Zum ersten Mal kam ich mit der Musik von Volker Kriegel in Berührung durch das Radio: Die Jazz-Sendungen des Südwestfunks waren legendär, so wie der damals, in den mittleren 70er-Jahren leitende Redakteur Joachim-Ernst Berendt. Der hatte neben seinem imer wieder überarbeitet erschienenen Standardwerk “Das Jazzbuch” auch noch eine Menge anderer Bücher veröffentlicht, aber auch Festivals, Dokumentationen und eben hervorragende Radiosendungen produziert. Ich konsumierte mit Hilfe des legendären Grundig Hit Boy – ein absolut großartiges Gerät, mit dem man über Kurzwelle auch die endlosen Zahlenreihen des DDR-Geheimdiensts abhören konnte: Dreizeng, Siebän, Dreizäng, Noin … Jazz war da schon unberechenbarer.
Es war das 1976 veröffentlichte Album ,Topical Harvest‘, über das ich die Musik von Volker Kriegel kennenlernte. Von dieser LP wurde in einer der SWF-Jazz-Sendungen das Stück ,Circus Gambet‘ gespielt – und das berührte mich auf ganz eigene Art. So etwas hatte ich noch nicht gehört oder empfunden. Das war eine neue Qualität von Blues oder Blue Mood, ganz anders als die amerikanische Tradition oder die skandinavische Variante von Terje Rypdal auf ,Odyssey‘ – ein Album, das ich ebenfalls in dieser Zeit entdeckte.
,Topical Harvest‘: Es spielten Volker Kriegel (e-g), Rainer Brüninghaus (kb), Hans Peter Ströer (b), Ray Mantilla (congas), Peter Giger (perc) und Joe Nay (dr).
Dieses großartige Album läutete 1976 die elektrische Kriegel-Phase endgültig ein, die ganz elegant wegführte vom spröderen, jazzigeren Spiel der früheren Aufnahmen, hin zu einem sehr eigenen Sound zwischen Jazz, Rock, Pop und Elementen südamerikanischer und anderer außereuropäischer Musik. Alleine die ersten drei Songs, ,Hypnotic Pignose‘, ,Circus Gambet‘ und ,Hallo Albert‘ zeigen Kriegel als einen der intelligentesten Komponisten und Arrangeure seines Genres. Ich war beeindruckt und fühlte mich wohl auf dem neuen Planeten – obwohl es dort noch relativ leer war …
Dann entdeckte ich das United Jazz & Rock Ensemble. Dann entdeckte ich das Dave Pike Set, von denen ich ganz sicher schon was im SWF-Jazz-Radio gehört hatte. Ich hatte Volker Kriegel entdeckt.
Volker Kriegel, geboren am 24. Dezember. 1943 in Darmstadt, galt ab Ende der 60er-Jahre als wichtigster deutscher Jazz-Gitarrist. Aus der vorangegangenen Generation ist heute noch der Exil-Ungar Attila Zoller bekannt, der stilistisch immer zwischen den Polen „gemäßigt Free“ und „coole Standards“ pendelte, die nächste Generation nach Kriegel führte Michael Sagmeister an, dessen Spiel eher BeBop-geprägt ist.
„Ich bin nie ein BeBop-Musiker gewesen“, wird Kriegel in Martin Kunzlers „Jazz-Lexikon“ (1988) zitiert, „und ich habe immer versucht, meine Musik dem Publikum verständlich zu machen. Wir versuchen eine Balance zwischen dieser Zugänglichkeit und intelligenter, guter Qualitätsmusik zu halten.“
Kriegel ist Autodidakt und er gewann 1963/64 mit 20 Jahren u. a. zwei Preise als bester Gitarrist/Solist beim Düsseldorfer „Amateur-Jazz-Festival“. Während er in Frankfurt Soziologie studierte, spielte er bereits damals mit amtlichen Musikern wie Klaus Doldinger, den Brüdern Emil und Albert Mangelsdorff, Ingfried Hoffmann, Freddie Hubbard, Percy Heath u. a. zusammen; seinen Durchbruch hatte er 1968 mit einem ersten eigenen Album (,With A Little Help From My Friends‘) und einem Auftritt beim „Deutschen Jazz Festival“ in Frankfurt.
Von 1969 bis 1972 war Kriegel regelmäßig mit dem „Dave Pike Set“ zu hören, der Band um den gleichnamigen amerikanischen Vibraphonisten, den Bassisten Hans Rettenbacher und Drummer Peter Baumeister. Die Formation spielte auf fast allen wichtigen internationalen Festivals und veröffentlichte sechs Alben.
