auf Schlagzeug oder Perkussion so noch weniger auffällt und in den komplexen, sehr dichten Klanggeweben der teils rhythmisch intensiven Tracks schlichtweg nicht auffällt. Noch eine dieser Aufnahmen, bei der man den nicht vorhandenen Drummer permanent spürt und schwören würde, ihn auch gehört zu haben …
Musikalisch geht die aktuelle Slowfox-Reise zwar durch die halbe Welt – „von einer argentinischen Miloga und Musik aus den Anden zum japanischen höfischen Musikstil Gagaku oder den sudanesischen Urtrompeten des Waza Ensemble bis hin zu tibetanischen Langhörnern, einer indischer Raga neben Gospel und Volksmusik aus Österreich, England und Neuseeland“. Aber dass diese Welt musikalische Querverbindungen ohne Ende aufweist, angefangen bei dem durch das Verbrechen der Sklaverei entstandenen afroamerikanischen Kulturkomplex, über den Einfluss der lateinamerikanischen und karibischen Kulturen auf den Jazz der 1950er- und 60er-Jahre, der Öffnung von Künstlern wie John Coltrane und Pharoah Sanders in Richtung Afrika und Asien und der neueren Ansätze von „World Music“, mit Don Cherry, Ed Blackwell, Naná Vasconcelos und Collin Walcott, die aus dem Free Jazz raus in die Welt gingen und den eurozentrischen Kulturbegriff in den 1970ern gewaltig relativierten. Wobei mir der Terminus „Weltmusik“ immer übelst aufstieß, weil da oft der Unterton „Rest-der-Welt-Musik“ mitschwang und er so undifferenziert und pauschalisierend klang wie die berüchtigten Volkshochschul-Angebote der Marke „Afrikanisches Trommeln“. So what? Call it Music!
Es hat sich viel getan, seit Trompeter Don Cherrys legendärem Auftritt bei den Donaueschinger Musiktagen 1971, bei dem sich seine Familie, die E-Musik, der zeitgenössische Jazz und der Rest der Welt auf einer Bühne trafen. Natürlich gab es seitdem auch jede Menge Musik, die sich mit Exotismen geschmückt hat. Aber es sind vor allem auch Generationen von ethnologisch interessierten Künstlerinnen und Künstlern herangewachsen, die fremde Kulturen studiert und neue, echte Verbindungen geknüpft haben.
Die fünf Künstler von Slowfox 5 haben seit Jahrzehnten die Welt bereist, den Kontakt und den Austausch gesucht und das ihnen Unbekannte erforscht. „Atlas“ ist so gesehen das Ergebnis vieler langer Expeditionen und zeigt künstlerische Offenheit und multikulturellen Respekt im besten Sinne. Track 1 des Albums, das überwiegend Interpretationen von Traditionals bietet, ist übrigens „Mopti“ von Don Cherry, erstmals eingespielt mit seiner Formation Old And New Dreams für das Album „Playing“ (1981). Jazz in Bewegung, in Entwicklung, war schon immer interkulturell, weltoffen und im allerbesten Sinne auch aneignend. Sebastian Gramss und seinem Projekt Slowfox 5 ist mit „Atlas“ eine weitere respektvolle Annäherung an einige musikalischen Kulturen dieser Welt gelungen.
Gramss war und ist aber auch noch mit einigen anderen Projekten unterwegs. Seine Website listet gleich mal 15 Programme und Ensembles, an denen der 1966 in Wilhelmshaven geboren Kontrabassist, Cellist und Komponist beteiligt ist. Der zweifache Echo-Preisträger, der auch als Hochschuldozent tätig ist, hatte 1993 mit Frank Wingold (g), Lömsch Lehmann (sax), Dirk-Peter Kölsch (dr) und Nils Wogram (tb) die Formation Underkarl gegründet. Als Instrumentalist und Komponist arbeitet Sebastian Gramss seitdem im Universum zwischen Jazz und der Neuen Musik. Neben einem Kontrabass-Duo mit Joëlle Léandre und dem 50-köpfigen Bass-Ensemble „Bassmasse“ konnte zuletzt sein Ensemble „Sebastian Gramss’ States Of Play“ mit dem Album „Meteors – Message To Outer Space“ (vorgestellt in Ausgabe 09-10/2023, S. 74) und dem ganz neuen Werk „Urschall: Repercussions“ überzeugen. Die Reise geht weiter. lt / Jazzthetik

Die Kölner Band Alpentines veröffentlichte am 27. Oktober 2023 ihr drittes Album ,Third Floor'

ALPENTINES: THIRD FLOOR

Gute Musik, die auch noch auf Tonträger erscheint, kann man nicht oft genug vorstellen. Und wenn es sich dabei auch noch um berührende, handgemachte und intelligente Musik mit Songs zwischen den Stilen handelt, führt daran überhaupt kein Weg vorbei. Es geht um ,Third Floor’, das dritte Album meiner Kölner Lieblings-Band Alpentines, die mich seit sechs Jahren regelmäßig beglücken. Und Kay Lehmkuhl (g/voc), Kurt Fuhrmann (dr/kb), Philipp Gosch (b) und Marian Menge (g) bleiben ihrem Sound, irgendwo zwischen eigenwilligem Alternative-Pop und Progressive-Rock, treu – mit Songs, die vor originellen Sounds und Arrangements nur so strotzen. Was machen Alpentines anders? Die Musik dieser Band hat eine gewisse Schwere, verbreitet aber keine Hoffnungslosigkeit sondern eher eine romantische Melancholie. Ich denke oft an David Bowie, der ganz sicher lächelt, wenn er, auf welchen Wegen auch immer, Alpentines zu hören bekommt. Durch die vielen instrumentalen Schichten, bei denen man oft nicht weiß, ob sie von Keyboards oder Gitarren stammen, erlebt man eine geradezu mystische Stimmung, die in viele Songs regelrecht reinzieht. Und wenn sich, so wie im zweiten Track ,Oceans’ noch eine akustische Arpeggio-Gitarre scheu darüber legt, entsteht eine ganz eigene Welt zwischen Traum und Bodenständigkeit. Kay Lehmkuhl ist ein auf sehr eigene Art sehr berührender Sänger, der seine Stücke als „in Songform gegossene Emotions-Experimente“ bezeichnet. Seine Stimme ist irgendwie dezent und präsent zugleich, gelegentlich sind die Vocals Raumeffekten behandelt, wurden aber, wie auch die Instrumentalisten, nie plakativ nach vorne gemischt. Die Art-Rock-Kreativität von Alpentines hat mit Progressive-Virtuositätsbeweisen anderer Acts gar nichts am Hut. Sie erinnert eher hier und da an 70s-Größen wie Kevin Ayers, Patto, Pink Floyd, UK, an Japan mit David Sylvian und Mick Karn – aber immer mit eigener Handschrift. Tracks wie das wunderbare ,Chico’ mit wirklich originellen Retro-Gitarren-Sounds, oder ,Ile Des Moines’ mit seiner Depeche-Mode-on-Prozac-Atmosphäre sind kleine Meisterwerke. Wer mit solchen Zutaten so genial kreativ und originell kochen kann, hat einen ganzen Sternenhimmel verdient! 
So, und jetzt ran an diese Delikatesse. Wir essen natürlich beim Erzeuger: www.alpentines.bandcamp.com lt

DOMINIK SCHÜRMANN ENSEMBLE: THE SEAGULL’S SERENADE

Den Schweizer Kontrabassisten Dominik Schürmann habe ich über sein Album ,Moons Ago’ Kennengelernt, das Anfang des Jahres erschienen ist. Jetzt hat er unter dem Namen DOMINIK SCHÜRMANN ENSEMBLE mit ,The Seagull’s Serenade‘ ein weiteres wirklich großartiges und extrem swingendes Werk am Start, bei dem neben dem Trio von Pianist Tilman Günther, Drummer Janis Jaunalksnis und Dominik Schürmann am Bass noch ein sieben- bis achtköpfiger Bläsersatz zu erleben ist. Die Kompositionen sind abwechslungsreich, drei Tracks mit der Sängerin Song Yi Jeon sorgen für eine dezent poppige Farbe. Mein Lieblings-Track heißt ,Bird Stories‘ und ist eine enorm pulsierende, Up-Tempo-BeBop-Nummer im BigBand-Format. Verblüffend ist, wie sich trotz sehr unterschiedlicher Tempi und Arrangements eine ganz eigene Stimmung durch dieses gut klingende Album zieht. Den Titel-Track gibt’s dann als Finale auch noch mal in einer berührenden Piano-Trio-Version. Gelungen!
Weitere Infos: https://www.dominikschuermann.ch

CHRISTINA LUX & OLIVER GEORGE: LIVE DELUXE

Schon bei den ersten Tönen dieses Live-Albums bin ich von dem raumfüllenden Sound der Aufnahme beeindruckt – und direkt anschließend von der musikalischen Opulenz: Das sollen nur zwei Menschen auf einer Bühne gespielt haben? Richtig, Sound-Mann Andreas Müller hat bei einem Konzert in der Kattwinkelschen Fabrik Wermelskirchen im April 2023 den Percussionisten, Gitarristen, Sänger & mehr, Oliver George, und Sängerin, Song-Schreiberin & Gitarristin Christina Lux aufgenommen. Jetzt liegen zwei CDs in einem schönen Digipak vor mir, geschmackvoll designt von Martin Huch, mit Fotos von Manfred Pollert und direkt bei den Erzeugern zu bestellen – über http://www.christinalux.de gibt’s dieses und andere Lux-Alben auch in digitalen Formaten.
Die Karriere dieser Musikerin verfolge ich schon ein Vierteljahrhundert: ,She Is Me’ (1998) hieß ihre Debüt-EP, es folgte das Album ,Little Luxuries’ (1999), irgendwann wechselte sie zur deutschen Sprache, und Christina konnte auch mit dieser neuen Farbe überzeugen. Sie ist eine originelle Künstlerin, deren Kompositionen sich irgendwo zwischen Folk, Jazz, Pop, klassischer Singer/Songwriter-Kunst und Chanson in Klangkunst verwandeln, unterstützt von ihrem markanten, so originellen wie perfekt songdienlichen Gitarrenspiel. Immer wieder beeindruckend! lt

JOHN SCOFIELD TRIO: UNCLE JOHN’S BAND

John Scofield Trios haben eine lange Tradition: Sein 1978 veröffentlichtes Debüt ,John Scofield’ (später wiederveröffentlicht als ,East Meets West’) entstand, mit Ausnahme zweier Tracks mit Trompeter Terumasa Hino, in Dreierbesetzung, ebenso ,Bar Talk’ (1980) mit Adam Nussbaum (dr) und Steve Swallow (b). Und dann folgten 1981 mit ,Out Like A Light’ und ,Shinola’ auf dem Münchener Label Enja zwei weitere legendäre Einspielungen dieses Dream-Teams. Mit Swallow blieb Scofield immer in Verbindung: 2020 erschienen die wunderbaren ,Swallow Tales’, diesmal mit Drummer Bill Stewart. Davor hatte sich dieses Trio bereits 2004 zur Live-Einspielung von ,EnRoute’ gefunden.
Und jetzt hat der 71-jährige Innovator der bluesigen Bop- und Sco-Gitarre mit ,Uncle John’s Band’ ein weiteres Album im bewährten Format veröffentlicht – diesmal in Begleitung von Kontrabassist Vicente Archer und Drummer Bill Stewart. Das Album wurde bereits vor über einem Jahr, im August 2022 im Clubhouse Studio in Rhinebeck, New York, aufgenommen. Gleich mit den ersten von Gitarre und Looper im Rückwärtsmodus kreierten Exotik-Klängen im dezent ironisch servierten Süß-sauer-Sound zaubert mir John S. ein Lächeln ins Gesicht, das schnell zu einem breiten Grinsen mutiert, als sich das Instrumental als ,Mr. Tambourine Man’ zu erkennen gibt, dem melodischen The-Byrds-Klassiker, der eigentlich eine Bob-Dylan-Komposition ist. Dylan hat bekanntlich primär eigene Texte zur Gitarrenbegleitung rezitiert und kaum mal gesungen. Mit diesem Wissen spielen sich Scofield, Archer & Stewart ganz locker durch die Hippie-Hymne und lassen sie countryesk aufblühen – mit einem sehr schludrigen Ende, das his Bobness gewidmet sein könnte. Knallhart kontrastiert wird der Klassiker mit dem boppenden Scofield-Original ,How Deep’, in dem der Gitarrist seinen Qualitäten als kreativer bis unberechenbarer Improvisator freien Lauf lässt. Nach dem soulig-groovigen ,TV Band’ und dem folkigen ,Back In Time’ wirkt Miles Davis’ ,Birth Of The Cool’-Klassiker ,Budo’ geradezu kantig avantgardistisch, ,Mask’ schwingt dann wieder sehr cool zwischen Miles und The Temptations, und ,Stairway To The Stars’ klingt wie eine echte Liebeserklärung an Jim Hall …
Ich könnte jetzt noch 123 Zeilen lang über die folgenden neun weiteren Tracks referieren, jeden als kleine Überraschung bezeichnen und dann zu dem Fazit kommen, dass John Scofield auch mit ,Uncle John’s Band’ (übrigens benannt nach einem Grateful-Dead-Song) wieder mal ein spannendes Trio-Album mit echter Live-Power gelungen ist. Erwähnen muss ich noch Scofields berührende Version von Neil Youngs ,Harvest’-Klassiker ,Old Man’. Als der Song rauskam, war John 20, Student am Berklee College of Music in Boston und hatte u.a. Unterricht bei Mick Goodrick und Gary Burton. Scofields Interpretation verdeutlicht einmal mehr sein „open minded crossover concept“ (kann mir das bitte mal jemand übersetzen?) – in seiner Musik treffen sich Welten, Farben, Klänge und deren Begegnung triumphiert absolut über Stilschubladen, Gitarren-Sound-Erwartungen und Genre-Klischees. „Ich habe das Gefühl, dass wir überall hingehen können“, wird der Meister im Info zur CD zitiert; die erscheint am 13. Oktober 2023, die Vinyl-Doppel-LP drei Wochen später. Ich bin gespannt auf die kommenden Konzerte. lt / G&B


Trios mag er: Sein 1978 veröffentlichtes Debüt „John Scofield“ (später wiederveröffentlicht als „East Meets West“) entstand mit Ausnahme zweier Tracks in Dreierbesetzung, ebenso „Bar Talk“ (1980) mit Adam Nussbaum (dr) und Steve Swallow (b). Und dann folgten 1981 mit „Out Like A Light“ und „Shinola“ zwei weitere legendäre Einspielungen dieses Dream-Teams. Mit Swallow blieb Scofield immer in Verbindung: 2020 erschienen die wunderbaren „Swallow Tales“, diesmal mit Drummer Bill Stewart. Davor hatte sich dieses Trio bereits 2004 zur Live-Einspielung von „EnRoute“ gefunden.

Und jetzt hat der 71-jährige Gitarrist & Grenzgänger zwischen BeBop, Blues, Country und Pop also ein weiteres Album im bewährten Format veröffentlicht – diesmal in Begleitung von Kontrabassist Vicente Archer und Drummer Bill Stewart. Scofield hat die Doppel-CD „Uncle John’s Band“ nach einem Grateful-Dead-Song betitelt, und sein Mix aus sieben Eigenkompositionen und ebenso vielen Klassikern wie „Mr. Tambourine Man“, bekannt von Bob Dylan und The Byrds, Neil Youngs „Old Man“, Leonard Bernsteins „Somewhere“ und Miles Davis’ visionärem „Birth Of The Cool“-Klassiker „Budo“ ist absolut gelungen. Im kantigen „Budo“ zeigt sich Scofields unglaubliches Improvisationstalent in voller Blüte. Faszinierend, wie seine Linien fließen, wie eigenwillig er swingt und wie frei er agiert. Der Meister kann aber auch gerührt zurückblicken auf seine Wurzeln: „Stairway To The Stars“ klingt wie eine wunderbare Liebeserklärung an Jim Hall. Was für ein Spektrum! Ein großartiges Gitarren-Album.  lt / Jazzthetik

TORSTEN GOODS: SOUL SEARCHING

Er ist ein absolut großartiger Jazz-Gitarrist, macht seit Jahren einen tollen Job in der Live-Band von Sarah Connor, und er stand schon mit George Benson auf der Bühne: In einem Youtube-Video von 2019 sieht man, dass Benson innerhalb von zwei Minuten zum Goods-Fan wird. Sieben Solo-Alben hat der 1980 in Düsseldorf geborene Musiker seit 2001 veröffentlicht, und auch seine Nummer 8, ,Soul Searching’, zeigt wieder mal, dass Torsten Goods mehr ist, als nur ein extrem groovender und virtuoser Gitarrist: Seine Kompositionen sind einfach großartige, soulige Pop-Jazz-Nummern, sein Gesang hat Stil, seine Stimme Wiedererkennungswert. Und dann die Gitarrensoli! Goods’ Singlenote-Lines haben so einen extremen Fluss, sein Sound ist so rund und organisch, seine Scat-Vocals kommen so locker, dass man ganz schnell merkt: Er liebt diese Art von Musik. Und damit sind wir wieder bei George Benson, dem man bei aller, immer wieder zu hörenden Kritik an seinen Pop-Alben der 1980er-Jahre, stets bescheinigen musste, dass er auch die größten Schnulzen einfach genialer rüberbrachte als alle anderen. Torsten Goods ist gitarristisch wie stilistisch in einem ähnlich Terrain unterwegs – das auf höchstem Niveau und auch er kommt absolut authentisch rüber. Dieser Musiker hat ein unglaubliches Feeling! Goods war Schüler von Peter O’Mara, besuchte Workshops von Jim Hall und John Scofield und nahm Unterricht bei Biréli Lagrène. 2001 ging Torsten nach New York, mit einem Stipendium für die renommierte New School University, wo er bei Jack Wilkins und Vic Juris studierte. Damals traf er auch zum ersten Mal sein Idol George Benson, und er hatte einen Auftritt mit Les Paul, der ihm vorschlug, seinen germanischen Nachnamen Gutknecht in Goods umzuwandeln … Leider ist hier kein Platz für noch mehr Facts & Stories über diesen tollen Musiker, dessen neues Album vor genialen Gitarrensoli, gut gelaunter Retro-Sommermusik und hochkarätigen musikalischen Gästen nur so strotzt. Entdecken! lt

ALI CLAUDI 🥀 * 17.10.1942 + 12.10.2023 Mach’s gut, lieber Ali!

ALI CLAUDI: SPIEL JA NICHT SO LAUT. GITARRENGESCHICHTEN.