1971 erschien dann auch ein weiteres Kriegel-Solo-Album, ,Spectrum‘, gefolgt von ,Inside: Missing Link‘ (1972), ,Lift‘ (1973) und ,Mild Maniac‘ (1974). Bei ,Lift‘ arbeitete der Gitarrist u. a. mit Bassist Eberhard Weber und Geiger Zbigniew Seifert zusammen, zwei ganz zentralen Individualisten des europäischen Jazz. In der folgenden Zeit komponierte Kriegel auch für Rundfunk und TV, und spielte u. a. mit Don Sugarcane Harris und Alexis Korner zusammen. Und dann produzierte er 1975 1976 ,Topical Harvest‘.
Wichtig waren aber auch immer die Kriegel-Bands: Die ’73er Formation, mit Bassist Weber, dem Drummer Joe Nay und Keyboarder Rainer Brüninghaus hieß „Spectrum“ und spielte das o. g. Album ,Mild Maniac‘ ein, benannt nach einer von Kriegels Cartoon-Figuren – denn dieser Musiker ist auch als Zeichner talentiert. Ab 1976 gab es dann das „Mild Maniac Orchestra“, ein Projekt aus dem Musiker wie der Bassist Hansi Ströer und Keyboarder Thomas Bettermann hervorgingen. Es folgen einige interessante Alben, die teilweise die Qualitäten von ,Topical Harvest‘ weiterspinnen (,Octember Variations‘ von 1976 und das im folgenden Jahr erschienene Album ,Elastic Menu‘), dabei aber zunehmend lockerer, verspielter und mehr europäisch funky werden (,House Boat‘ von 1978, bis ,Schöne Aussichten‘ aus dem Jahr 1983). 1987 erschien dann ,Palazzo Blue‘, eingespielt mit Thomas Bettermann (kb), Christof Lauer (sax), Michael Schürmann (b) und dem fantastischen Drummer Thomas Alkier, danach wurde es etwas ruhiger um Kriegel.
Regelmäßig gespielt hat er seit Mitte der 70er-Jahre immer wieder mit der Band der Bandleader, dem „United Jazz & Rock Ensemble“ – die Formation entstand als musikalisches Rahmen-Konzept einer ARD-Jugendsendung („Elfeinhalb“). Bevor sich nämlich die immer noch bestehende Formation um Gitarrist Kriegel, Bassist Eberhard Weber, Pianist Wolfgang Dauner, Drummer John Hiseman, Posaunist Albert Mangelsdorff, Saxophonistin Barbara Thompson endgültig gefunden hatte, waren immer wieder mal interessante Aushilfskräfte am Start, u. a. der Tuba-Virtuose Howard Johnson und auch mal der damals noch sehr junge Gary Moore – er wurde angeblich vom Schulhof direkt ins TV-Studio entführt. Wenn nicht sogar vom Kindergarten.
Nach dem Ende von „Elfeinhalb“ kam dann 1976 das ARD-Pseudo-Familien-Idyll „Goldener Sonntag“ mit Kabarettist Hanns Dieter Hüsch – und „United“ war wieder dabei. Hüschs Serien-Tochter spielte die Münchener Schauspielerin Magdalena Thora, die später bekannt wurde als Jazz-Gitarristin: Leni Stern.
Ein Abschlusskonzert nach Beendigung der Serienproduktion war dann Anlaß für einen Live-Mitschnitt (,Live im Schützenhaus‘, 1977), dessen sensationeller Erfolg dann wohl auch der Grund für weitere Aktivitäten der Band war. Veröffentlicht wurde das genannte Album auf dem eigens gegründeten Label Roots, das kurz darauf in Mood umbenannt wurde. Die originell designten schwarzweißen Alben wurden exklusiv vom Frankfurter Mailorder-Anbieter „Zweitausendeins“ vertrieben.
INTERVIEW
Ich traf Volker Kriegel ein einziges Mal persönlich, das war am 18. März 1997 in einem Kölner Hotel. Ein ruhiger Mensch, der aber immer wieder Sätze mit interessanten inhaltlichen Pegelspitzen formulierte, und ein bodenständiger intellektueller Anzugträger, der mehr authentische Street Credibility verströmte, als mancher Punk-Darsteller. Ein Interview, das mich über die vielen Jahre, langsam und leise immer stärker beeindruckt hat.
Vor kurzem wurde eine Compilation von Musik des Dave Pike Set auf CD veröffentlicht …
(Kriegel nickt) Das war eine irritierende Erfahrung für mich, noch mal diese alten Sachen zu hören. So etwas versetzt einen dann schlagartig in eine andere Lebensphase – die Sachen wurden um 1970 aufgenommen.