Ein Hörbuch auf zwei CDs hat der Gitarrist & Sänger Ali Claudi produziert, einer der Pioniere der elektrischen Jazz-Gitarre in Deutschland, der außerdem Experte für Archtops ist und schon jede Menge Instrumente bekannter Kollegen optimiert hat. 1942 geboren hat der seit 1960 aktive Jazz- und Blues-Musiker aus Düsseldorf natürlich eine Menge zu erzählen. Claudi geht chronologisch vor, berichtet von seiner Kindheit, den ersten Berührungen mit der Musik, Klavierunterricht und dem Weg zur Gitarre. 1964 gründete er mit dem Pianisten Leo von Knobelsdorff die Boogie Woogie Company, spielte 1969 auf den Berliner Jazztagen und anderen großen Festivals, arbeitete von 1969 bis 1973 mit der Krautrock-Band Gomorrha zusammen und begleitete Größen wie Bill Coleman, Big Joe Turner, Jimmy Woode, Eddie Boyd, Booker Ervin, Stu Martin, Dusko Goykovich, Wilton Gaynair, Kurt Edelhagen und Sal Nistico. In seinen 60 aktiven Jahren kam er auf mehr als 6000 Konzerte und hat auch einige eigene Alben eingespielt.

Ali Claudi erzählt aber hier auch eine Menge über seine Instrumente, verschiedene Gitarren, Verstärker, Effektgeräte, über Spieltechniken, Tunings und das Thema Üben. „Gitarrengeschichten“ ist der Untertitel dieses autobiographischen Hörbuchs, bei dem man sich nach ein paar Minuten fühlt, als säße man bei Ali Claudi am Küchentisch, Tasse Kaffee, und Ali erzählt. Er bezeichnet die Doppel-CD als „ein Hörbuch für Gitarristen-Kollegen, andere Musiker und normale Menschen“. Der Mann hat Stil, Humor und kommt so normal wie sympathisch rüber. Und dass er ein großartiger und eigenwilliger Gitarrist ist, hört man in den vier Musik-Tracks dieses Hörbuchs, die Lust auf mehr machen. Ein interessanter Mensch und Musiker – und nach zwei Stunden Hörbuch irgendwie so was wie ein guter Bekannter den man mag. Absolut sympathisch! Weitere Infos: http://www.aliclaudi.de
[Timezone Records, timezone-records.shop, 2CDs, ca. 120 min., Preis ca. € 16] lt

KRAAN: PORTA WESTFALICA 1975

1975? Ja, die bis heute aktive Band um Gitarrist Peter Wolbrandt, Drummer Jan Fride und Bassist Hellmut Hattler gibt es schon etwas länger – bereits 1970 wurde Kraan gegründet. Und aus dem Trio wurde dann mit Saxophonist Johannes Pappert ein Quartett, 1975 stieß dann auch noch Karthago-Keyboarder Ingo Bischof zur Band. Diese Besetzung hatte in Porta Westfalica einen ihrer ersten Auftritte – und der Mitschnitt liegt jetzt erstmals, klanglich überarbeitet, auf CD vor. Die liefert ein sehr dynamisches, gut klingendes Live-Dokument mit stimmungsvollen Ansagen aus einer anderen Zeit. „Das war gerade eins unserer neuesten Stücke und hat noch keinen Namen“, ist Hattler zu hören. Mit ,Holiday am Marterhorn’, ,Andy Nogger’ und ,Kraan Arabia’ waren aber auch ein paar 70s-Hits der Band im Repertoire. Kraan sind hier als extremes Energiepaket zu erleben, die einen zeitlos rockenden, psychedelischen, funky instrumentalen Krautrock zelebrieren, der durch ein paar fragmentarische Vocals immer wieder ganz eigenwillige Spannung aufbaut. Kraan waren und sind eine tolle Band – und für Fans ist dieses Album ein Muss. lt

BÄNZ OESTER & THE RAINMAKERS: GRATITUDE

Als John-Coltrane-Fan ist man schon nach den ersten Minuten dieses großartigen Albums fasziniert und berührt. Denn was Bassist & Bandleader Bänz Oester und Tenorsaxophonist Javier Vercher gemeinsam mit Pianist Afrika Mkhize und Drummer Ayanda Sikade hier zaubern, hat eine unglaubliche Energie und knüpft an die ganz eigene Spiritualität des legendären Coltrane Quartet mit McCoy Tyner (p), Jimmy Garrison (b) und Elvin Jones (dr) an. Bänz Oester trägt diese Formation oft mit nur wenigen tiefen Tönen, um sie dann über seinen schweren Riffs und pulsierenden Linien fliegen zu lassen. Ein wirklich beeindruckender Kontrabassist! Die Live-Aufnahmen von 2022 zeigen eine extrem gut eingespielte Band mit packenden Solisten, und hier schwingt auch der zeitgenössische afrikanische Jazz mit seinen eigenen Traditionsbezügen mit. Dieses Album macht ohne Frage Lust auf mehr: Infos, Videos und Live-Termine gibt’s unter www.baenzoester.com und www.rainmakers.info lt

SOOÄÄR / YARALYAN / OUNASKARI: ZULA

Unglaublich, wie viel Musik der estonische Gitarrist Jaak Sooäär bereits seit 1995 veröffentlicht hat. Für mich war sein Name neu, als ich 2018 sein Album ,A Shooting Star’ für mich entdeckte – und jetzt höre ich seine neue Trio-CD ,Zula’, wieder mit Kontrabassist Ara Yaralyan und Drummer Markku Ounaskari. Sooäär ist einer der meistbeschäftigten Jazz-Musiker der spannenden baltischen Szene. Im Jahr 2004 war Jaak außerdem einer der Gründer der Estnischen Jazz Union, er unterrichtet Gitarre und Ensemble an der Jazz-Abteilung der Estnischen Akademie für Musik und Theater, seit 2010 mit Professur.
Und Jaak Sooäär ist ein eigenwilliger Gitarrist: Seine Sounds, seine Voicings, Arrangements, Kompositionen – das klingt alles sehr speziell. Bei folkloristischen Anklängen und akustischen Sounds denkt man an Ralph Towner, bei derberen Attacken und schrägen Riffs wie in ,Always Alive’ auch schon mal kurz an James Blood Ulmer. Aber meist hat Sooäär die künstlerische Ruhe weg und zaubert feine Stimmungen über den tiefen Basstönen und der sensiblen Besenarbeit seiner beiden Mitmusiker. In sensiblen Momenten kann er auch schon mal ein bisschen nach Volker Kriegel klingen, mit dem ihn die stilistische Offenheit verbindet. Klassische Musik, ethnische Bezüge, Jazz-Sounds, eingängige Melodien – und alle Brüche, die man mit Hilfe dieser Bausteine erzeugen kann: ,Zula’ ist ein wunderbar entspanntes Album, immer mit ein bisschen Melancholie. lt

MENGAMO TRIO: CHAT BIZARRE

Als großer Fan der Tony Williams Lifetime, insbesondere der Besetzung mit Larry Young und John McLaughlin, rennt das Kölner Mengamo-Trio bei mir offene Türen ein. Denn Philipp Brämswig (g), Sebastian Scobel (org) und Thomas Sauerborn (dr) haben ein absolutes Feeling für die Nahtstellen von Jazz und Rock, für freie Spielweisen und energetische Sounds, verpackt in schlüssigen Arrangements. Jazz war immer schon ein Crossover-Phänomen, insbesondere wenn er spannend rüberkam. Seit über zehn Jahren spielt dieses Trio jetzt schon zusammen – und überrascht immer wieder. Zum Beispiel mit Track 2 dieses neuen Albums, einem ,Song For George’, gewidmet dem genialen Kollegen von John, Paul und Ringo. Hier klingt Philipp Brämswig in seinem Solo dann aber nicht etwa nach George Harrison, sondern eher ein wenig nach Allan Holdsworth, biegt in Richtung Clapton ab um dann mit dem hymnischen Ton von John McLaughlin den balladesken Track entspannt zu beenden. Das muss man erst mal hinkriegen!
An anderer Stelle klingt dieses Trio dann dezent nach Progressive, konstruiert vertrackte Riffs und Licks, um anschließend nach manchem sehr konzentrierten Thema virtuos durchzustarten. Philipp Brämswig ist oft mit verzerrten E-Gitarren-Sound zu hören, Sebastian Scobel kontrastiert mit tollen Hammond-Flächen – und Drummer Thomas Sauerborn kann extrem abrocken, dann aber auch mal dezent nur mit tiefen Drum-Sounds ein paar Akzente setzen. Aufgenommen wurde ,Chat Bizarre’ übrigens überwiegend live mit Stereo-Mikrofonierung – und es klingt großartig. Das hat ja auch schon bei Charlie Parker und Miles Davis funktioniert.
Am besten kommt das Mengamo-Trio in den jazzrockigen Momenten rüber, denn dann kocht es extrem. So wie in ,Critical Mass’ – um dann im nachfolgenden ,Thin Curtain Of Drops’ ganz abstrakt und düster abzudriften … Abwechslungsreich und spannend! lt

CHARLIE WATTS: ANTHOLOGY

Dass dieser Musiker seine Kunst liebte, war jahrzehntelang unübersehbar und unüberhörbar. Rolling-Stones-Drummer Charlie Watts hat aber auch immer den Jazz geliebt und in seiner Freizeit so einiges produziert, was extrem swingt. Die kürzlich erschienene ,Anthology’ kommt als sehr schönes kleines Hardcover-Buch im DigiPak-Format, geschmackvoll gestaltet, mit Fotos und einem einführenden Text von Paul Sexton. Und mit zwei CDs, die 27 Tracks liefern, drei davon bisher unveröffentlicht. Musikalisch läuft bei den hier zu hörenden BeBop- und Swing-Standards alles auf höchstem Niveau ab – man erlebt einige wirklich sehr packende Solisten. Das kompetente Presse-Info verrät: Vom Quartett bis zur BigBand sind hier verschiedene Besetzungen zu hören, mit Musikern wie dem Bassisten Dave Green, den Saxophonisten Peter King, Evan Parker und Courtney Pine, Trompeter Gerard Presencer, Drummer Jim Keltner und Sänger Bernard Fowler. Was wirklich nicht schön ist: Kein einziger Künstler und auch kein Verweis auf die originalen, zwischen 1986 und 2004 erschienenen Solo-Alben, von denen diese Musik stammt, wird im Booklet der CDs genannt. Charlie Watts (*1941 +2021) muss sich nicht mehr darüber ärgern. Davon mal abgesehen: Toller Sound und großartige Musik, von und mit einem Drummer, der auf sehr eigene Art Zurückhaltung mit immenser Swing-Energie kombinieren konnte. lt

SEBASTIAN GRAMSS’ STATES OF PLAY: METEORS – MESSAGE TO OUTER SPACE

Sebastian Gramss (*1966), zweifacher Echo-Award-Preisträger in der Kategorie Kontrabass, ist Jazz-Musiker, Hochschul-Dozent, schreibt Film- und Schauspielmusiken und hat mich schon vor knapp dreißig Jahren mit der grenzgängerischen Formation Underkarl begeistert. Grenzgänger ist er geblieben. Zur Kernbesetzung seiner Band States of Play gehören Shannon Barnett (tb), Hayden Chisholm (sax), Philip Zoubek (p/synth), Christian Lorenzen (e-p/synth) und Dominik Mahnig (dr). Direkt im ersten Track geht die Sonne auf im darken „Meteors“-Soundspace – und Posaunistin Shannon Barnetts kraftvolle Linien lassen kurz Erinnerungen an Terje Rypdals Meisterwerk „Odyssey“ aufkommen. Überhaupt ist die orchestrale Kraft, die klangliche Breite und die rhythmische Raffinesse dieses Ensembles vom ersten Ton an verblüffend. Man wird immer wieder überrascht, sei es von abstrakten Sounds, die einen ins Klanggeschehen hineinziehen, oder von einer unerwarteten Spoken-Word-Passage, die eine dezent unheimliche Psycho-Atmosphäre zaubert. Und kurz darauf wird’s wieder ganz jazzig, wobei Drummer Dominik Mahnigs großartige Grooves – mal minimalistisch, mal wie das bizarre Netz einer Spinne auf Marschierpulver gestrickt – immer wieder für höchste Spannung sorgen. Mit dem sehr schön designten 2LP-Set dieses Albums kommt man in den Genuss von 26 Stücken! Und schon in wenigen Wochen gibt’s mehr zu berichten aus dem Kosmos des Sebastian Gramss … lt

ERKIN CAVUS & REENTKO DIRKS: ÜTOPYA

2021 blickten die beiden Gitarristen & Komponisten mit „Istanbul 1900“ in die Vergangenheit der Metropole zwischen Europa und Asien. „Ütopya“ wagt einen Blick ins Jahr 2053, und Erkin Cavus und Reentko Dirks lassen sich von ihrer Hoffnung tragen, dass die Stadt am Bosporus lebenswerter, sozialer, ruhiger und der Natur und Kultur verbunden, ihren Bewohnern und Besuchern zurückgegeben wird. Ihr neues Album könnte man als Soundtrack einer gewagten Vision verstehen – diese Musik hat aber schon mal den großen Vorteil, jetzt real da zu sein und zu bleiben. Natürlich wird man beim Hören der zehn Tracks, zu denen teilweise Gastmusiker Piano, Strings, Percussion und elektronische Sounds beisteuerten, immer wieder an den utopischen Kontext erinnert, aber ich höre hier absolut keinen naiven Optimismus sondern immer auch etwas Tristesse, Zweifel, Unsicherheit – Gefühle, die zur aktuellen Situation der Stadt Istanbul auf ihrem langen Weg absolut nachvollziehbar sind. Die Musik von „Ütopya“ erlebe ich daher eher als Reise in eine hoffentlich gute Zukunft. Ein sensibles Album, musikalisch irgendwo zwischen Acoustic-Fingerstyle, ethnischen Einflüssen und folkigem Jazz schwebend – und diese schönen kleinen Freiheiten, diese Farben, diese Wärme werden irgendwann auch wieder in diese wunderbare Stadt zurück finden. Hoffentlich noch vor 2053. lt

GREG LAMY / FLAVIO BOLTRO: LETTING GO

Greg Lamy, geboren 1974 in New Orleans, hat am Berklee College of Music in Boston Jazz-Gitarre studiert, er lebt heute in Luxembourg und Paris. Mit dem italienischen Trompeter Flavio Boltro hat er schon die drei Alben „Meeting“ (2013), „Press Enter“ (2017) und „Observe The Silence“ (2021) eingespielt – bei Kooperation Nr. 4 werden die beiden von Kontrabassist Gautier Laurent und Schlagzeuger Jean-Marc Robin begleitet. Sechs der zehn Kompositionen des neuen Albums „Letting Go“ stammen von Lamy, drei von Boltro, die einzige Fremdkomposition stammt von dem 2015 verstorbenen italienischen Blues-Gitarristen und Sänger Pino Daniele, der afroamerikanische und mediterrane Musikkultur zusammenführte. Auch Greg Lamy gehört zu den Gitarristen, die stilistische Offenheit lieben, und so treffen in seiner Musik immer wieder jazzige Harmonien und fließende Linien auf hallige Effekt-Sounds, die auch schon mal rockig zerren – wie in Flavio Boltros Komposition „Onirica“, einem der Highlights dieses Albums. Berührend und mit einem wunderbaren Bass-Solo kommt Lamys „Daddy & Daughter“ rüber, eine Ballade die von Kontrabassist Gautier Laurent getragen wird, einem extrem einfühlsamen Begleiter, dessen musikalische Qualitäten sich beim Hören ganz allmählich immer klarer erschließen. Und dann das wunderbar eigenwillige Intro von „IKB 3“, nur Greg und seine E-Gitarre im Hallraum, die dann von Bass und Drums in einen extrem spannenden Track gezogen werden. Dieses Album will entdeckt werden. lt

VOLKER KRIEGEL: WITH A LITTLE HELP FROM MY FRIENDS 

Der Gitarrist Volker Kriegel (*1943 +2003) gehörte zu den wichtigsten europäischen Musikern zwischen Jazz und Rock. 1963 Jahren wurde sein Trio beim Deutschen Amateur-Jazz-Festival in Düsseldorf ausgezeichnet, und Kriegel wurde danach als Live-Sideman und Studio-Gitarrist u.a. von Ingfried Hoffmann, Klaus Doldinger, Emil Mangelsdorffs und Rolf & Joachim Kühn verpflichtet. 1968 erschien dann sein erstes Solo-Album „With A Little Help Fom My Friends“. Seine Begleiter waren einmal Peter Trunk (b) und Cees See (dr); die auf der B-Seite dieser Vinyl-Wiederveröffentlichung zu hörende spannendere Quartett-Besetzung bestand neben Kriegel aus Günter Lenz (b), Peter Baumeister (dr) und Claudio Szenkar am Vibraphon. Produzenten dieses Debüts waren übrigens Klaus Doldinger und Siegfried E. Loch – da konnte nicht viel schief gehen, zumal der talentierte junge Gitarrist neben dem Titel-Track noch eine weitere Beatles-Nummer im Repertoire hatte. Diesen hippen Crossover-Weg war bekanntlich auch Wes Montgomery ein Jahr zuvor gegangen. Kriegels gitarristische Sprache war schon damals eine eigene, und immer wieder erlebt man in seinen Soli Licks, Lines und Atmosphären, die auch in den folgenden Dekaden seine Musik prägten. Vier Bonus-Tracks mit Live-Aufnahmen vom 11. Jazz Festival Frankfurt 1968 runden diese Neuauflage ab.
Volker Kriegel war übrigens auch Autor, Grafiker und Karikaturist: Ihm ist eine sehr sehenswerte Ausstellung im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover gewidmet, die wiederum auch den Musiker Kriegel auf einer ganzen Etage präsentiert. lt

MIKE KENEALLY: THE THING THAT KNOWLEDGE CAN’T EAT

Der amerikanische Gitarrist, Sänger und Multiinstrumentalist Mike Keneally (*1961) wurde bekannt, als Mitglied von Frank Zappas 1988er Live-Band – seiner letzten. Er hatte den legendären Bandleader damit überzeugt, dass er  jede Menge Zappa-Kompositionen auf der Gitarre und auf dem Keyboard beherrschte. Ab 1993, nach Zappas Tod  arbeitete Keneally u.a. mit dessen Söhnen Dweezil und Ahmet  zusammen, produzierte bis heute über zwanzig eigene Alben und war auf mindestens so vielen Einspielungen als Gast zu hören. Keneally ist ein absolut virtuoser Gitarrist, gleichzeitig aber auch ein Fan guter Arrangements, progressiver Klangbilder und beatle-esker Melodien – die Komplexität seiner hier und da auch an Zappa erinnernden Kompositionen kommt aber immer mit einer melodischen Leichtigkeit daher, bleibt transparent und zugängig.