Deine ersten Platten sind bei MPS aka „Musik-Produktion-Schwarzwald“ erschienen …
Ich hatte damals immer freie Hand, was meine Musik anging; da hat mir niemand reingeredet. Willy Fruth war zu der Zeit der Chef-Produzent und die rechte Hand des Inhabers von MPS. Er war ein Jazz-Liebhaber, hatte gute Ohren und kannte sich gut aus. (Kriegel sagt „Jatz“ statt „Jazz“; d. Verf.) Ich hatte ihn bei den Aufnahmen mit Dave Pike kennengelernt, und als dann meine eigene Platte anstand, hat er mich einfach machenlassen. Nach zwei Tagen hatte ich dann so viele Stücke aufgenommen, und ich rief ihn an und fragte: „Sollen wir nicht vielleicht ein Doppelalbum machen?“ Zu meiner Überraschung hat er ja gesagt, und wir konnten noch zwei Tage aufnehmen. So entstand dann in vier Tagen ,Missing Link‘.
Ich muss natürlich dazu sagen: Wir haben damals nicht so produziert wie heute; in höchstens drei, vier Tagen musste die Sache fertig sein. Das war das alte Modell, wo man einfach ins Studio ging, alles hintereinander eingespielt hat, vielleicht noch einen zweiten Take, und das war’s.
Bei Labels wie Enja oder ECM lief das später, in den 80er Jahren, auch nicht anders …
Die haben das auch so gemacht. Bei ,Elastic Menue‘ hat dann die Mehrspur-Geschichte für uns so richtig angefangen, da konnte man dann schon mal ein Solo neu spielen, das Thema doppeln oder noch eine Oktav drüberlegen … Aber wie gesagt, ich hatte bei MPS fast ideale Produktionsbedingungen …
Und dann gab es ein neues Label: „Mood“.
… und der Unterschied lag weniger in den Umständen des Aufnehmens. Hier hat man nicht mehr ein fertiges Produkt abgegeben, das dann irgendwie verpackt rauskam und vertrieben wurde. Bei Mood haben wir mitgeredet, wie das Cover aussehen sollte, wo die Kohle hängenbleibt und wie alles verteilt wurde. Es lag also alles, vom ersten Einfall bis zum Verkauf, auch in den Händen der Musiker.
Wie sah denn der Unterschied auf der finanziellen Seite aus? Wieviel mehr ist bei den Künstlern hängengeblieben?
Da ist schon deutlich mehr hängengeblieben … Ich habe die genauen Zahlen nicht im Kopf; aber wenn ich vorher 10 Prozent vom Händlerpreis bekam, dann gab es bei Mood 20 Prozent. Sie haben die Platten eben direkt an Zweitausendeins verkauft, ohne Zwischenhändler. Wir hatten auch nur einen „Bürovorsteher“, keine weiteren Angestellten – da ist natürlich mehr bei den Musikern hängengeblieben. Natürlich musste jeder Musiker dafür selbst überlegen, wie aufwendig er die Sache produziert; es gab nämlich erst Geld, wenn der Break Even erreicht war, wenn also das eingespielt war, was die Produktion gekostet hatte. Vorher gab’s nichts. Und das war ein fairer Deal.
Und wie sah die Erfolgsquote aus? Wie viele Leute haben nichts bekommen?
Nichts bekommen hat glaube ich niemand, alle haben was bekommen. Manche allerdings erst ziemlich spät …
Für einige Musiker war das Label ein Sprungbrett: Michael Sagmeisters erste Alben waren auch Mood-Platten.
Für ihn war das gut damals; er hatte so einen gewissen Familienanschluss gefunden, da war eben schon eine richtige Szene … Und ich denke auch, die Sache mit Zweitausendeins (als Exklusivvertrieb) war richtig. Viele Musiker meinten zwar, die Platten müßten in die Läden, aber ich denke, wir haben die potentiellen Kunden auch so erreicht. Die Zweitausendeins-Kunden und diese Jazz-Szene haben sich ziemlich gedeckt. Und außerdem: Die meisten Jazz-Platten findet man sowieso nicht in den Plattenläden, wenn man sie sucht. Deswegen war das keine Einschränkung …
Wie viele Einheiten hat denn z. B. ein Album wie ,Missing Link‘ Anfang der 70er verkauft?