Auf seinem neuen Album , The Thing That Knowledge Can’t Eat’ zeigt er in neun Tracks sein ganzes Spektrum: Mal hört man ihn solo, sich selbst via Multitracking mit Bass, Piano, Gitarre und „Fake-Drums“ begleitend, dann in diversen Line-ups, von der rockigen Trio-Besetzung bis zur jazzigen Mini-BigBand. Da tauchen Musikernamen wie Steve Vai und Pieter Tiehuis (g), Bryan Beller und Pete Griffin (b) oder Nick D’Virgilio (dr) auf – oft hat sich Multiinstrumentalist Keneally als Sänger, Gitarrist, Bassist, Keyboarder und Programmierer aber einfach nur von einem Drummer seiner Wahl aushelfen lassen. Wobei das musikalische wie klangliche Resultat unglaublich lebendig und organisch klingt, wie z.B. im wunderbaren ,Big Hit Song’ und ,The Carousel Of Progress’. Das Instrumental ,Ack’ hat er dem Ende 2021 verstorbenen niederländischen Jazz-Trompeter und -Flügelhornisten Ack van Rooyen gewidmet.

Rock, Prog, mal jazzig, mal dezent an Beatles, Zappa oder Bowie erinnernd, immer beeindruckend. Multitracking kann eben auch nach einer echten Band klingen, wenn man’s drauf hat  – zuletzt erlebt bei Bassist Claus Fischers genialem Debüt-Album ,Downland’. Mike Keneally ist einfach ein großartiger Musiker, Komponist, Produzent – und ein Künstler der ganz spürbar liebt, was er tut. Das kommt rüber. Thank you, man! lt

JULIA KADEL TRIO: POWERFUL VULNERABILITY

Die 1986 in Berlin geborene Pianistin, Sängerin und Komponistin Juli Kadel ist auf ihrem neuen Album mit dem amerikanischen Schlagzeuger Devin Gray (*1983) und der deutsch-griechischen Kontrabassistin Athina Kontou (*1978) zu erleben – und ,Powerful Vulnerability’ ist ein Erlebnis, eine Reise durch Klanglandschaften und Energie-Level. Zeitgenössischer Jazz mit Überraschungen, wie einem eigenwilligen, zerbrechlichen Gesangs-Track inmitten instrumentaler Musik, mit fließenden, kaum auszumachenden Übergängen zwischen Komposition und Improvisation, einem oft minimalistischen Piano-Einsatz zu kaum hörbarem Schlagzeug – dazwischen Athina Kontous tiefe, warme Linien, extrem ausdrucksstark und einfühlsam zugleich – ihr Solo-Debüt mit der Formation Mother, „Tzivaeri“, war eines der europäischen Jazz-Highlights 2022. Das Julia Kadel Trio ist in dieser Besetzung ein künstlerischer Glücksfall, denn sie hat der in den vergangenen Jahren wieder sehr präsenten Jazz-Formation Piano/Bass/Drums ein paar Fenster geöffnet. Um zu atmen, zu schweben und mal wieder rauszufliegen. Jazz! Julia Kadels musikalische Freiheit und Intensität kommt leise und geht ganz schön unter die Haut. Stark. lt

RAAB / VAN ENDERT / TORTILLIER: HOPE & GRATITUDE

Die Karriere von Gitarrist Philipp van Endert (*1969) verfolge ich seit vielen Jahren, und immer wieder überrascht und überzeugt der Düsseldorfer Jazz-Musiker mit neuen Produktionen. Mal unter eigenem Namen, wie zuletzt mit dem orchestralen Album ,Moon Balloon’, eingespielt mit dem Filmorchester Babelsberg, mal als Teil eines Ensembles, wie im Fall dieser neuen Aufnahme mit Flügelhornist Lorenz Raab (*1975) und Vibraphonist Franck Tortiller (*1963), die auf van Enderts Label JazzSick-Records erschienen ist: ,Hope & Gratitude’ transportiert ruhigen, transparenten Jazz, Musik, die im besten Sinne schön und entspannend wirkt, dann aber immer wieder auch Spannung aufbaut und es in manchem solistischen Beitrag doch ganz schön knistern lässt. Diese Fähigkeit zeichnet gute Solisten aus, mit denen wir es hier unzweifelhaft zu tun haben. Gitarrist Philipp van Endert ist mit klarem, warmem Ton zu hören, setzt nur dezent Effekte ein und seine geschmackvolle Begleitung und Interaktion, insbesondere mit Vibraphonist Franck Tortiller in der Van-Endert-Kompositionen „Mrs. Blueberry“ ist großartig und berührend. Ebenso seine sehr geschmackvolle, minimalistische  Auslegung des Jimi-Hendrix-Hits ,Little Wing’, der sich hier mit wunderbarem Flow in das sonstige Repertoire von Originals der drei Musiker einfügt. Die waren übrigens schon wieder im Studio – ein Nachfolger dieses gelungenen Albums wird kommen. lt

STEPHANIE WAGNER & NORBERT DÖMLING: FLUTE ‘N‘ BASS

Ein dreimal wiederholtes Querflötenmotiv, dann setzt der Kontrabass ein – kurzer Break, und anschließend geht es virtuos ab: Dafür sorgen Stephanie Wagner und Norbert Dömling auf ihrem Duo-Album ,Flute ’n’ Bass’! Beide Instrumente stehen sich im Klangbild sehr direkt gegenüber, ein Oben und Unten, das man bei dieser Kombination erwarten könnte, gibt’s hier nicht. Dafür aber Überraschungen wie die wenig später folgende Percussion-Einlage, wobei auch hier nur Flöte und Kontrabass, aber mit ungewohnter Klangerzeugung, zu hören sind. Und ein paar Tracks weiter klingt dieses Duo dann auch mal klassisch-impressionistisch und lässt es trotzdem swingen. Keine Frage, Stephanie Wagner & Norbert Dömling holen eine Menge aus ihren Instrumenten heraus, und sie kommunizieren und interagieren auf hohem Niveau. „Flute ’n‘ Bass“ heißt auch ihr Duo, das seit Ende 2019 besteht. Beide sind erfahrene Musiker: Stephanie Wagner studierte klassische und Jazz-Querflöte an der Musikhochschule Mainz und am Berklee College of Music in Boston. Sie ist auf diesem Album mit C-, Alt-und Bassflöte zu hören. Kontrabassist Norbert Dömling, Jahrgang 1952, begann seine Musikerlaufbahn 1973 in der Kraut-Jazz-Rock-Formation „Missus Beastly“ – und Crossover-Projekten, also musikalischen Begegnungen, ist er treu geblieben. Als Live- und Studio-Bassist arbeitete er mit Bands wie Toto Blanke’s Electric Circus, Xhol, Embryo, mit den Gitarristen Ali Neander, Juraj Galan, Biréli Lagrène, John Stowell und mit legendären Jazz-Musikern wie Billy Cobham, Jasper van’t Hof, Trilok Gurtu, Stu Goldberg, Joachim Kühn, Charlie Mariano und Toots Thielemans. 2023 erhielt Dömling den Darmstädter Musikpreis. Dömlings Basslinien tragen die Musik dieses Albums, sein instrumentales Ausdrucksspektrum ist immer wieder überraschend und seine organische Verbindung bzw. Überleitung von Begleit-Pattern in solistische Passagen ist einzigartig. Denn selbst in Lead-Spots gibt er der Musik noch Halt und Struktur. Gemeinsam mit Stephanie Wagner ist ihm ein groovendes, berührendes Album mit anspruchsvollen eigenen Kompositionen gelungen. Kontakt: www.flute-and-bass.de lt

JAKOB MANZ: GROOVE CONNECTION

Pop-Jazz, Fusion, Funk, Krimi-Soundtrack, Cover-Versionen … das ist ja mal eine Mischung! ,Groove Connection’ ist schon das dritte Album des 22-jährigen Saxophonisten und Flötisten. Schon mit 15 Jahren absolvierte er das Jungstudium Jazz & Pop an der Musikhochschule Stuttgart, seit 2019 ist er an der Hochschule für Musik und Tanz Köln für  „Jazz und Pop Saxophon“ eingeschrieben. Das klingt nach einem echten Überzeugungstäter – und überzeugt hat er anscheinend auch einige bekannte Kollegen: Roberto Di Gioia (kb), Karin Hammar (tb), Bruno Müller (g), Tim Lefebvre (b) und Per Lindvall (dr) sind u.a. auf ,Groove Connection’ zu erleben, in einem Track ist Gastgitarrist Nguyên Lê im Rock-Einsatz zu hören. Die funky Gitarren-Parts und geschmackvollen Soli stammen von Bruno Müller (Café Du Sport, Mezzoforte, Heavytones, Till Brönner, Blank & Jones, WDR BigBand, Federation Of The Groove), der es auch hier wieder schafft, einen eigenen Sound und Originalität mit Band-Dienlichkeit zu kombinieren. Und den amerikanischen Bassisten Tim Lefebvre (David Bowie, Elvis Costello, Sting, John Mayer, Tedeschi Trucks Band) muss man alleine schon wegen seines Intros zu ,Jazz Is A Spirit’ lieben, wo er mit coolem 70s-Flatwound-Sound dieses abwechslungsreiche Album eröffnet. Könner! lt

A Guide To Afrokraut III

AFROKRAUT: A GUIDE TO AFROKRAUT III

Das Ding groovt! Und das gelingt dem Projekt von Bassist & Multiinstrumentalist David Nesselhauf (*1980) seit dem ,Afrokraut’-Debüt von 2016; zwei Jahre später folgte ,The Lowbrow Manifesto’. Der Hamburger Arzt und Musiker war seitdem auch in Bands wie Hamburg Spinners, The Drawbars, Diazpora und Angels Of Libra zu erleben und hat diverse Tonträger veröffentlicht. Mit ,A Guide To Afrokraut III’ beendet er nun den Trip durch krautige Grooves, Funk, Afro-Beat und frühe elektronische Musik. Dass er die Musik von Can liebt, hört man auch diesmal wieder, wobei David Nesselhauf da den verrückt-verspielten Ansatz von Can-Bassist und Klanggestalter Holger Czukay geerbt hat, der eher weltoffen als krautrockig rüberkommt. Er hat bis auf die Drums (hier haben Lucas Kochbeck und Julian Gutjahr ausgeholfen) alles selbst eingespielt – Bass, Gitarren, Orgel, Synths, Melodica – hat Drum-Machines programmiert und auch ein paar Vocals beigesteuert; nur im letzten Album-Track ist Gastsänger Axel Feige zu hören. Neben Davids fundamentalem Bass, der drückt, groovt und trägt, sind auch seine anderen instrumentalen Zutaten absolut überzeugend, schräg arrangiert, eigenwillig gemixt. Das hat Stil und ist bei aller Nerdigkeit absolut sympathisch, einladend, tanzbar – Musik aus dem Leben, sofern man dieses nicht hinter zeitgeistigen PC-Jägerzäunen oder in In/Out-Zwangsjacken verbringt. Und das erinnert dann wirklich wieder an Can, die wunderbare Band aus Köln: Ich empfehle Michael P. Austs Film-Dokumentation „Can and Me“ über Can-Keyboarder Irmin Schmidt – und ich empfehle alle drei Afrokraut-Alben, erhältlich beim Erzeuger: afrokraut.bandcamp.com/album/afrokraut
Letzte Frage: Soll das wirklich das Ende sein, David? Überleg’s dir noch mal! Afrokraut forever! lt

CHRISTIAN ECKERT & STEFFEN WEBER: WERKSTATTDUETTE

Duo-Aufnahmen sind immer Überraschungspakete. Im Idealfall hört man mehr als nur zwei Instrumentalisten, denn wenn Kommunikation, Interaktion, Improvisation und Feeling stimmen, dann kann diese zweisame Besetzung große Räume füllen. Im Fall der ,Werkstattduette’ des Weinheimer Gitarristen Christian Eckert (*1965) und seines musikalischen Partners, des Saxophonisten Steffen Weber (*1975), ist diese musikalische Dialogform absolut gelungen. Das fängt an bei der guten Aufnahme, die weitestgehend auf künstliche Raum-Sounds verzichtet und sich trocken jedem Abhörraum anpasst. Und da sitzt man dann direkt vor den beiden Musikern und spürt das Tenorsaxophon regelrecht, während die Gitarre mal begleitend den Raum füllt oder sich bei Solo-Spots dezent nach vorne bewegt. „Bei den schnelleren Stücken spiele ich eine Semiacoustic von Stefan Schottmüller, bei den getragenen Stücken eine Plankenhorn-Archtop, jeweils über einen Fender Deluxe Reverb“, erzählt Eckert, der als Gitarrist, Musikelektroniker, Komponist, Arrangeur, Pädagoge und Produzent tätig ist. Mit Steffen Weber, der seit 2012 Mitglied der hr-Bigband ist und außerdem als Dozent für Jazz-Saxophon an der Musikhochschule Mainz arbeitet, spielt er schon lange zusammen, auch in anderen Besetzungen als dieser. Für die Werkstattduette haben sich die Beiden als Basis Jazz-Standards vorgenommen und diese rekomponiert, uminterpretiert, quasi kreativ und analog „remixed“. Mich überzeugt an diesem Album der wunderbar unberechenbare gitarristische Ansatz von Christian Eckert, der mal nur ein paar Basstöne legt, sie dann mit sparsamen Voicings garniert um dann auch mal fast pianistisch in die Vollen zu gehen. Aber selbst dann bleibt er cool, erfüllt seine tragende Funktion und überrascht immer wieder mit kleinen Licks und Fragmenten, die gelegentlich an Attila Zoller und Jimmy Raney erinnern. Ein großartiger Gitarrist der hier einen ebenso beeindruckenden Duo-Partner auf gleicher Wellenlänge gefunden hat. Respekt! Die CD gibt’s beim Künstler: christianeckert.bandcamp.com lt

PIETER DOUMA & DORKUS MAXIMUS: MONK IN THE CRACKS

PIETER DOUMA & DORKUS MAXIMUS: MONK IN THE CRACKS

Den niederländischen Bassisten Pieter Douma (*1956) habe ich zum ersten Mal Anfang der 1990er-Jahre gehört, als er mit der Funk-Rock-Band Blowbeat das Album ,Chainsaw Melodies’ (1993) veröffentlichte. Danach hat er u.a. mit Mike Keneally, Jan Akkerman, Dr. John und Guy Forsyth gearbeitet. Weiter ging es in Richtung Jazz und Douma unterrichtete auch an verschiedenen Hochschulen, u.a. am Konservatorium von Arnhem (ab 1993). Sein neues Album ,Monk In The Cracks’ hat er mit seiner Band Dorkus Maximus live eingespielt: Rocco Romano (g), André Groen & Alan ‚Gunga‘ Purves (dr), Frank Nielander (sax), Douma selbst bedient neben seinem E-Bass und der Baritone-Bass-Guitar auch noch einen Prophet5-Synth. Alle Kompositionen dieses Albums stammen vom legendären Jazz-Pianisten Thelonious Monk (*1917 +1982), eine, wirklich eigenwilligen Interpreten und Komponisten, der kantige, bluesige Klavierstücke swingen ließ. Pieter Doumas Arrangements von Monk-Klassikern wie ,Evidence’, ,Ruby My Dear’, ,Brilliant Corners’ u.a. versuchen ganz und garnicht, Monks Stil zu reproduzieren. Er hat sich auf seinen Geist konzentriert und lässt die wunderbaren Ideen des weirden Thelonious schweben. Dabei passiert musikalisch stilistisch dann so einiges, und oft weiß man nicht, ob gerade Jazz-Rock, R&B, cooler Ambient-Sound oder nervöser No-Wave-Funk-Jazz das Sagen hat. Sehr schön sind auch die unbegleiteten Solo-Spots von Bassist Douma. Ohne Frage ist das eine Musik, die wirklich den Geist des Jazz atmet, weil sie weltoffen, unberechenbar und individuell ist. War ich bei den ersten Tracks noch etwas ratlos, so hat die B-Seite der Vinyl-LP im Klappcover mich zum Fan gemacht. Und danach klappte es auch mit der A-Seite von ,Monk In The Cracks’. Thelonious hebt übrigens gerade den Daumen, während seine linke Hand Doumas Basslines doppelt. Mehr Anerkennung geht nicht. Cooles Projekt! lt

FRANK ZAPPA: MUDD CLUB / MUNICH

FRANK ZAPPA: MUDD CLUB / MUNICH & FUNKY NOTHINGNESS  

Zappa ohne Ende: Erst vor einigen Monaten erschien mit ,Zappa 80: Mudd Club / Munich’ ein 3CD-Set (auch auf insgesamt 5 LPs erhältlich) mit Live-Aufnahmen zweier bisher unveröffentlichten Konzerte von Frank Zappas 1980er Band, einmal aus dem winzigen Mudd Club in New York City und aus der Münchener Olympiahalle. Beide Konzerte liegen erstmals komplett vor, und präsentieren in extrem unterschiedlicher Atmosphäre die Sänger Ike Willis und Ray White, Bassist Arthur Barrow, Keyboarder Tommy Mars und David Logeman am Schlagzeug. Beide Shows wurden stereo mitgeschnitten und sind für Fans eine dezent roughe Ergänzung zum später erschienenen Live-Album ,Tinsel Town Rebellion’.

FRANK ZAPPA: FUNKY NOTHINGNESS  

Ende Juni erschienen dann unter dem Titel ,Funky Nothingness’ Aufnahmen, die laut Pressetext als „mögliche Fortsetzung des Albums ,Hot Rats’ geplant waren“. ,Hot Rats’ (1969) war (nach ,Lumpy Gravy’ von 1967) Frank Zappas zweites Solo-Album – ohne die Mothers Of Invention. Instrumentaler Jazz-Rock ist hier zu hören, nicht ohne Blues- und R&B-Bezüge, aber auch nicht ohne etwas avantgardistische Verspieltheit. Die Aufnahmen aus dieser Phase entstanden im Record Plant Studio in Los Angeles, wo Zappa im Februar und März 1970 mit Ian Underwood (kb, sax, g), dem Geiger Don „Sugarcane“ Harris, Bassist Max Bennett und Drummer Aynsley Dunbar „stundenlange Originalkompositionen, inspirierte Covers und ausgedehnte Improvisationen“ zwischen Rock, Jazz und dem Rest der Welt einspielte. Joe Travers und Ahmet Zappa haben aus diesem Material ein 11-Track-Album zusammengestellt, eine erweiterte 3CD-Deluxe-Edition liefert noch Outtakes, Alternate- und Rough-Mixe etc. – insgesamt 25 Tracks mit knapp dreieinhalb Stunden Musik. Für Hardcore-Zappa-Fans ganz sicher ein extrem spannendes Erlebnis. Ob dieses Material insgesamt das Niveau der regulären 20 Studio-Alben und drei Live-LPs erreicht, die alleine zwischen 1966 und ’76 erschienen sind, muss jede(r) selbst entscheiden. Gitarristisch beeindruckt der Meister ohne Frage mit jedem Ton. lt

JULIA KADEL TRIO: POWERFUL VULNERABILITY

Für ihr viertes Trio-Album nach „Im Vertrauen“ (2014), „Über und Unter“ (2016) und „Kaskaden“ (2019) hat sich die 1986 in Berlin-Kreuzberg geborene Pianistin, Sängerin und Komponistin Julia Kadel neu ausgerichtet: Seit drei Jahren arbeitet sie jetzt mit dem amerikanischen Schlagzeuger Devin Gray (*1983). „Wir haben eine Session zusammen gespielt und ich war tief beeindruckt von seiner Sensibilität, beim Zuhören und in seinem Spiel“, erinnert sich Julia Kadel. „Devin hat meine Stücke sofort verinnerlicht und verfügt zudem über eine große Vielfalt an Sounds.“ Und seit 2022 gehört die deutsch-griechische Kontrabassistin Athina Kontou (*1978) zum Trio – sie hat sich in Saxophonistin Luise Volkmanns Formation Été Large und vor allem im vergangenen Jahr mit dem beeindruckenden Debüt ihrer Formation Mother, „Tzivaeri“, als ausdrucksstarke und sensible Instrumentalistin im europäischen Jazz-Leben etabliert. „Wir treffen uns auf mehreren Ebenen, musikalisch, politisch – uns verbindet ein bestimmter gemeinsamer Spirit“, meint Julia Kadel.   

Und so wie Athina Kontous tiefe, runde Töne diese Musik tragen, ihr kraftvoll Halt geben, so überrascht Drummer Devin Gray immer wieder mit nervösen kleinen, teils geräuschhaften Snare-Beiträgen und auch kraftvollem Crash-Becken-Einsatz – und strahlt trotzdem eine Entspanntheit und Coolness aus, die die fein gegliederten, fast kristallinen Piano-Sequenzen von Julia Kadel sowohl kontrastieren als auch tragen, befördern, wachsen lassen.

Der wunderbar unaufgeregte, trockene Sound von „Powerful Vulnerability“ lässt absolut auf die musikalische Sprache konzentrieren: Hier erlebt man jeden Pianoton, spürt die fundamentalen Bass-Sounds und wird in manche Schlagzeug-Frickelei im besten Sinne, regelrecht hineingezogen. Und wenn in Album-Track 8, ,Distant Liebe’ dann auch noch Julia Kadels Stimme ins Spiel kommt, fast zu leise, fast verdeckt und verdrängt von ihren eigenen, immer lauter werdenden Piano-Arpeggios, aber trotzdem mit einer bedrückenden Intensität – dann versteht man diesen Album-Titel einmal mehr. 

Das aktuelle Album endet fast überraschend und sehr zurückgenommen. Und während ich nach den letzten Piano-Klängen die Stille nach „Powerful Vulnerability“ genieße, wird meine neu gewonnene Ruhe nach Minuten noch mal belohnt …  „Verletzlichkeit ist ein Schlüssel zu mehr Stärke“, meint Julia Kadel. „Ich wünsche mir noch mehr Räume, in denen sich Menschen verletzlich zeigen können.“ Die CD kommt im sehr geschmackvoll designten DigiPak mit Mini-Poster – und klingt hervorragend.lt

VLADI NOWAKOWSKI & RICH SCHWAB: FOLKER HÖRT DIE SIGNALE. DER ERSTE FOLKER SCHMITTEM-ROMAN 

Nein, das ist keine CD, keine LP oder MC, auch kein Tonband und kein Live-Konzert. Aber auch ein Buch kann einen guten Sound haben, überzeugen wie ein gelungenes Album – und manchmal kann ein Buch, wie im Fall von „Folker hört die Signale“, sogar ein bisschen grooven. Kein Wunder, denn die beiden Autoren sind auch Musiker: Vladi Nowakowski (*1962) und Rich Schwab (*1949) kennen die Szene, haben ihre Erfahrungen mit Kneipen und Krimis gemacht und die Fachtermini „Kaschämm“, „Klüngel“ und „Korn“ sind für sie keine Fremdworte: Jetzt haben die beiden lebenserfahrenen Herren gemeinsam einen Roman geschrieben, der vor Ironie und Sprachwitz fast platzt und ein einziger Lesespaß ist, sofern man sich auf das rheinländisch-orientalische Szenario einlassen kann und nicht mit einer Kölsch- und/oder Koks-Allergie belastet ist.

Zum Plot – und hier erdreiste ich mich, die auf den Punkt geschriebene Inhaltsangabe der Autoren zu zitieren, die keinen Rezensenten-Remix benötigt: „Köln: Irgendwas ist ja immer. Im ungewöhnlich warmen Frühjahr 2019 sorgt Schuggermän für den Schnee, das türkische Schutzgeld-Business hat ein deutsches Problem, ein Trupp Nazis will das Trinkwasser vergiften, und den zuständigen Mann beim Verfassungsschutz plagt ausgerechnet jetzt eine tiefe Sinnkrise. Der Musiker Folker wird mitten in eine Geschichte um Gift, Koks, Erpressung und verdeckte Ermittler hineingezogen. Das Dumme ist: Folker hat nur einen Schlag. Und zwar bei Frauen. Ohne Taifun, Jupp, Sansibar und die anderen kommt er da nie wieder heil raus. Ihm selbst bleibt am Ende nur eine Waffe …“ 

Ja, so kann’s gehen – und es geht noch spannend weiter, wobei die Herren Schmittem, Schwab und Nowakowski vor allem die Lacher auf ihrer Seite haben werden. Dass hier, meist augenzwinkernd, jede Menge Klischees bedient werden, beweist die Szene-Kenntnis der Autoren, die ganz offensichtlich so einige Weltmeister und Kleindarsteller des Kölner Nachtlebens studiert haben. Es soll doch tatsächlich Musiker mit Humor geben, und (nicht nur) für die ist dieser 336 Seiten dicke Roman beste Unterhaltung.

Wer die beiden Autoren im Interview erleben möchte, klickt hier.

In dem Zusammenhang noch ein Tipp zum Weiterlesen und -hören: Rich Schwabs legendärer, 1992 veröffentlichtes Roman-Debüt „Nie wieder Apfelkorn – der erste Büb-Klütsch-Roman“ ist immer noch Kult, und sein bisher letztes Werk, entstanden in Kooperation mit dem Gitarristen Gerti Beracz ,The Little While: Do What You Love’, ist ein wirklich hörenswertes Stück intelligenter Rock-Musik. lt

Dittrich Verlag / Velbrück GmbH Bücher und Medien, April 2023; ISBN-10: 3910732011; ISBN-13: 978-3910732018; Preis ca. 16,90

MESHELL NDEGEOCELLO: THE OMNICHORD REAL BOOK

Die am 29. August 1968 als Michelle Johnson in Berlin geborene amerikanische Multiinstrumentalistin und Komponistin Meshell Ndegeocello ist seit ihrem Debüt-Album ,Plantation Lullabies’ für Überraschungen zwischen den Stilen gut. Das erschien 1993, und seitdem ist in der Welt zwischen Funk, Neo-Soul, HipHop, Jazz, Afro-Pop und Reggae eine Menge passiert. Der E-Bass ist ihr Hauptinstrument, außerdem spielt Meshell Gitarre und Keyboards – und sie singt eigenwillig: oft hört man eher ein melodisches Sprechen, irgendwo zwischen Rap und Rezitation. Ihre Arrangements des neuen Werks, fünf Jahre nach dem Cover-Album ,Ventriloquism’ (2018), sind bunt, oft collagenartig, mixen Samples und Handarbeit, eigenwillig durchbrochene funky Licks und abstrakte Sounds. Zu den zahlreichen Musikerinnen und Musikern, die an dieser Produktion beteiligt waren, gehören u.a. Jeff Parker (g), Joan As Police Woman (voc), Jason Moran (p), Ambrose Akinmusire (tp) und Mark Guiliana (dr), die alle aber nur in einzelnen Tracks auftauchen. Meshell Ndegeocello veröffentlicht mit ,The Omnichord Real Book’ erstmals auf dem Traditions-Jazz-Label Blue Note, und ihre eigenwillige Musik hatte schon immer die Open-Mindedness, die den Jazz hundert Jahre lang in alle Richtungen hat wachsen lassen, so wie er sich auch überall bedient hat.  

„Darin findet sich etwas von mir, von meinen Reisen, meinem Leben“, erzählt Meshell. „Meine erste Platte habe ich mit 22 gemacht, seitdem sind über 30 Jahre vergangen, ich habe also eine Menge Erfahrungen, die ich teilen kann.“ Eine beeindruckende Musikerin, berührende Sängerin und großartige Bassistin: Wer sie jetzt erst entdeckt, kann sich auch noch auf ihre über zehn zurückliegenden Alben freuen – alles extrem spannende Meisterinnenwerke. lt

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Ist das nicht unglaublich? Drei Jahrzehnte sind vergangen, seit die damals 25-jährige amerikanische Bassistin und Sängerin Meshell Ndegeocello mit ihrem Debüt-Album „Plantation Lullabies“ die Welt zwischen Jazz, Pop, HipHop und Experiment irritierte – und extrem bereicherte. Circa zehn Alben hat sie seitdem veröffentlicht und war dabei eigentlich jedes Mal für eigenwillige Überraschungen gut. Denn die Ausdruckswelten der in Berlin geborenen Multiinstrumentalistin und Komponistin ermöglichen immer wieder spannende Trips ins Ungewisse. Fünf Jahre nach ihrem letzten Cover-Album ,Ventriloquism’ (2018) hat Meshell Ndegeocello diesmal Musikerinnen und Musiker eingeladen, die diese Produktion noch bunter gestalten, darunter der von Tortoise bekannte E-Gitarrist Jeff Parker, die wunderbare Sängerin Joan Wasser aka

Joan As Police Woman, Pianist Jason Moran, Trompeter Ambrose Akinmusire und Drummer Mark Guiliana. Deren Beiträge bereichern einzelne Album-Tracks enorm. Und dann diese wunderbaren, oft durchbrochenen Basslines und die zugleich präsente und zurückhaltende Stimme, mit einem Mix aus Gesang und Rezitation: Meshell Ndegeocello ist ein absolutes Original. „The Omnichord Real Book“ erscheint auf dem amerikanischen Traditions-Label Blue Note, und Ndegeocellos lebendiger Mix aus HipHop,Funk, Neo-Soul, etwas Afro-Pop und ein bisschen Reggae beweist ganz klar: Der open minded Jazz ist lebendiger denn je.


Lothar Trampert in Jazzthetik 07-08/2023

PAT METHENY: DREAM BOX

Sehr besinnlich, dezent traurig und bewährt Metheny-folky startet dieses neue Album des legendären Jazz-Gitarristen, der seit seinem Debüt ,Bright Size Life’ (1976) und dem nachfolgenden Meisterwerk ,Watercolors’ (1977) die Gitarristenwelt verändert hat. Seinen Sound hat man damals auch in Pop-Produktionen gehört, und etwas Pop-Flair hatte auch die Musik der Pat Metheny Group gelegentlich. Aber er konnte auch straighten Trio-Jazz, Ethno-Monumental-Sound und avantgardistischen Noise-Rock: Pat Methenys Größe besteht auch darin, dass er macht, was er will. Bis heute, mehr als 50 Alben und 20 Grammys später, ist sein Gesamtwerk von Vielfalt gezeichnet. Und so liefert uns Metheny (*1954) im Jahr 2023 in seiner ,Dream Box’ kammermusikalische Solo-Stücke, bei denen er via Multitracking mit mehreren Gitarren zu hören ist. Mit zarten Instrumentals, irgendwo zwischen mediterraner Folklore, Jazz, New Age und anderer Schwebemusik. Und selbst in etwas seichten Momenten beneidet man diesen Gitarristen um seinen Ton, seine Kontrolle, seine Variabilität im Attack und seine einzigartige Dynamik und musikalische Dramaturgie.

Wenn eine Ikone der Jazz-Gitarre einem etwas weniger bekannteren Kollegen ein Stück widmet, ist das ein Zeichen von Größe. Und Pat Methenys Komposition „P.C. Of Belgium“ ist ein Dankeschön an den wunderbaren Philip Catherine, dessen warme, lyrische Linien doch so einige Instrumentalisten geprägt haben. Wärme, Ökonomie, Ausdruck und ein bisschen Tristesse prägen auch dieses neue Metheny-Album.

Drei der neun Album-Tracks sind Fremdkompositionen, darunter Luiz Bonfas ,Morning Of The Carnival’, bekannter als ,Black Orpheus’, das in dieser Interpretation etwas in Cocktailhafte abgleitet – Methenys eigene Kompositionen haben mehr Tiefgang und unaufdringlichere Intensität: Bei jedem Original ist die ganz eigene Intensität dieses Musikers zu erleben, eines Gitarristen, der jeden Ton formt, ihn geradezu dreidimensional ausgestaltet und mit großem Gespür für Dynamik im oft tiefen Hallraum installiert. Das kann er! Die Standards ,Never Was Love‘ von Russ Long und  der Styne/Cahn-Klassiker .I Fall In Love Too Easily‘ fügen sich da ganz wunderbar ein.

Bei der Produktion waren die folgenden Gitarren im Einsatz: einen Prototypen seines Ibanez-Signature-Modells (da kommt also demnächst was Neues), eine Gibson ES-350 von 1947,  eine Manzer Baritone, eine 1959er D’Angelico Excel und eine „1976 Zoller AZ-10“ – letztere Angabe im Booklet kann so nicht stimmen, denn die Attila-Zoller-Modelle, bei denen „Zoller“ auf der Kopfplatte stand, hießen nicht wie die Framus-Modelle „AZ-10“ und wurden auch erst nach 1980 gebaut, von Höfner. Metheny besitzt aber eine 1982er Höfner AZ Standard, die einmal Attila Zoller gehörte. Die wird’s wohl gewesen sein. Ende der Nerd-Facts. ;-)

Allen E-Gitarren gemeinsam ist, dass Pat Metheny inzwischen die Höhenregler komplett zudreht – sein Sound ist so warm, wie ein Gitarrenton warm sein kann. Und wenn akustische Anteile ins Spiel kommen, dann klingt der jeweilige Track mal etwas nach Raummikrofonierung, oft erweitert durch weite virtuelle Hallräume. Keine Frage: Metheny ist Klangmaler geblieben, auch wenn er sich hier auf wenige Fraben beschränkt. Ein sehr entspanntes, schönes Gitarrenalbum, ohne aufregende Höhen und Tiefen.

Pat Metheny hat schon auf seinem Debüt ,Bright Size Life’ (1976) bewiesen, dass Schönklang Niveau haben kann, und bei „Dream Box“ erlebe ich gerade, dass entspannende Musik auch ein knappes halbes Jahrhundert später immer noch eine Wohltat sein kann. Als gitarristischer Klangmaler mit Crossover-Offenheit bleibt Metheny unerreicht. lt

COUNT BASIC FEAT. KELLI SAE: STUDIO LIVE SESSION

Funky groovenden Acid-Jazz-Pop spielen Count Basic – und das bereits seit 1993. Der österreichische Jazz-Gitarrist Peter Legat gründete die Formation, deren  Name ein Tribut an den amerikanischen BigBand-Leiter Count Basie ist. 30 Jahre später liefern Count Basic sehr coolen, souligen R’n’B, der absolut tanzbar extrem gute Laune macht. Zur inzwischen elfköpfigen Besetzung mit Bläsern, Percussion und Backing-Vocals gehören neben Peter Legat u.a. noch Bassist Willi Langer (der 2022 mit ,Grounded’ ein absolut überzeugendes Solo-Album veröffentlicht hat), die New Yorker Sängerin Kelli Sae, Keyboarder Dieter Kolbeck und Drummer Dirk Erchinger. Zum runden Geburtstag veröffentlichen Count Basic eine Vinyl-LP mit dem Mitschnitt einer Live-Session mit Publikum in den Little Big Beat Studios in Liechtenstein. Resultat ist ein sehr gut klingendes, atmosphärischen Album mit extrem gut gespieltem, zeitlosen Oldschool-Sound. Ein Höhepunkt ist der von Gladys Knight bekannte James-Bond-Song ,Licence To Kill’ (1989), den die Österreicher mindestens so heiß rüberbringen wie das Original. Dann ,I‘m Loving You’: Kelli Sae gibt alles, kommentiert von Legats Wah-Gitarre. Und bei ,End Of The World’ und ,Moving In The Right Direction’ legt die Band noch mal nach. Unglaublich, welche Energie hier rüberkommt. Schade, dass dieses großartige Album nur 36 Minuten Musik transportiert – aber die ist großartig. Bestellen kann man die LP über http://www.littlebigbeat.com/shop. Support your artists! lt

EKKO III: WIRED TRIAD 

Das ist ja mal ein Power-Album! Schon der erste Track ,Chewbacca’ zeigt einmal mehr, dass der österreichische Gitarrist Gerald Gradwohl zu den besten Europäern an seinem Instrument gehört, wenn es um energetischen Jazz-Rock geht. Begleitet wird er bei Ekko III von E-Bassist Jojo Lackner und Walter Sitz am Schlagzeug. „Das Projekt war ja ein Versuch“, erzählt Gerald. „Wir sind einfach ins Studio gegangen und haben, ohne irgend etwas vorher auszumachen, drauflos gejammt! Unser Bassist Jojo hat dann die circa fünf Stunden Musik zu zwölf Tracks editiert, und wir waren total überrascht wie gut es geworden ist.“ Und die zwölf Tracks sind wirklich gut geworden – und nicht alle laut und rockig: ,Heart Wide Open’ ist ein wirklich sehr gelungener, ruhiger Jam mit sphärischen Sounds und nervösen Drums – absolut originell. Was Gitarren-Sounds angeht hat Gradwohl hier einiges im Angebot, und er setzt seine Farben geschmackvoll ein. Auch was die spielerische Ökonomie betrifft steht hier Ausdruck vor Anschlagsrekorden. Und das Editieren der Jams ist auch gelungen: Jojo Lackner hat diverse Parts geschickt und geschmackvoll zusammengefügt – also komponiert im Sinne des Wortes. Schön, dass diese Aufnahmen, die bereits Anfang 2022 in den Mushroom Studios, Pinkafeld eingespielt wurden, ihren Weg auf CD gefunden haben. Mehr davon! lt

VANESA HARBEK: VISIONES

Als Santana-Fan zaubern mir schon die ersten Takte dieses Albums ein Lächeln ins Gesicht. Und dann diese sympathische, eigenwillige Gesangsstimme mit ganz eigenem Flow – die Sängerin, Gitarristin und Trompeterin Vanesa Harbek ist wirklich eine beeindruckende Musikerin, die auch noch als Malerin aktiv ist. Sie ist Mitte 40, stammt aus Argentinien und lebt schon seit 2017 in Deutschland. ,Visiones‘ ist ihr drittes Studioalbum, auf dem sie von kompetenten Kollegen begleitet wird: Bassist Martin Engelien, Schlagzeuger Berni Bovens, Keyboarder Thomas Hufschmidt und dem hier gewaltig für Stimmung sorgenden Percussionisten Pitti Hecht. Resultat ist ein bluesiges Album mit Latin-Grooves und gelegentlich sehr cooler Jazz-Atmosphäre, unterhaltsam, mit virtuosen Soli, eingängig und trotzdem spannend. Vanesa singt auf Spanisch und Englisch, ihr Gitarrenspiel ist sehr melodisch und ihre variablen Sounds und emotionalen Soli sind Highlights vieler Songs.