Mit ,Missing Link‘ hatte ich Glück, das hat sich sehr gut verkauft. Im ersten Jahr waren das, glaube ich 7000 – und das war sensationell für eine solche Musik, und es war ein Doppelalbum. Im Laufe der Jahre wurden davon dann knapp über 20.000 verkauft; und 5000 war schon eine gute Zahl damals …
Ist es heute auch noch …
(grinst) Ja, so viel hat sich da nicht geändert.
Wie war denn damals, Anfang der 70er-Jahre, die Stimmung für diese schrägeren Jazz-Rock-Experimente.
Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, was damals für erbitterte Debatten geführt wurden – in den 70ern nicht mehr so, aber in der Mitte der 60er Jahre. Da war das wirklich so was wie ein Sakrileg, wenn man Rock-Elemente in den Jazz gebracht hat; das hieß damals ungefähr, die wahre Sache zu verwässern. Die wahre Sache war nämlich klar unkommerziell; der Jazz musste unverstärkt gespielt werden, keine Achtelrhythmen – verstärkte Gitarren oder Verzerrer kamen aus der kommerziellen Welt und gehörten nicht zur reinen Lehre. Heute ist das alles lächerlich, diese Diskussionen, aber damals gab es eben zwei Lager: Die einen waren die Jazz-Musiker der älteren Strickart, die teilweise noch unter den Nazis gelitten hatten, so wie Emil Mangelsdorff, der ältere Bruder von Albert. Für diese Generation war Jazz weltanschaulich was ganz anderes als für uns; für ihn war das der Inbegriff von Antifaschismus, Freiheit, Kreativität und sonst was und Widerstand und noch was – eine sehr heilige Sache, emotional hoch besetzt, was ich aus seiner Biografie heraus ja auch verstehen kann. Wir haben das immer spielerischer betrieben, juxiger, und wir haben uns auch darüber lustig gemacht. Wir haben dann auch mal was von Zappa gespielt, oder Beatles-Lieder – das war für die orthodoxe Jazz-Szene damals aber zu aufmüpfig.
Eine Platte wie ,Missing Link‘ war zu dieser Zeit schon ziemlich gewagt, das war eine Crossover-Produktion. Für die alte Jazz-Szene waren wir sehr seltsam, und die Rock-Szene fand uns immer viel zu kompliziert: „Hirnie-Musik!“, „Spinner!“ Wir saßen immer zwischen den Stühlen. Aber dann kam ja (1970) Miles Davis mit ,Bitches Brew‘, dann Weather Report und diese ganzen Sachen. Drei, vier Jahre später, Mitte der 70er Jahre, war das schon längst eine etablierte Kiste, da überstürzte sich die ganze Entwicklung.
Und die Musik wurde wieder relativ glatt, berechenbarer und uninteressanter.
Und es kamen die ganzen überproduzierten Platten, wo nur noch schnell gespielt wurde, viele Keyboards drauf waren, usw.
Welche Musiker haben dich in den ersten Jahren beeinflusst?
Ganz am Anfang, bevor es RockJazz gab, mochte ich Kenny Burrell sehr gerne, auch Jimmy Smith – diese Blues-lastigen Jazzer. Und dann gab’s ein paar ganz frühe Aufnahmen von George Benson, mit dem Organisten Jack McDuff. Das waren sehr schöne Sachen. Dann natürlich Wes Montgomery, damals habe ich versucht, die einfacheren Sachen nachzuspielen. Ich wollte von Anfang an moderneren Jazz spielen, also keinen Dixieland.
Und dann kam irgendwann John McLaughlins Akustik-Platte, ,My Goals Beyond‘ (1970), und das haute rein. Danach hat dann jeder seine drei Blues-Phrasen doppelt so schnell gespielt. Na ja, und irgendwann kam dann Pat Metheny, und der hat mich schwer beeindruckt. Das klingt jetzt vielleicht angeberisch, aber der war mir so nah, so geistesverwandt – und anschließend ging ja dann alles in diese Richtung … Inzwischen gefällt mir Scofield sehr gut; klar, wem gefällt der nicht. Aber meine Interessen sind sehr weit gestreut, ich finde an jedem etwas anderes gut. Bestimmte Sachen sind bei Bill Frisell hinreißend gut, auf der anderen Seite gibt es aber Wolfgang Muthspiel: Fantastisch! So eine komplette, souveräne Technik habe ich noch niemals erlebt. Ungeheuerlich gut! Aber wenn ich dann bestimmte Sachen von Mike Stern höre, sage ich nur: Hut ab bis zum Boden! Da gibt es eine ganze Reihe von Typen, die ich richtig gut finde; das hat sich eben im Lauf der Zeit entwickelt, von den alten Klassikern wie Jim Hall, über Pat Metheny – immer noch – bis hin zu Leuten wie Wolfgang Muthspiel.