Produziert wurde ,Visiones‘ von Bassist Martin Engelien, auch bekannt als Betreiber des Labels A1-Records und Initiator der Konzertreihe Go Music – und da hat er einen guten Job gemacht: Denn jeder der zwölf Tracks ist gelungen, und mit diesem abwechslungsreichen Musikpaket bekommt man wirklich Lust auf ein Konzert dieser sympathischen Künstlerin. Das Album gibt’s als CD (mit buntem Foto-Booklet mit Song-Texten) und als Vinyl-LP. Vanesa Harbek tourt regelmäßig in Deutschland – die aktuellen Termine findet man unter www.vanesaharbek.com.ar.

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THE VOO: BROTHER VOO

„Through the echo of a twangy surf guitar, a double-bass transforms into a distorted wail, into a wave of orchestral strings, into a twisted and hypnotic beat. Welcome to the weird and wonderful world of The Voo.“ So stellt sich das in Hamburg ansässige, deutsch/britische Duo The Voo auf seiner Bandcamp-Seite vor. Ihr Debüt ,Dreamrocknroll‘ erschien im Mai 2021, Ende 2022 folgte dann ,Brother Voo‘, eine opulente Doppel-LP mit 18 Tracks.

Die beiden Multiinstrumentalisten Ben Galliers und Andrew Krell stecken hinter diesem Band-Namen – und hinter einem Projekt, das so ziemlich einzigartige Musik zwischen den Stilen macht, mit Psychedelic-Sounds, Krautrock-Atmosphäre, Surf, Rockabilly, Psychobilly, Psychedelic … und einen Track weiter rocken sie dann Stoner-mäßig oder klingen in ,Interstellar Afternoon‘ wie eine Neo-Soul-Band auf Prozac. Machten, muss es heißen: Leider ist ,Brother Voo‘ ihr letztes Werk, denn Andrew Krell starb Anfang 2022 während der Aufnahmen zum Album. „Es war so unerwartet und niederschmetternd, dass wir alle einfach nur fassungslos waren. Nachdem ich mit seiner Familie gesprochen hatte, bekam das Album eine neue Bedeutung und eine noch größere Wichtigkeit für mich persönlich. Es ist Andrews letztes Werk, es ist eine Feier unserer Freundschaft, unserer Musik und eine Art, seinen Einfluss auf meine Lebenseinstellung zu würdigen. The Voo war für uns beide mehr als nur die Musik. Es war unser Traum, ein Doppel-Album aufzunehmen. Die Fertigstellung des Albums war ein Weg, um Danke zu sagen und den Verlust eines Freundes zu verarbeiten“, erzählt Ben Galliers.

Geblieben ist ein großartiges Stück Musik, nein, eine Reise durch eine musikalische Welt, die alle Höhen und Tiefen zu kennen scheint, sich keiner Stilrichtung versperrt, handgemachte Sounds und Loops organisch zusammenbringt, Songs und Soundtracks verschmilzt, Dur- und Moll-Gegensätze auflöst, Verzweiflung mit Hoffnung und Darkness mit schönem Licht verbindet. Auf LP1 von ,Brother Voo‘ sind neue Studioproduktionen zu hören, LP2 kontrastiert mit Demos, Fragmenten und Live-Tracks. Und jedes Stück ist intensiv, spannend, berührend. Was für ein Trip!

Das Comic-Artwork des Album-Covers hatte bei mir ganz andere Erwartungen ausgelöst, und was The Voo in ihren Videos machen ist dann noch mal speziell. Was alles verbindet, ist das permanente Überraschungspotenzial. Dann geht’s mal wieder in eine ganz neue Richtung, und du wunderst dich einmal mehr, dass es immer noch authentisch und nach The Voo anhört. Ich habe seit ewigen Zeiten keine so originelle Minimal-Band erlebt. Wahrscheinlich waren das The 39 Clocks aus Hannover. Das war in den 1980ern. OMG, bin ich schon lange hörend – und immer noch überraschbar. Aber nur von so genialen, emotionalen, echten Künstlern wie in diesem Fall: The Voo sind eine Entdeckung. Ihre Musik bleibt. Danke, Ben. Thank you, Andrew. 🥀

Kauft beim Erzeuger: thevoo.bandcamp.com/album/brother-voo

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ELLA ZIRINA: INTERTWINED

Was für eine Entdeckung! Irgendwann begegnete mir ihr Name, ich sah ein paar Youtube-Videos und erlebte dann ihren Solo-Auftritt beim Kölner Klaeng-Festival im April 2023. Und war begeistert. Ella Zirina heißt die Jazz-Gitarristin und Komponistin, um die es hier geht, eine Musikerin, die sich mit ihren Band-Projekten in der niederländischen Jazz-Szene weit nach vorne gespielt hat. Geboren wurde sie 1997 in Lettland. In Amsterdam hat sie unter anderem bei Jesse van Ruller, Reinier Baas, Maarten van der Grinten und Martijn van Iterson gelernt und 2021 ihr Studium am Conservatorium mit der höchsten Auszeichnung abgeschlossen. Jetzt ist ihr Debüt-Album da: ,Intertwined’ präsentiert Improvisationen, Kompositionen, Klangbilder, mal mit ihrem Trio (David Macchione am Kontrabass und Eloi Pascual Nogue am Schlagzeug), dann in Quartett-Besetzung mit Saxophonistin Tineke Postma eingespielt, und ein Streichquartett ist hier auch noch gelegentlich zu hören. Zusammengehalten wird die Musik von Ella Zirinas warmem Gitarrenton (der kommt übrigens von einer, in Jazz-Kreisen eher selten zu sehenden hellblauen Gibson DG-335 Dave Grohl Signature Semiacoustic), und ihrer sehr eigenen Rhythmik, die ihre Impulse irgendwo zwischen Latin und Avantgarde bezieht.

Ella Zirina solo im Kölner Stadtgarten. ©Lothar Trampert

Ella hat, bis sie 17 Jahre alt war und zur Gitarre wechselte, erst einmal klassisches Piano studiert – und nach und nach kamen zu Einflüssen wie Alexander Scriabin und Bill Evans auch noch Jim Hall, Wes Montgomery, Joni Mitchell, Led Zeppelin … und ein paar Jazz-Rock-Alben hat diese Gitarristin offensichtlich auch gehört. Jedenfalls lässt das die Musik von ,Intertwined’ vermuten: Acht Eigenkompositionen, zwei Jazz-Standards und ein Pop-Song begleiten hier einen musikalischen Trip, der stilistisch wie klanglich Grenzen auslotet und Genres, Konzepte, Sounds miteinander verflechtet. Auch als Sängerin kann man Ella hier erleben, mit hoher, ruhiger Stimme, die eine weitere schöne Farbe beisteuert. Und dann ihre unbegleitete Interpretation von George Gershwins ,I Love You Porgy’: Hier kann man kaum glauben, dass all diese gitarristischen Ideen und Klänge nur von einer Musikerin stammen. Am Ende der Reise, spätestens im instrumentalen Finale mit der von Sängerin Elkie Brooks bekannten James-Shelton-Komposition ,Lilac Wine’, steht fest, dass man sich den Namen dieser 26-jährigen Jazz-Gitarristin merken sollte. Denn Ella Zirinas Individualität und Kreativität, ihre stilübergreifende Kompetenz, ihr Geschmack für Sounds und Arrangements und ihre gitarristische Intelligenz und Ausdruckskraft sind einfach großartig. Das Album gibt’s als Download und physisch, im schön gestalteten Digipak, über Ella Zirinas Bandcamp-Seite, weitere Infos auf http://www.ellazirina.com. ,Intertwined‘ ist ein ganz großes Debüt! lt

LIVE: Am 24. April 2023 konnte man Ella Zirina im Trio im Kölner Loft erleben. Mehr hier: www.loftkoeln.de/event/ella-zirina-intertwined-feat-robert-landferman-jonas-burgwinkel/

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DOMINIC MILLER: VAGABOND

Der als ständiger Begleiter von Pop-Star Sting bekannt gewordene Gitarrist Dominic Miller, Jahrgang 1960, hat im Lauf seiner Karriere Produktionen unzähliger Künstlerinnen und Künstler im Studio als Sideman bereichert. Er ist ein sensibler, einfühlsamer Musiker, der auch mit wenigen Tönen im Hintergrund zu großer Atmosphäre beitragen kann. Wenn ich richtig gezählt habe, ist ,Vagabond’ Millers vierzehntes Solo-Album und das dritte beim Label ECM. Keine Frage: Diese Einspielung ist nicht nur ein Stück wunderbar entspannter, im Kleinen sphärischer Klangkunst eines dezenten Virtuosen und Band-Players – sie ist auch eine Bereicherung des ECM-Katalogs. Zu Dominic Millers Quartett gehören Drummer Ziv Ravitz, der Pianist/Keyboarder Jacob Karlzon und sein langjähriger Begleiter Nicolas Fiszman am Bass. Man kann jedem dieser Künstler, wie auch dem Produzenten und Engineer der Aufnahme bescheinigen, hier ganz großartiges geleistet zu haben. Denn selten habe ich ein so plastisches, mit der Musik harmonisierendes Sound-Design erlebt, dass jedem instrumentalen Beitrag seinen Raum gibt um so ein lebendiges, zartes Ganzes zu ermöglichen. Sensibilität, Interaktion, Schönheit, Tiefe machen diese Musik aus – ein perfektes Genussmittel aus der schubladenfreien Zone des europäischen Jazz. Ab Mitte April ist Dominic Miller in Deutschland und Europa auf Tour.

Lothar Trampert in Jazzthetik 05-06/2023

JULIAN LAGE: THE LAYERS

Als im vergangenen Jahr der unnahbare Intellektuelle Julian Lage auf den eigenwilligst bodenständigen Intellektuellen Bill Frisell traf, hatten die Herren wohl so viel Spaß miteinander, dass noch eine Menge mehr an Musik im Studio entstanden war, als anschließend veröffentlicht wurde. Ich weiß nicht, ob es an der Wiederhörensfreude liegt, dass mir ,The Layers’ noch leichter zugeflogen kommt als vor einem halben Jahr ,View With A Room’. Bassist Jorge Roeder und Drummer Dave King komplettieren wieder das Quartett, das hier auf vier Tracks zu hören ist, dazu kommen noch ein großartig gespieltes und aufgenommenes Duett von Lage & Roeder und natürlich eins von Lage & Frisell. Wobei letzteres, ,This World’, die beiden Gitarristen als Folk-Jazz-Grenzgänger präsentiert, mit wunderbar ineinander verzahnten Improvisationen. Und dann ,Mantra’: Ein mysteriöses Gitarrenmotiv wird zum Riff ausgebaut, wächst bedrohlich, um dann in einem Gitarrensolo regelrecht aufzublühen – die zweite Gitarre schiebt sich mit Geräuschhaftem und eingeblendeten Violining-Tönen ins Geschehen, und dann löst sich alles auf. Eine solche Miniatur muss man erst mal kreieren können! Und auch wenn sie auf einer Komposition von Julian Lage basiert, ist hier die Interpretation, die Interaktion, das zentrale Werk. Der abschließende Titel-Track des Albums perlt dann mit folkiger Verspieltheit vor sich hin, um mit ein paar bluesigen Licks zu enden. Großartig – und viel mehr als nur ein Nachschlag.

Lothar Trampert in Jazzthetik 05-06/2023

JAKOB MANZ: GROOVE CONNECTION

,Jazz Is A Spirit’ heißt der erste Track dieses Albums – eine Gemeinschaftskomposition von Jakob Manz (as/fl), Roberto Di Gioia (kb), Karin Hammar (tb), Bruno Müller (g), Tim Lefebvre (b) und Per Lindvall (dr), die mit einem coolen Bass-Lick im 70s-Sound beginnt und dann mit WahWah-Gitarre, der Trompete von Gast Paolo Fresu und einer Spoken-Word-Sequenz von Mark Harrington überrascht. Da kommen Erinnerungen an Serge Gainsbourgs geniale ,Histoire De Melody Nelson’ (1971) auf, aber einen Track weiter klingen die Bläser dann schon eher nach The Crusaders. Dass ausgerechnet im Paul-Nero- aka Klaus-Doldinger-Klassiker ,Soul Tiger’ Gastgitarrist Nguyên Lê in die Saiten haut und deftig abrockt, passt zur Verspieltheit dieses Gute-Laune-Albums im besten Sinn. Das nächste Gitarrensolo in ,Teacher Bleacher’ kommt dann wieder von Bruno Müller, einem Musiker, der nicht nur diesen Track mit seinen funky Rhythm-Licks extrem trägt. Bandleader Jakob Manz gönnt sich dann mit ,I Look To You’ von Robert Kelly eine echte Schnulze im Easy-Listening-Sound – und zeigt einen Track weiter, in seiner Eigenkomposition ,Neon Yellow’, neben Virtuosität auch noch Stilsicherheit – nur Lionel Richies ,Dancing On The Ceiling’ marschiert ein bisschen zu zackzack. Dafür begeistert ,Soul Good Man’ von Pianist und Produzent Roberto Di Gioia absolut – beste Nummer des Albums! Ansonsten: Pop-Jazz auf hohem spielerischen Niveau erlebt man auf diesem Drittwerk des 22-jährigen Saxophonisten: mal funky, mal soulful und mal klingt’s nach Krimi-Soundtrack. Ich grinse über beide hörenden Ohren. Gute Musik!

Lothar Trampert in Jazzthetik 05-06/2023

RICKIE LEE JONES: PIECES OF TREASURE

,Chuck E’s In Love‘ hat jede(r) schon mal gehört. Die wunderbare amerikanische Singer/Songwriterin Rickie Lee Jones (*1954) ist seit ihrem 1979 erschienenen Debüt-Album eine eigenwillige Größe der internationalen Szene. Eine Künstlerin, die schon immer Folk, Jazz, Rhythm & Blues und Pop tangierte, mit bekannten Musikern aller Genres zusammenarbeitete und ihrer einzigartigen Gesangsstimme immer wieder beachtliche Arrangements und instrumentale Farben entgegensetzte. Seit 1989 ist auch die Jazz-Szene auf Rickie Lee Jones aufmerksam geworden, nach einer Grammy-Nominierung folgte ein Jahr später die erste Auszeichnung. Und jetzt endlich ein neues Album: ,Pieces Of Treasure’ wurde an fünf Tagen in New York aufgenommen; neben der Sängerin, Pianistin und Gitarristin waren noch Rob Mounsy (b), David Wong (b), Mark McLean (dr) und der großartige Jazz-Gitarrist Russell Malone in den Sear Sound Studios aktiv – plus einige weitere Gäste an Vibraphon, akustischer Gitarre, Oud, Saxophon und Trompete. Repertoire sind Titel, die man zum „American Songbook“ zählt, populäre Klassiker aus Jazz und Musical. Vom ersten Ton an ist man gefangen von dieser wunderbar swingenden Sängerin, die mit ganz eigenem Sound Standards wie ,There Will Never Be Another You’, ,Nature Boy’, ,Here’s That Rainy Day’ u.a. interpretiert. Ein bisschen mehr Gitarre von Mr. Malone wäre schön gewesen, aber andererseits hat dieses Album eine ganz starke Balance in jeder Hinsicht. Zerbrechlichkeit und Ausdrucksstärke sitzen hier verliebt nebeneinander. Und das können nicht viele Künstlerinnen oder Künstler. Chet Baker hätte dieses Album gemocht, behaupte ich mal. Ich liebe es. lt

lothar trampert / http://www.paleblueice.com

MONIKA ROSCHER BIGBAND: WITCHY ACTIVITIES AND THE MAPLE DEATH

Seit 2011 existiert diese Großformation um Sängerin und Gitarristin Monika Roscher – eine Musikerin, deren künstlerische Offenheit das BigBand-Format aufblühen lässt. Jedes ihrer bisherigen zwei Alben war ein Überraschungspaket, sowohl das überragende Debüt ,Failure in Wonderland’ (2012) wie auch jetzt, sieben Jahre nach ,Of Monsters And Birds’ (2016), dieses neue Werk, das sich beim Hören anfühlt wie ein Trip durch tausend Musikwelten. Im besten Sinne zappaesk, alternativ assoziiere ich Carla Bley oder Sun Ra auf Marschierpulver, oder auch mal Charles Mingus in 3D … – ich bin also sprachlos. Denn genau das alles gab es so noch nie und gibt es auch nicht von sonst wem. Diese Band ist einzigartig, explosiv und umwerfend, was schon vor Jahren auch das US-amerikanische Magazin DownBeat bemerkte und sie als „Rising Star“ listete. Monika Roscher (*1984) studierte Jazz-Gitarre bei Peter O’Mara und Komposition bei Gregor Hübner. Ihre BigBand besteht aus 18 Musikerinnen und Musikern, für die Genre-Grenzen weiterhin ganz eindeutig eher Inspiration als Beschränkungen darstellen. Diese Band und ihre großartige Sängerin & Gitarristin sind auf ,Witchy Activities And The Maple Death’ einmal mehr ein Erlebnis und bekommen zur Höchstwertung noch mindestens einen unsichtbaren sechsten Stern dazu. Genial!

Lothar Trampert in Jazzthetik 05-06/2023

Vor über zehn Jahren habe ich das Debüt-Album dieser Musikerin und ihrer unglaublichen BigBand vorgestellt: ,Failure In Wonderland’ erschien 2012, vier Jahre später ,Of Monsters And Birds’. Sängerin, Gitarristin und Projektleiterin Monika Roscher lässt sich Zeit, und wenn man die Musik ihres aktuellen Albums hört, weiß man warum. Denn ,Witchy Activities And The Maple Death’ ist musikalisch hoch komplex, atmosphärisch aber ein Stück Musik das schwebt, rast, fließt, mal explodiert und sich auch mal in sich zurückzieht. Und eine solche Lebendigkeit erst mal aufs Notenpapier und dann durch 18 Musikerinnen und Musiker schwingend in die Luft zu bekommen, das ist schon ganz große Kunst – von einer CD-Produktion ganz zu schweigen. Das Wort „Jazz“ ist bisher noch nicht gefallen, und es nennt auch nur eine der Musikwelten, durch die Monika Roscher (* 1984) die Hörenden führt. Sie studierte Jazz-Gitarre bei Peter O’Mara und Komposition bei Gregor Hübner – und anscheinend auch alles zwischen Pop und Avantgarde, was bisher in unserem Planetensystem zu hören war. Sie ist eine Künstlerin, für die Genre-Grenzen eher Inspiration als Beschränkungen darstellen. Mal klingt Frank Zappa an, dann wieder Carla Bley, und wenn Monika Roscher singt oder zu einem ihrer originellen Gitarrensoli ansetzt, ist sie wieder in ihrer ganz eigenen Sphäre. Ein absolut spannendes und eigenwilliges Album. Und ein echtes Überraschungspaket. Entdecken! lt

Lothar Trampert in Gitarre & Bass 05/2023

RICHARD BARGEL: DEAD SLOW STAMPEDE

So eine schön designte CD-Verpackung im Doppel-Digipak, mit zwölf eingelegten Blättern, die kleine Kunstwerke sind und die Song-Lyrics und die üblichen Liner-Note-Infos mit sehr gelungenem Grafik-Design und Fotografie verbinden, habe ich noch nicht oft in der Hand gehalten: Daher nenne ich vor den Künstlern die hierfür verantwortliche Künstlerin, Nora Catharina van Rijn, die geminsam mit Fabio Nettekoven das Label Clementine Music betreibt. Im Kölner Maarweg-Studio ist dieses Album entstanden, und Fabio Nettekoven ist als Produzent, Gitarrist, Berater und Freund eine zentrale Figur von ,Dead Slow Stampede‘, dem zehnten Werk eines deutschen Blues-Künstlers, Songwriters, Gitarristen, Schauspielers und Originals, der seit einem halben Jahrhundert aktiv ist: Richard Bargel!

Bargels Debüt ,Blue Steel‘ erschien 1977, da war Bargel 26, und das war noch eine sehr rauhe Angelegenheit. ,Dead Slow Stampede‘, überwiegend mit Vintage-Equipment aufgenommen von Tobias Thiele, glänzt dagegen mit sehr farbenfrohen Arrangements und Instrumental-Sounds, mit Musik zwischen Blues, Rock, Country-Flair und handgemachtem Singer/Songwriter-Folk. ,Heart Shine Girl‘ ist so eine Nummer, in der alles zusammenfindet – mein Highlight des Albums, was Wärme, Ausdruck und Coolness angeht. Neben Richard Bargel am Mikrofon und diversen Gitarre sind hier noch Geert Roelofs (dr) und Jo Didderen (b) zu hören – und Multiinstrumentalist Fabio Nettekoven an allem, was Saiten und Tasten hat. Jetzt wurde das Album nominiert für den Preis der deutschen Schallplattenkritik – und das gleich in zwei Kategorien: Blues und Folk & Singer/Songwriter. Glückwunsch!

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ARNE JANSEN / STEPHAN BRAUN: GOING HOME

Ich liebe originelle Konzepte: Ein Jazz-Gitarrist und ein Cellist spielen Dire Straits. Da haben sich die beiden Mittvierziger Arne Jansen und Stephan Braun wohl von ihrer frühen Jugend inspirieren lassen. ,Going Home’ heißt ihr Album, dessen Grundidee angeblich auf einen Fehlkauf von Gitarrist Arnes Vater zurückgeht: Der hatte während eines Dänemark-Urlaubs Mitte der 1980er-Jahre seinem Sohn vom Flohmarkt nicht die gewünschte „Die drei ???“-Musikkassette mitgebracht, sondern (warum auch immer) ,Love Over Gold’ von Dire Straits. Nein, das war keine traumatische Erfahrung für den damals acht- oder neunjährigen Arne – er liebte dieses Album. „Der Song ,Telegraph Road‘ ist der Grund, warum ich angefangen habe, Gitarre zu spielen“, erzählt Jansen, der inzwischen zwei Echo-Awards für seine Jazz-Alben ,The Sleep Of Reason – Ode To Goya’ (2014) und ,Nine Firmaments’ (2017) nach Hause tragen konnte. Auch so etwas hat also Mark Knopfler möglich gemacht.
Für sein neues Album hat Arne Jansen sich jetzt zehn Hits von Mark Knopfler vorgenommen, darunter auch Ikonen wie ,Sultans Of Swing’, ,Money For Nothing’ und eben das wunderbare ,Telegraph Road’ – und er hat etwas Eigenes daraus gemacht, hat wirklich jedes bekannte Lick und Riff irgendwie umgedacht. Eben interpretiert! Sein Duo-Partner Stephan Braun, der neben dem fünfsaitigen Cello in drei Tracks auch Kontrabass spielt, hat mit seinem sehr eigenen Ansatz einen kaum zu unterschätzenden Anteil daran, denn er öffnet der Dire-Straits- & Knopfler-Musik mit seinem eigenwilligen, oft perkussiven Spiel, eine ganz neue, überraschende Klangwelt. Gewagtes Repertoire – gelungene Umsetzung. Und ein originelles Konzept eben. Respekt! lt

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SAMO SALAMON & ASAF SIRKIS: RAINBOW BUBBLES

Und noch eine schöne Entdeckung: Den slowenischen Jazz-Gitarristen Samo Salamon (*1978) kenne ich noch nicht sehr lange – seine beiden im vergangenen Jahr erschienenen Veröffentlichungen ,Pure And Simple’ (mit Arild Andersen/b und Bob Moses/dr) und vor allem sein mit 28 Tracks voluminöser Alleingang ,Dolphyology: Complete Eric Dolphy For Solo Guitar’ haben mich jedenfalls überzeugt, dass hier eine weitere eigenwillige Musikerpersönlichkeit die europäische Gitarrenszene bereichert. Und ein wirklich origineller Saitenkünstler: Auf ,Rainbow Bubbles’ ist Samo Salamon neben der E-Gitarre auch mit Acoustic, Banjos, Bass, Synthesizer und Piano zu hören. Sein spielerischer Partner ist der israelische Schlagzeuger Asaf Sirkis (Soft Machine, John Abercrombie, Gary Husband u.a.), auf dessen Improvisationen dieses im Mai 2022 produzierte Album aufbaut. Die acht zwischen vier und fünf Minuten langen Tracks sind nicht immer eingängig, aber durchweg spannend – und sie haben eine Intensität, die nicht auf lauten Tönen beruht, sondern eher dem Gefühl für kleine Melodien, dezenter Interaktion, schrägen Arrangements und schrulligen Ideen zu verdanken ist. Sympathisch in jeder Hinsicht! Die Musik von Samo Salamon gibt’s bei samosalamon.bandcamp.com. Support your favorite artists! lt

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SCHOENECKER SASSE SCHIEFERDECKER: TRIO TALES

Ich kenne kaum einen lebenden Jazz-Gitarristen, der einen so authentischen Archtop-Sound hat wie Joachim Schoenecker. Dazu kommt seine Stilsicherheit, die er in Soli aber durchaus mit eigener, virtuoser Klangsprache durchsetzt. Das im Dunstkreis von Jim Hall, Pat Martino, Grant Green und Wes Montgomery zu schaffen ist eine mehr als reife Leistung. Genau die kann man auf ,Trio Tales’ erleben, einem an einem Studio-Tag eingespielten Album, das so dermaßen groovt, dass man erst beim dritten Track oder gar nicht merkt, dass hier kein Schlagzeuger im Spiel ist. „Guitar Piano Bass“ steht auf der Rückseite des originell designten DigiPaks – für die beiden letztgenannten Instrumente sind der Kölner Pianist Martin Sasse und Kontrabassist Markus Schieferdecker zuständig, zwei absolute Könner, hervorragende Solisten und sensible Team-Player. Von Sasse stammen vier der Album-Kompositionen, zwei sind von Schoenecker, und die Klassiker-Standards ,Body & Soul’, ,Autumn In New York’ und Thelonious Monks ,Pannonica’ fallen da nicht weiter auf, denn die Atmosphäre, die dieses Trio schafft, die Interpretation, ist einfach stark, organisch, aber nie übergriffig. Hier hört man in jeder Note Respekt vor der Jazz-Tradition, das von drei Musikern, die zu diesem Thema wirklich noch was zu sagen haben.

Markus Schieferdeckers eigenwillig swingende Bass-Linien und seine wunderbaren Soli bilden so etwas wie eine lebendige Achse, was der Musik dieses Trios irgendwie zu noch mehr Dynamik und dezenter Modernität verhilft. Zeitlos gut! Noch mal zurück zum großartigen Gitarrenton: Den zauberte Joachim Schoenecker, der am Conservatorium Maastricht Jazz-Gitarre unterrichtet, auf diesem neuen Album mit einer Gibson ES-175 von 1979, einem Fender Princeton Reverb Blackface Reissue, der von Tonehunter Ralf Reichen mit einem 12“-Speaker bestückt wurde, außerdem waren Vovox-Kabel und BlueChip-Picks im Einsatz. Ende der Nerd-Infos – und jetzt bitte dieses Album anhören!

Lothar Trampert. Jazz-Album des Monats in Gitarre & Bass 05/2023

Diese Trio swingt unglaublich! Und in der Musik von Gitarrist Joachim Schoenecker, Pianist Martin Sasse und Markus Schieferdecker am Kontrabass zeigt sich einmal mehr, dass gekonnt und intelligent interpretierter, straight ahead Mainstream Jazz zeitlos ist. Von Sasse stammen vier der Album-Kompositionen, darunter der ,Groovy Waltz’, ein echter Ohrwurm, der alle Beteiligten zu spannenden Soli inspiriert. Bei diesem transparenten Stück zeigt sich ganz besonders auch die klangliche Qualität der Aufnahme von Klaus Genuit aus dem Bonner Hansahaus Studio, bei der sich sofort der ideale „Live im Abhörzimmer“-Effekt einstellt. Joachim Schoenecker hat zwei weitere Eigenkompositionen beigesteuert, die mit seinem Solo über ,Autumn In New York’ und den Standards ,Body & Soul’ und ,Pannonica’ absolut harmonieren. Perfektion strahlt auch Schoeneckers Gitarrenton aus, der die klassische, leicht holzige Lebendigkeit von Wes Montgomery mit der warmen Eleganz von Jim Hall verbindet. Dieses an einem Studio-Tag eingespielte Album ist aus einem Guss, und es vermittelt das Erlebnis eines perfekten Sets. Bassist Markus Schieferdeckers Rolle in diesem Trio ist dabei kaum zu überschätzen, denn seine dezenten Linien tragen und verbinden so intensiv und dynamisch, wie seine Solo-Spots aufblühen und berühren. Neben dem Sound-Design ist auch die grafische Gestaltung des schönen DigiPaks von Katerina Trakakis & Svenja Wittmann absolut gelungen. Intensiv!

Lothar Trampert in Jazzthetik 05-06/2023

ACHIM SEIFERT PROJECT: DÜNYALAR

Achim Seifert, 1985 als Sohn eines türkischen Schlagzeuger geboren, ist einer der Bassisten, die mit tiefem Ton tragen, grooven und trotzdem noch intensive melodische Parts beisteuern können. Und er war der erste E-Bassist, der die „Künstlerische Ausbildung“ an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover absolvierte, ging mit 22 Jahren und einem Stipendium in der Tasche ans Berklee College of Music in Boston und veröffentlichte 2012 sein Debüt-Album ,Plans To Wake Up On The Beach’. ,Dünyalar’ ist Achim Seiferts viertes Album, und gemeinsam mit Roman Rofalski (kb), Konrad Ullrich (dr) und Leonard Huhn (sax) nähert er sich in acht Stücken seinen Wurzeln an. Fünf Themen kommen aus der türkischen Folklore. Ungerade Taktarten und diffizile rhythmische Spezialitäten werden hier aber nicht als Angeberspielwiese präsentiert, sondern klingen organisch, fließen, grooven … Anders ausgedrückt: als 4/4-sozialisierte Eifel-Kartoffel hätte ich das garnicht bemerkt. Alles harmoniert, wirkt leicht, und eigentlich sind auch die drei Eigenkompositionen integrer Teil des Ganzen. Insgesamt kommt ,Dünyalar’ absolut cool rüber, musikalisch homogen, mit sympathischem Flow. Das Lineup vervollständigen Flötist Sarpay Özcagatay und die Geigerin Mona Burger, die diesem gelungenen Album weitere Farben schenken. Als anerkannter, hoch sensibler Ethno-Jazz- und Weltmusik-Klischee-Allergiker keinerlei negative Reaktion zu zeigen, spricht für diese schöne Musik. Und ob sich der in Hildesheim geborene „halbdeutsche Achim“, der übrigens einen amerikanischen E-Bass von Michael Tobias Design spielt (den MTD USA 535-24) das alles jetzt mit seiner Germanen-Combo kulturell aneignen darf oder nicht, sollen die Zeitgeist-Stasi und die Pseudo-PC-Mullahs bitte auf dem Mond diskutieren. Ich kann den Quatsch nicht mehr hören! Denn wenn ich so ein wunderbares, echtes, berührendes Album erlebe wie ,Dünyalar’, dann weiß ich, dass es noch denkende, fühlende, liebende Menschen gibt, die leben, dass Kultur zum Teilen da ist. Jazz-Müzik! lt

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MEHDI CHAMMA: LAYLA WA BAHR

Da knallt einem aber eine ganz fette Packung aus den Boxen entgegen: Gitarrist, Komponist und Sänger Mehdi Chamma stammt aus Marokko, und er hat die nordwestafrikanische Musikkultur, mit der er aufwuchs, mit Jazz und Rock bekannt gemacht und eine sehr individuelle Crossover-Variante kreiert. Zur Gitarre kam er über einen am Strand spielenden Touristen, das Instrument faszinierte ihn und er suchte sich einen Lehrer. Nachdem er von 2006 bis 2015 als Sideman diverser afrikanischer Künstler unterwegs war, zog Mehdi nach Wien, wo er Jazz und Popularmusik studierte. ,Layla Wa Bahr’ heißt sein Album, übersetzt „Nacht und Meer“, und in den acht Tracks ist er gemeinsam mit Posaunist & Trompeter Jakob Mayr, Keyboarder Erik Asatrian sowie Bassist Michael Acker und Drummer Walter Sitz zu hören. Neben diversen Gitarren spielt Mehdi Chamma auch die dreisaitige Guembri, ein traditionelles pentatonisches Instrument; als E-Gitarrist ist er von Funk, Blues, Santana und Wüsten-Rockern wie Tamikrest, Bombino, Irmahan oder Tinariwen beeinflusst. Und in einigen Tracks ist der Gitarrist auch als Sänger zu erleben, so z.B. im jazzigen Titel-Song des Albums, das an vielen Stellen schon fast BigBand-Power hat. Ein spannender Künstler. Besuche mehdichamma.bandcamp.com lt

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JOE KRIEG QUARTET FEAT. NILS WOGRAM: BEAU GOSSE

Einer meiner Lieblingsgitarristen hat ein neues Album am Start: Aus Dettelbach bei Würzburg kommt das neue Werk des Jazz-Gitarristen und Komponisten Joe Krieg (* 1974). ,Beau Gosse‘ hat er gemeinsam mit Posaunist Nils Wogram, Uli Kleideiter am Schlagzeug, Bassist Simon Ort und Pianist Matthias Bublath bereits Ende 2021 aufgenommen und jetzt endlich veröffentlichen können. Seit seinem Debüt ,Anadulphs Traum‘ (2009) verfolge ich die Arbeit dieses Jazz-Musikers, und das neue vierte Album seines Quartetts, nach ,Goldmund‘ (2011) und ,Homegrounded‘ (2016) hat noch mal an Energie, Virtuosität und Brillanz zugelegt. Power-Player Matthias Bublath, der es am Piano auch schon mal barock angeht um ein paar Takte später fette McCoy-Tyner-Bretter zu legen, und der expressive Gast Nils Wogram an der Posaune sind dafür mitverantwortlich. Ibanez- und Sonntag-Gitarren-Endorser Joe Krieg selbst überzeugt weiter mit einem Mix aus spielerischer Eleganz, fast zurückhaltender Begleitung und straighten Soli, die sich oft dynamisch aufbauen und die Band mitziehen. Sein dezenter, warmer Ton mit wenig Hall erinnert mal etwas an die frühen Aufnahmen von Pat Metheny, vom spielerischen Ansatz scheint mir Krieg aber Mick Goodrick und der ruhigeren Saite von Pat Martino näherzustehen – ganz großartig zu erleben im balladesken ,Port Henning’ oder dem schönen ,Frére Jacques’ mit sehr coolem Groove von Drummer Uli Kleideiter und Bassist Simon. Ein wirklich schönes, ruhiges Jazz-Album. lt

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MALTE VIEFS KAMMER: III

Den Gitarristen & Komponisten Malte Vief und sein Projekt „Kammer“ habe ich schon mehrfach vorgestellt. Jetzt hat der Crossover-Künstler aus Leipzig sein drittes Album vorgelegt, bei dem er wieder mit vielen verschiedenen akustischen Gitarren zu hören ist – die sind alle in den Liner-Notes des CD-Digipak aufgelistet, was neugierige Musikerkollegen und Gitarren-Nerds freuen dürfte. Begleitet wird er von sechs Solisten an Cello, Violinen, Kontrabass, Mandoline und Piano. Malte Viefs instrumentaler Mix aus klassischen und barocken musikalischen Elementen, Fingerstyle-Gitarre und etwas Soundtrack-Flair ist auch diesmal wieder unterhaltsam und entspannend zugleich. Und manchmal rockt dieses Jazz-Ensemble sogar ein bisschen und der Kontrabass sägt wie eine tiefgestimmte Metal-Gitarre. Cool und sehr originell! lt

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ALI FARKA TOURÉ: VOYAGEUR

Der bereits 2006 verstorbene Gitarrist und Sänger Ali Farka Touré stammt aus Mali, gehört zu den legendären Vorreitern des Desert-Blues und ist bis heute einer der bekanntesten Musiker Afrikas. Das amerikanische Rolling Stone Magazine zählte ihn mal zu den einhundert besten Gitarristen aller Zeiten, was vor allem seiner kulturellen Bedeutung auf diesem Riesenkontinent gerecht wird. Auf dem Label World Circuit Records erscheint mit ,Voyageur’ jetzt bisher unveröffentlichtes Material von Ali Farka Touré, das auf Vinyl, CD und digital erhältlich sein wird. Neben Band-Aufnahmen mit E-Gitarre und einem Acoustic Track sind auch drei Stücke mit der malischen Sängerin Oumou Sangaré zu hören, inzwischen eine weltweit erfolgreiche afrikanische Künstlerin. Beim Hören dieser Musik wird man selbst zum Reisenden in eine ganz eigene Klangwelt, hin zu einer Musik, deren Groove einfach mitreißt und eine ganz besondere Intensität erleben lässt. Wir kenne den afroamerikanischen Blues, der aufgrund eines großen Verbrechens gegen die Menschlichkeit entstanden ist. Hier ist die afrikanische Variante, von Nachfahren der nicht verschleppten Völker. Diese neu zu entdeckenden Songs aus dem Archiv von Produzent Nick Gold sind über einen Zeitraum von 25 Jahren entstanden und sind ein guter Einstieg in die musikalische Welt des Ali Farka Touré. lt

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TEEMU VIINIKAINEN: SONGS OF SILENCE 

Warmer Jazz-Gitarrenton, ein sensibel spielender Solist, jede Note hat ein Eigenleben, um sich im nächsten Moment in ein großes Ganzes einzureihen – da denkt man an Jim Hall. Und der finnische Gitarrist Teemu Viinikainen, geboren 1975, hat wirklich einiges vom legendären Meister des kammermusikalischen Saiten-Jazz gelernt. Wie Hall in seinen späten Jahren setzt auch er dezent elektronische Effekte ein: Reverb, Delay, Modulation, Looper. Seit 2004 hat er neun Alben unter eigenem Namen eingespielt, daneben noch eine Menge Produktionen als Sideman absolviert, meist mit finnischen Musikern. ,Songs Of Silence’ präsentiert fast ausnahmslos Fremdkompositionen, die Teemu Viinikainen auf ganz eigene Art interpretiert. Und so bekommen Tracks wie ,Ask Me Now’ und ,Evidence’ von Thelonious Monk, Stings ,Tea In The Sahara’, Chick Coreas ,Windows’ oder der Charles-Mingus-Klassiker ,Goodbye Pork Pie Hat’ hier wirklich neue Leben. Viinikainen arbeitet mit Flageolett-Tönen, Saitengeräuschen, kombiniert auf sehr originelle Art lineares und akkordisches Spiel und überrascht immer wieder mit meist sparsam eingesetzten Klangeffekten. Aber vor allem stimmt die Basis: Denn Teemu Viinikainens Spieltechnik, seine Voicings, sein Fingerstyle sind einfach erstklassig und verbinden spielerische Ökonomie und Klarheit mit maximalem musikalischem Ausdruck. Ein wunderbar relaxtes Gitarren-Album.

Lothar Trampert / Jazzthetik

Die Musik dieses Solo-Albums ergreift sofort Besitz, berührt mit warmem Jazz-Gitarrenton, ist sparsam und raumfüllend zugleich. Und schon im Intro des ersten Tracks outet sich der finnische Musiker Teemu Viinikainen, geboren 1975, ohne Frage als Jim-Hall-Fan. Dabei findet er aber eigene Wege aus dem großen Schatten des Meisters und setzt auch mal elektronische Effekte ein. Wobei er die Anteile von Raum-Effekten und Modulation sehr dezent hält, wie auch den Einsatz von Loops. Teemu Viinikainen, der seit 2004 neun Alben unter eigenem Namen eingespielt hat, ist auf ,Songs Of Silence’ mit acht Fremdkompositionen zu hören, darunter ,Ask Me Now’ und ,Evidence’ von Thelonious Monk, Stings ,Tea In The Sahara’, Chick Coreas ,Windows’ und der Charles-Mingus-Klassiker ,Goodbye Pork Pie Hat’. Die interpretiert er extrem laid back, sympathisch warm und ausdrucksstark, mit kraftvollen Linien und dezenten Akkorden, mal sparsam, mal mit beachtlicher Technik – immer im Dienst des Songs. Viinikainen Kombination von mit Plektrum angeschlagenen Linien und mit Fingerstyle eingestreuten Akkorden ist einfach großartig und für ein im Alleingang eingespieltes Album eines Gitarristen, hört man hier sehr lebendige Musik. Schöne, relaxte, unberechenbare Gitarrenklänge in einer hervorragend klingenden Aufnahme. Mehr davon unter www.teemuviinikainen.com lt

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CHRISTINA ZURHAUSEN: SEE YOU IN THE TREES

Als ich die in Köln lebende Gitarristin Christina Zurhausen zum ersten Mal live mit ihrem Quartett „Rinze’s Correlation“ erlebte, dachte ich nur: Endlich mal ein Gitarren-Stil, -Sound, -Ansatz, bei dem nicht sofort im Hörerkopf sieben „Habe ich schon irgendwo und irgendwie mal gehört“-Schubladen aufgehen. Und wenn man die junge Frau aus dem Ruhrpott mit ihrer D’Angelico-Solidbody, vor einem Vox-Amp und hinter ihrem Effektboard stehend, konzentriert arbeiten sieht, immer im Kontakt zu ihren Mitspielenden, eine unkonventionelle Lick- oder Voicing-Ladung nach der anderen raushauend, dann jagt eine Überraschung die nächste. 

Christina Zurhausen hat in Köln und Osnabrück studiert, u.a. bei den Gitarristen Joachim Schoenecker, Frank Wingold und Philipp van Endert, außerdem bei der großartigen Saxophonistin Angelika Niescier. Von 2014 bis 2018 arbeitete sie mit der Peter Herbolzheimer European Masterclass Big Band zusammen, heute ist sie Dozentin für Gitarre und Bands an der Offenen Jazz Haus Schule in Köln.

Ihr Background ist so bunt wie ihr Spiel: Nirvana, Slime, The Doors, Queens Of The Stone Age, Sonic Youth und Rage Against The Machine waren ihre Helden, bevor sie mit Anfang 20 ein Album des Jazz-Gitarristen John Abercrombie hörte, dessen Musik sie faszinierte. Beim Weiterhören entdeckte sie Thelonious Monk, Ornette Coleman, Bill Evans, Bill Frisell und die drei Johns Scofield, Zorn und Coltrane. In ihrem 2015 gegründeten Jazz-Grunge-Quartett „Ausfahrt“ findet einiges davon zusammen – Rock-Energie, Grunge-Sound, Jazz-Freiheit. 2018 erschien das Debüt-Album ,Vergessene Möglichkeiten‘, 2021 folgte ,The End Of The World‘. 

Und jetzt ist Christina Zurhausen alleine am Start: ,See You In The Trees‘ ist ihr erstes Solo-Album – Gitarre, Effekte, Loops, Improvisationen und zwei kleine, schräge Gesangs-Überraschungen. Was hier musikalisch passiert, ist schwer zu fassen: Meist hört man cleane E-Gitarren-Sounds, etwas Hall und der Looper wird zum freien Spiel mit sich selbst eingesetzt. Dann kommt doch mal eine übersteuerte E-Gitarre mit Feedback ins Spiel, schräge Geräusche und String-Scratching mit dem Plektrum. Wo hier Improvisation aufhört und Konzept oder Komposition anfängt ist unklar, spielt aber auch keine Rolle bei diesem Trip durch eine ganz eigene Klangwelt. Christina Zurhausens Musik ist abstrakt, findet jenseits von klassischer Jazz-Harmonik und -Rhythmik statt, fließt einfach los, ohne dem Hörer oder der Hörerin formale Orientierungspunkte zu liefern. Nicht immer einfache Musik, andererseits aber von einer Wärme und leisen Intensität durchzogen, wie man sie nur selten erlebt. ,Unterm Rad‘ heißt das letzte Stück dieses einzigartigen Albums, eine, kleine traurige Instrumentalballade von einer im Hallraum versinkenden Gitarre – wie ein Song von Mazzy Star. Und ganz viel von diesem Album hat Soundtrack-Flair: Sollte mal ein Remake von „Blair Witch Project“ anstehen, bitte Christina anrufen – sorry, Tony Cora.

Live auf der Bühne hat Christina Zurhausen dann aber auch noch Humor, und ihre sympathischen Ansagen haben Helge-Schneider-Potenzial. Irgendwie passt das alles nicht zusammen, vor allem in keine Schublade, aber gerade deshalb ist die Musik dieser Künstlerin etwas ganz Besonderes – echt und aus dem Leben.
Kontakt: www.christinazurhausen.com lt

FOTOS CHRISTINA ZURHAUSEN © LOTHAR TRAMPERT 2023

JOHANNES HAAGE DRIFT: WINGS

Einen sehr klarer Gitarrenton mit feinen akustischen Anteilen und einer entspannten Melodie hört man im ersten Track von Gibson-Howard-Roberts-Spieler Johannes Haage, darunter ein sehr agiler Kontrabass von Matthias Pichler und Joe Smiths mal verspieltes, dann schon fast nervöses Schlagzeug. ,Wings’ kommt in einem sehr schön designten DigiPak und ist nach ,Drift’ (2015) und ,Darwin’s Blues’ (2019) das dritte Album von „Johannes Haage Drift“, wie das Trio mit vollem Namen heißt. Ein Deutscher, ein Österreicher und ein Amerikaner treffen sich in Berlin und spielen hier relativ schwer einzuordnende moderne Musik, die weder nach zeitgenössischem amerikanischen New Jazz, noch klar nach europäischer ECM-Tradition klingt. Wobei man ab und zu schon mal ein bisschen an Mick Goodrick, weniger an Bill Frisell und etwas an Ben Monder erinnert wird. Johannes Haage ist u.a.a. als Dozent des Curricular Music Programs an der Berlin Brandenburg International School tätig und hat vor kurzem bei MelBay auch noch  Lehrbuch „Voice Motion. Melodic Movement within Three-Part Harmony“ veröffentlicht. Weitere Infos: www.johanneshaage.com lt

AXEL KÜHN TRIO: LONELY POET

Kontrabassist Axel Kühn, Pianist Ull Moeck und Schlagzeuger Eckhard Stromer sind ein gutes Team. ,Lonely Poet’ ist ihr viertes Album. Die Musiker verstehen ihre Kunst als Mischung aus Jazz, Pop, Rock und Weltmusik – ich höre auf diesem Album zeitgenössischen, swingenden, groovenden Jazz, der sich hier und da mal ein paar Effekte und Sounds leistet, ansonsten aber nicht weit von bekannten Post-E.S.T.-Piano-Trio-Formaten abschweift. Mit einem Unterschied: Denn der Bandleader ist hier, fein dosiert, auch mal mit Gitarre, Synthesizer oder Vocoder zu hören, was der Musik zusätzliche Farben und viel Abwechslung verleiht. Das gilt auch für den Guest-Spot von Trompeter Sebastian Studnitzky im Titel-Track des Albums, wobei mein Highlight hier das Bass-Solo des Bandleaders ist. Seine Klasse beweist Axel Kühn in jedem Track, aber diese Lead-Spots, wie auch im Intro von ,Human Machine’ oder dem finalen ,Just A Little Melody’ glänzen besonders. Und so weiß man am Ende dieses gelungenen Albums, dass das Trio aus Süddeutschland der Kombination Bass/Drums/Piano doch einiges an eigenem Leben eingehaucht hat. Das Album gibt’s auch auf Vinyl bei www.axel-kuehn.com lt 

ANDREAS HEUSER / JAN BIERTHER: WINDY CITY

Das ist ja mal ein echtes Gitarren-Album von und für Gitarristen: Während Jan Bierther durchgehend im rechten Stereokanal mit seiner 1967er Gibson L7C zu hören ist, tönt Kollege Andreas Heuser von links mit zwei Godin Multiacs (Jazz und Nylon SA), einer Hanika Fusion PC und einem 8string-Modell von Albert & Müller. Das sehr schön gestaltete DigPak verrät noch ein paar Details mehr über die beiden sympathischen Künstler, deren Musik eine wunderbare Leichtigkeit hat und mit ihren vielen Saitenfarben zwischen Steelstring, klassischer Gitarre und Jazz-Archtop nie langweilig wird. Das Duo bedient sich im Folk, Jazz, Latin, Flamenco und in der Klassik, fusioniert alles zu einem eingängigen Sound, der aber Seele hat. Beste Beispiele sind die etwas an Volker Kriegel erinnernden Stücke ,On The Train’ und ,Usignolo’; der deutsche Jazz-Rock der 1970er- und 80er-Jahre hat Spuren hinterlassen. Bei Andreas Heuser und Jan Bierther gibt es keinen Wettbewerb, keine Technik-Olympiade, keine Effektheischereien – hier spielen zwei Gitarristen ihre Musik, handwerklich gelungen, absolut unterhaltsam. Instrumentale Pop-Musik im besten Sinne, und acht gelungene Tracks, die gute Laune machen. Können wir alle gebrauchen. Kontakt: www.andreasheuser.com lt

Yasi Hofer BETWEEN THE LINES


YASI HOFER: BETWEEN THE LINES

Sie hat ein Menge Fans: Denn Yasi Hofer, 1992 in Ulm geboren, ist eine großartige Gitarristin. Mit 12 wechselte sie von der Geige zur E-Gitarre, mit 14 holte ihr Idol Steve Vai sie bei einem seiner Deutschlandkonzerte auf die Bühne. Zwei Jahre später begann Yasi via Begabtenprüfung ein Studium an der Musikhochschule Stuttgart, anschließend ging sie mithilfe eines Stipendiums nach Boston ans Berklee College of Music. Drei eigene Alben hat sie bisher veröffentlicht – ,Yasi’ (2014), ,Faith’ (2016) und ,Freedom’ (2018) – und seitdem gehört sie zur Oberliga der europäischen Gitarrenszene. Sie ist eine vielseitige und offene Künstlerin, und so habe ich mich nicht gewundert, dafür aber sehr gefreut, als Yasi Hofer 2022 in den Live-Bands von Helene Fischer und den wiederbelebten No Angels auftauchte. Beste Jobs in einer schwierigen Zeit für Musikerinnen und Musiker.
Mit ,Between The Lines’ hat die Gitarristin und Bandleaderin jetzt endlich wieder ein eigenes Album am Start, mit eigenen Songs und Instrumentals, die sie überwiegend mit ihren Mitmusikern Jens Golücke (dr) und Steffen Knauss (b) eingespielt hat. Vier Tracks wurden teils in Los Angeles von Mike Plotnikof aufgenommen, mit Taylor Carroll am Schlagzeug. Los geht’s mit ,Moments’, einem klassischen Heavy-Rocker mit melodischem Gitarrenthema, aus dem sich ein virtuoses Solo entwickelt. Nach diesem Instrumental folgt mit ,Foreign Land’ ein Song: Ja, die Gitarristin Yasmin Hofer hat eine wirklich coole und gereifte Stimme, die sehr echt rüberkommt – und dem konventionellen Rock-Song gegen Ende dann noch eine ganz eigene Wendung gibt. Wirklich gut! ,Sparkles’, ,Thoughts’ und ,Springtime’ sind klassische E-Gitarren-Instrumentals mit schönen Gitarrenfarben – im Satriani/Vai-Genre wurde aber schon lange alles gesagt, getan, gespielt, denke ich manchmal.
Aber dann der Titel-Track des Albums: ,Between The Lines’ ist ein sehr gelungener Song mit schwebenden Gitarren, hypnotischem Drum-Groove und einem Prog-Rock-Refrain, an den sich sehr schöne Licks und später ein Solo anschließen. Hier wirkt alles absolut authentisch, organisch und rund – ohne Frage einer der überzeugendsten Album-Tracks. Das monumentale Instrumental ,The Maze’ kann da noch fast mithalten, wirklich überraschend gelungen ist dann aber der ebenfalls instrumentale Blues-Rocker ,RAM’, in dem Yasi Hofer über alle Grenzen spielt und macht was sie will. Und dann das dark-proggig-speedige ,Violet’ – ein echter Gitarrenkracher! ,Devil On The Rise’ überzeugt dann endgültig, wieder mit einer wirklich coolen Gesangsstimme, großartigen Gitarren-Parts und einer intensiven, bedrückenden Atmosphäre. Progressive Metal!
Der Acoustic-Track am Ende des Albums zeigt, was diese Musikerin genauso gut kann, und diese eigenwillige, dezent countryeske Americana-Singer/Songwriter-Nummer ist wirklich gelungen. Hoffentlich ruft da mal nicht demnächst jemand aus Nashville oder Austin an – ich möchte gerne vorher noch mein Yasi-Prog-Rock-Album. Fazit: Weiterhin eine spannende Künstlerin – mit unerwarteten Perspektiven! lt

Yasi Hofer hat mit diesem Album ein paar spannende Wege aufgezeigt, die sie in Zukunft noch mit uns und ihrem Trio (mit Drummer Christoph Scherer und Bassist Steffen Knauss) gehen wird. Das Album kann man direkt bei der Erzeugerin kaufen, und bei diesem schön gestalteten DigiPak mit dickem Booklet lohnt sich das wirklich! Hier geht’s zum Shop!

MAREILLE MERCK LARUS: STILLE WASSER

Die ersten Töne dieses sehr räumlich aufgenommenen Albums fühlen sich an, wie wenn man auf eine offene Proberaumtür zugeht. Ein paar ruhige, transparente Stratocaster-Sounds dezentes Schlagzeug, und dann geht’s los. Mareille Merck, 1996 in Stralsund geboren, greift in die Saiten, im wahrsten Sinn des Wortes. Ihr Fingerstyle-Ansatz verwebt mühelos fette Singlecoil-Lines mit Double-Stops und kräftigen Akkorden, bei denen stilistisch wie klanglich die Grenzen zwischen Rock, Jazz, Blues und dem Rest der Musikwelt verschwimmen.
Die in der Schweiz lebende Musikerin hat u.a. bei Lionel Loueke, Wolfgang Muthspiel, Frank Möbus, Kalle Kalima und Roberto Bossard Gitarre studiert. Mit ihrem Trio-Projekt Larus interpretiert Mareille Merck eigene Kompositionen; 2021 erschien das Debüt-Album ,Fadenschlag’, eine Nominierung für den ZKB-Jazz-Preis und Arbeitsstipendiem der Stadt Zürich zur Unterstützung ihrer Arbeit an künstlerischen Projekten, folgten.
Gemeinsam mit Kontrabassist Florian Bolliger und Schlagzeuger Janic Haller hat sie ,Stille Wasser’ eingespielt, ein Album, das vom ersten Ton an mit sehr plastischem Live-Sound punktet und musikalisch vom sehr eigenen spielerischen Ansatz der Gitarristin lebt, die sich, wie z.B. in Kap Arkona’ immer wieder in eigenwillige Singlenote-Linien und Repeating-Patterns steigert, die mal in fette, mal zurückhaltende Akkorde oder Arpeggios münden, um dann zum jeweiligen Thema zurückzufinden. Die schönen cleanen Gitarren-Sounds mit Hall lassen die Feinheiten ihres Stils am besten erkennen, was in einem Track wie ,Nebula’ besonders gut rüberkommt. Und man sollte sich auch mal Mareilles Videos anschauen, denn was sie da mit den sechs Saiten ihrer Stratocaster anstellt, ist schon ganz besonders. Weitere Infos: www.mareillemerck.com lt / G&B

Eine schon rein akustisch ansprechend produzierte Aufnahme kann Türen öffnen. Beim ersten Anhören von ,Stille Wasser’, dem zweiten Album der in der Schweiz lebenden und arbeitenden Gitarristin aus Stralsund, fühlte ich mich förmlich in die Musik hineingezogen. Innerhalb dieser virtuellen Räumlichkeit geht die 1996 geborene Mareille Merck sehr eigene Wege auf ihrem Instrument. Sie revolutioniert zwar nicht die bisherigen Spieltechniken, mischt sie aber ordentlich durch und setzt auch folkiges Fingerpicking und funky Licks in einem sehr jazzigen Kontext ein. Unterstützt wird sie dabei von Kontrabassist Florian Bolliger und Schlagzeuger Janic Haller, die mal zurückhaltend tragen, dann aber auch mal konterkarieren und so spannende Kontraste erzeugen. Anspieltipps sind das sehr originelle und abwechslungsreiche ,Kap Arkona’ und das raue, mit verzerrter E-Gitarre interpretierte ,Hit The Mark’.  Mareille Merck hat bei Gitarristen wie Lionel Loueke, Wolfgang Muthspiel, Frank Möbus, Kalle Kalima und Roberto Bossard studiert und nach ihrem 2021 erschienenen Debüt ,Fadenschlag’ diverse Nominierungen und Stipendien erhalten – diese Förderung hat sich gelohnt. Eine interessante junge Künstlerin.

Lothar Trampert / Jazzthetik

RUPI: IMMER SPASS AUF DEN BACKEN

Der Album-Titel klingt irgendwie beunruhigend nach Ruhrpott-Comedy, finde ich – und daher stellte sich nach den ersten Minuten Musik ein ganz breites Grinsen ein: Relaxter, funky Crossover-Groove mit originellen Bläser-Arrangements, Percussion, geschmackvollem Keyboard-Einsatz, und darunter wirbelt ein Jazz Bass im bekannten Sound, wobei man nie weiß, ob er jetzt gerade mal zu einem Solo ansetzt oder einfach nur die Musik mit komplexen Pattern trägt. Oder beides tut. Der Bandleader und Mann am Bass heißt Wolf-Ruprecht Schwarzburger, kurz Rupi, und ,Immer Spass auf den Backen’ ist sein drittes Album auf dem Düsseldorfer Label Jazzsick. Rupi spielt auch hier wieder, wie schon auf seinem 1999er Debüt ,Die Sonne’, dass 2019 neu aufgelegt und hier vorgestellt wurde, knackige Instrumentals. Eigenkompositionen in Arrangements zwischen Jazz, Funk, Pop und Rock. Neben Bassist Schwarzburger sind noch Fares Naber (kb), Sameh Mina (dr), Selman Sezek (darbuka), Yavuz Duman (tp/flh), Thorsten Heitzmann (tb) und Reiner Witzel (sax) zu hören, und oft kommt ihr explosives Zusammenspiel wie eine absolut gelungene, gut gelaunte Jam-Session rüber, die einfach nur entspannt groovt. Ein Album, das Spaß macht. Tipp zum Weiterhören: ,Das Konzert Album’ von Rupi ist ein feiner Live-Mitschnitt vom August 2021, in dem man die o.g. Musiker in Höchstform erlebt. Mehr Infos & Musik: www.schwarzburger.com lt

Isabelle Bodenseh Flowing Mind

ISABELL BODENSEH: FLOWING MIND

Isabelle Bodenseh ist Jazz-Flötistin und arbeitet in vielen verschiedenen Projekten, ist als Theater- und Studio-Musikerin aktiv und hat an mehr als dreißig Album-Produktionen mitgewirkt. Nach ihren letzten drei Produktionen unter dem Projektnamen „Jazz à la flute“, die sie mit dem großartigen Gitarristen Lorenzo Petrocca einspielte, ist jetzt mit ,Flowing Mind’ formell das Solo-Debüt der Flötistin erschienen, bei dem Bodenseh & Petrocca von Organist Thomas Bauser und Lars Binder am Schlagzeug unterstützt werden. Was direkt beim ersten Track auffällt ist, dass hier erstklassige Band-Player am Start sind – alle Beiträge sind präsent, drängen sich aber nie nach vorne sondern ziehen das Ganze nach oben. Nach wenigen Takten ist dann im Album-Opener ,ConFluting’ eine warme, tiefe Flötenstimme zu hören, die sich über dezente Hammond-Chords legt – und bei beiden Instrumenten kann man direkt mal alle Vorurteile vergessen. Die Bass-Querflöte ist, neben der normalen C-Flöte, noch in mehreren Stücken von ,Flowing Mind’ zu hören, und sie harmoniert perfekt mit Gitarrist Lorenzo Petrocca, der mit dem warmen Ton seiner Archtop tolle Soli beisteuert. Swingender, harmonischer Mainstream-Jazz, Latin, Soul-Grooves können immer noch spannend sein, wenn sie mit Feeling interpretiert werden. Und das haben Isabelle Bodenseh, Lorenzo Petrocca, Thomas Bauser und der großartig tragende Drummer Lars Binder absolut drauf. Ein gelungenes Album (im DigiPak mit Booklet) und ein Live-Tipp. Weitere Infos: www.isabellebodenseh.de lt

JOHN SCOFIELD: INSIDE SCOFIELD

Nein, ich stelle kein neues Album von John Scofield vor – sondern ein Filmdokumentation des deutschen Produzenten Joerg Steineck, in der er den mittlerweile 71-jährigen amerikanischen Jazz-Gitarristen erzählen lässt. Da ich selbst seit Ende der 70er-Jahre absoluter Scofield-Fan bin und seitdem jedes Album, jede Kooperation und jede Tour verfolgt habe, spüre ich eins sofort: Diese Dokumentation ist mit Liebe, Respekt und Feeling gemacht, und ich tippe mal, dass Jörg Steineck ein mindestens so großer Sco-Fan ist wie ich. Denn er hat Bilder geschaffen, die zu diesem Musiker und Menschen passen, hat ihn von Begegnungen, Berührungen, Herausforderungen und Inspirationen erzählen lassen und hat einfach sensibel zugehört. Die 88 Minuten dieser Dokumentation zeigen John Scofield auf Tour, mal im Bus, dann im Zug, mal im Club, dann aber auch zu Hause mit der Akustikgitarre, mal witzig, mal sehr nachdenklich – und immer absolut menschlich. John Scofield zeigt hier auch seine sensible Seite, wirkt dabei sehr offen, erzählt von Ibanez und seiner Gitarre, davon dass seine Frau und Managerin Susan eher kamerascheu ist, von seinen Begegnungen mit Miles Davis und Charles Mingus, und vieles mehr. Diese großartige Dokumentation ist ein Muss für Scofield-Fans. Sie ist als DVD und Stream erhältlich, die Film-Sprache ist Englisch, zuschaltbare ebenfalls englische Untertitel helfen beim Verständnis. Und dann ist da noch Scofields Musik: Neben kürzeren Ausschnitten verschiedener älterer Produktionen ist immer wieder die vom 1988 erschienenen Album ,Combo 66’ bekannte Besetzung mit Pianist & Organist Gerald Clayton, Bassist Vicente Archer und Drummer Bill Stewart live zu erleben. Das Album habe ich dann nach der Doku noch mal gehört – und am nächsten Abend noch mal ,Inside Scofield’ angeschaut. Absolut gelungen – und so faszinierend und berührend wie das Gitarrenspiel dieses legendären Jazz-Musikers. Hier gibt’s die DVD und den Stream: scofield.joerg-steineck.com lt


JO AMBROS: HOW MANY TIMES

Ein Jazz-Gitarrist mit einem Statement: Denn die sieben Tracks auf Jo Ambos’ Album haben alle etwas mit dem Wunsch nach Frieden zu tun, mit der verlorenen Leichtigkeit, die wir vielleicht erst erkannt und zu schätzen gelernt haben, seit immer wieder schlechte Nachrichten unsere Tage beenden und beginnen. Es sind Protestsongs aus den USA, Frankreich und Spanien. Pete Seegers ,Where Have All The Flowers Gone’, Billie Holidays ,Strange Fruit’, John Lennons ,Give Peace A Chance’ …. der 1973 in Böblingen geborene und heute in Berlin lebende und arbeitende E-Gitarrist interpretiert hier instrumental, mit cleanem Ton, leicht surfigem Touch und im Fall von Bob Dylans ,Blowing In The Wind’ auch nicht ganz humorfrei.
Jo Ambros hat Jazz- und Popularmusik studiert, mit Max Raabes Palastorchester, Jazzanova, den Bremer Philharmonikern, Bosse, dem Ensemble Modern, Max Herres Freundeskreis, David Orlowsky’s Klezmorim. u.a. gearbeitet und wurde bereits 2004 mit dem Jazz-Preis Baden-Württemberg ausgezeichnet. Seine künstlerische Vielseitigkeit hört man auch auf diesem Konzept-Album raus, bei dem er von Bassist Dieter Fischer und Drummer Johann Polzer begleitet wird. in Sam Cookes ,A Change Is Gonna Come’ verbinden die drei Musiker dann noch mal das Beste aus Jazz, Soul, Surf und Saiten-Sounds zu einem schönen Stück Musik. Mein Highlight dieses Albums ist Billie Holidays Ballade ,Strange Fruit’, ein zeitloses Statement gegen Rassismus, Hass, Mord und Unterdrückung, in dem Ambros mit rauher Slide-Gitarre und seinem Fender Deluxe Reverb Amp zu hören ist, vor den er noch einen Okko TwinSonic, einen Rat-Verzerrer und ein Strymon Flint bzw. Brigadier für Tremolo und Delay geschaltet hatte.
Das gesamte Album wurde übrigens mit einer Hopf Saturn 63 Semiacoustic mit Flatwound-Saiten eingespielt.

Mehr über Jo Ambros erfährt man bei http://www.joambros.de – seine Musik und die in einem Poster-Booklet verpackte CD gibt’s bei joambros.bandcamp.com. Hier kann man dann auch das 2020 erschienene Album ,Bread And Roses’ entdecken, auf dem das Trio stilistisch etwas vielseitiger, zwischen Country-Tristesse, sphärischen Hall-Sounds, Latin-Ausflügen und rockigen Fuzz-Gitarren agiert. Auch spannend. Reinhören! lt

ARILD ANDERSEN GROUP: AFFIRMATION

Der norwegische Jazz-Kontrabassist und Komponist Arild Andersen (*1945) war von 1967 bis 1973 Mitglied des Jan Garbarek Quartet und 1971 auch auf dem ECM-Debüt von Terje Rypdal zu hören. Aber er spielte auch mit US-Größen wie Phil Woods, Dexter Gordon, Hampton Hawes, Johnny Griffin, Sonny Rollins und Chick Corea. Sein neues Album schwebt wieder ganz in nordischen Sphären und präsentiert sehr entspannte, schöne Musik mit viel Raum und warmen Farben. Beim genau für diese bewährten Zutaten bekannten Münchener Jazz-Label ECM ist Arild Andersen schon seit mehr als einem halben Jahrhundert unter Vertrag. Seine aktuelle Group ist jünger: zu dem Quartett gehören der norwegische Tenor-Saxophonist Marius Neset, Pianist Helge Lien und Schlagzeuger Håkon Mjåset Johansen, die sich in diesen im November 2021 im Osloer Rainbow Studio aufgenommen acht Tracks auch mal energetisch in Rage spielen können. Um dann wieder zu Transparenz und Harmonie zurückzufinden, in der man immer wieder von Arild Andersens großartigem Kontrabasston begeistert wird, der sehr plastisch rüberkommt. Ein absolut interessanter Bassist, sowohl als Solist, als auch im tragenden Untergrund. Von Arild Andersen kann man spielerische Ökonomie bei maximalem Ausdruck lernen. Toller Musiker, gute Band, gelungenes Album. lt

LISA WULFF: BENEATH THE SURFACE

Vor ein paar Monaten habe ich an dieser Stelle von Bassistin Lisa Wulff das großartige Album ,Sense And Sensibility’ vorgestellt. Grund genug, auf den Vorgänger hinzuweisen, zumal in den vergangenen zweieinhalb Jahren so einiges an Veröffentlichungen untergegangen ist bzw. nicht wahrgenommen wurde. Im Fall von ,Beneath The Surface’ wäre das sehr schade, denn alleine schon rein klanglich ist diese Aufnahme ein Genuss. Neben Lisa Wulff – hier am Kontrabass und mit Sopran-E-Bass aktiv – sind noch Adrian Hanack (ts/fl), Silvan Strauss (dr), sowie bei einzelnen Tracks Yannis Anft (p/synth), Frank Chastenier (p) und Miroslava Streychinska (harp) zu hören. Und auch hier erlebt man nicht nur anspruchsvolle Kompositionen sondern auch abwechslungsreiche Arrangements und originelle Mixes, was Raum-Sounds angeht. Lisa Wulffs tiefe aber transparente Basstöne und -Linien prägen ihre Musik unauffällig und intensiv zugleich. Eine großartige Musikerin! lt

JAKOB BRO & JOE LOVANO: ONCE AROUND THE ROOM. A TRIBUTE TO PAUL MOTIAN

Er war einer der ganz Großen des modernen Jazz-Schlagzeugspiels: Als Paul Motian am 22. November 2011 im Alter von 80 Jahren starb, konnten seine Fans auf eine über ein halbes Jahrhundert dauernde Karriere zurückblicken, und auf Aufnahmen mit Legenden wie Pianist Bill Evans, Scott LaFaro, Tony Scott, Oscar Pettiford, Lennie Tristano, George Russell und Sonny Rollins u.v.a. Im November 2021 hatten sich mit dem dänischen Jazz-Gitarristen Jakob Bro (1978) und dem amerikanischen Saxophonisten Joe Lovano ( 1952) zwei Weggefährten von Paul Motian zusammengefunden, um ihm ein Tribute-Album zu widmen. Lovano und Motian hatten gemeinsam mit Gitarrist Bill Frisell drei Trio-Einspielungen veröffentlicht, Jakob Bro hatte 2006 ,Garden Of Eden’ mit Motian aufgenommen. Auf ,Once Around The Room’ sind, neben je zwei Kompositionen der beiden Bandleader, noch Paul Motians Komposition ,Drum Music’ und mit ,Sound Creation’ eine Kollektiv-Improvisation zu hören, an der noch die Kontrabassisten Larry Grenadier und Thomas Morgan, außerdem Anders Christensen am E-Bass und Joey Baron und Jorge Rossy an den Schlagzeugen beteiligt waren. Ein ungewohnt und groß besetztes Ensemble, das trotzdem sensibel und transparent rüberkommt – so wie es der gefeierte Schlagzeuger nun mal bevorzugte. Gitarrist Jakob Bro versucht hier erst gar nicht Motians Favoriten Bill Frisell zu ersetzen sondern geht eigene Wege: mal mit warmem aber klaren Ton, dann mit verfremdeten E-Gitarrenklängen, die sich im letzten Album-Track ,Pause’ in tiefen Hallräumen und ein paar wunderschönen Arpeggios auflösen. Hier waren sensible Musiker und Könner mit großem Respekt an der Arbeit. Ein beeindruckendes, modernes Jazz-Album. lt

SUPERLÄUCHE: SUPERLÄUCHE

Fonkeeey! Zugegeben, beim Namen „Superläuche“ hätte ich eher auf ein neues Hipster-Nahrungsmittel getippt als auf eine Band, die so extrem knackig, virtuos, scharf und funky zur Sache geht. E-Gitarrist Lars Schurse kannte ich bisher in erster Linie als countresken Überpicker mit G.I.T.-Abschlusszeugnis, Bassist Christoph Herder als Session-Player und Lehrbuchautor, und Drummer Gerald Lieberum überhaupt nicht; dabei ist er seit 25 Jahren in allen möglichen Stilrichtunge aktiv, hat Musicals, BigBands, Reggae-Combos und Kreuzfahrtschiffe betrommelt. Als Band lassen diese drei Musikern ihren diversen Vorlieben freien Lauf, spielen Instrumentals die mal grooven, mal skurril marschieren, mal richtig scharf nach Oldschool Black Music klingen, und dann auch mal quirlige Country-Licks mit viel Humor an coolen Slap-Bässen servieren. Humor braucht man auch als Hörer, und Dogmatiker werden beim Genuss dieses Produkts Haarausfall bekommen. Aber die Spielfreude der Superläuche ist absolut ansteckend, ihr Groove zieht einen vom Sofa und Lars Schurses tighte Funk-Licks sind ganz großes Gitarrenkino. Seite 2 der vorliegenden Vinyl-LP startet dann auch noch mit einer extrem coolen Soundtrack-Nummer, die an amerikanische Blaxploitation-Kinofilme wie Coffy, Foxy Brown und natürlich Shaft erinnern. OK, jetzt bin ich Fan! Eine tolle Band die extrem gute Laune auf hohem musikalischen Niveau rüberbringt. Besuche superlauche.bandcamp.com! lt

JEFF DENSON, BRIAN BLADE, ROMAIN PILON: FINDING LIGHT

E- und Kontrabassist Jeff Denson, Gitarrist Romain Pilon und Ausnahme-Schlagzeuger Brian Blade sind schon ein cooles Team. Gleichberechtigt als Solisten waren sie schon auf ihrem 2019 erschienenen Debüt ,Between Two Worlds’, drei Jahre später klingen sie noch etwas euphorischer und verspielter. Sechs der zehn Tracks stammen von Jeff Denson, vier von Gitarrist Pilon, der hier durchgehend mit einem mittigen, halligen Ton und langen Singlenote-Lines präsent ist. Im vierten und längsten Album-Track, dem etwas freier angelegten ,A Moment In Time’ (07:44 min), blüht er dann aber auf und überzeugt mit abstrakte Sounds und Noises, unterstützt von seinen beiden Begleitern, die hier einen pulsierenden Untergrund kreieren, aus dem sich gegen Ende ein sehr relaxtes, balladeskes Thema rausschält. Die übrigen Tracks sind dann wieder etwas konventioneller ausgefallen, alle ruhig, teils etwas an Pat Methenys erinnernd, aber ohne dessen hymnische Melodien und seine dynamische Dramaturgie. Die großen bzw. intensiven Spannungsbögen vermisst man hier oft etwas. Im letzten Track von ,Finding Light’, dem Sixto Díaz Rodríguez (bekannt aus dem Dokumentarfilm „Searching For Sugarman“) gewidmeten ,Sixto’, geben die drei Musiker dann aber doch noch mal Gas und ziehen aus dem anfangs ebenfalls eher ruhigen Thema dann doch noch eine Menge Energie. lt

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