Kennst du John Scofields ,Live‘-Album von 1977, aus dem Domicile in München? Es ist bei Enja erschienen.
Klar, genau! Das ist eine schöne Platte, die mag ich gerne. Ich habe ihn in den 70er Jahren mal mit George Duke und Billy Cobham gesehen, bei einem Open-AirGig in Köln. (grinst) Vor ihnen hat Shakti gespielt, also der McLaughlin mit den Indern: Und da haben sie sich einen abgezwirbelt, das war sehr überirdisch. Schwerer Beifall, dann kam die Umbaupause. Ja, und dann kam die andere Band mit Duke und Cobham, mit ihrem groovenden Zeug, und der Scofield spielte. Plötzlich tauchte direkt hinter ihm, in diesem weißen Nachthemd, der McLaughlin auf … (lacht laut)! Und der guckt ihm über die Schulter, was er da spielt!!! Das ist natürlich eine sehr subtile Absegnung …
Mit vielen dieser alten Sachen kommen Gitarristen, die heute anfangen, gar nicht mehr in Kontakt: Lifetime zum Beispiel …
Klar, da fällt einiges durchs Sieb … Neulich hatte ich mal eine Platte von Mark Whitfield für den NDR zu besprechen, und da kam mir plötzlich der Gedanke, daß diese allgemeine Vergeßlichkeit für Leute wie ihn ein Segen ist: Das gab es nämlich alles schon mal im Original und zum Teil wirklich so was von besser, im Sinne von lebendiger. So gut das gespielt ist, was der Whitfield da macht – aber das sind geliehene Gefühle von hinten bis vorn … Wenn ich mir bestimmte George-Benson-Platten von früher anhöre, dann sind das dieselben Sätze; aber der eine sagt sie glaubwürdig und der andere mimt sie. Und das ist eine Sache, die mir bei dieser ganzen Neo-Welle stinkt: Da wird damit gerechnet, daß wir das alles schon vergessen haben. Aber das gab es alles schon mal … Und da höre ich mir lieber die alten Knisterplatten mit den Originalen an, als irgendein Imitat.
Welche Pläne hast du für die nächste Zeit?
Da ist noch ein sehr vages Projekt: Ich wollte vielleicht mal eine Platte machen mit sehr einfachen Stücken, vielleicht eine Blues-Platte, eine sehr reduzierte Sache. Es soll natürlich nicht so eine Retro-Sache werden, sondern neue Stücke, eingespielt in kleiner Besetzung mit überschaubarem Aufwand. Aber ich bin mir noch nicht ganz klar darüber … Ich habe in den letzten Jahren nicht so viel gespielt und hatte auch keine feste Band. Entweder habe ich andere Sachen gemacht, oder ich habe mit dem United (Jazz & Rock Ensemble) gespielt. Das hat dann zu einer Lücke geführt, und ich kann jetzt nicht einfach da weitermachen, wo ich vor sechs Jahren aufgehört habe. Diese Art von orchestralem Rock-Jazz kann ich nicht mehr machen, ich glaube, das will auch keiner mehr hören. Auf der anderen Seite werde ich aber jetzt nicht auch noch ein Album mit Standards aufnehmen, nur weil alle das machen. (grinst) Das könnte ich vielleicht auch gar nicht so gut. Außerdem fände ich das überflüssig.
Welche Gitarre spielst du?
Eine alte Gibson ES, sie war ursprünglich mal stereo, aber (der Frankfurter Gitarrenbauer) Peter Coura hat sie mir umgebaut … Meine alte Sunburst ES 335 war eigentlich die beste, die ich je hatte. Irgendwann habe ich sie verkauft, da kann ich mich heute noch drüber ärgern. Vollkommener Quatsch, die hätte ich behalten müssen! Ich glaube, es war ein ’68er Modell, damals gab es die 335 mal mit einem extrem schmalen Hals. Zu Hause spiele ich manchmal eine dieser neueren Gibson-Jazz-Gitarren, ich glaube sie heißt C 4, sie ist so ähnlich wie eine ES 175. Live ist das natürlich nichts wegen dem Feedback, und sie ist auch nicht so vielseitig wie eine ES 335.
Thema „Verstärker“: Ich kann mich noch erinnern, daß du in den 70ern H/H-Combos gespielt hast.
Ja, inzwischen eine seltene Marke! Die mochte ich gerne. Von den Jazzern hat die niemand gespielt, das war mehr was für Brett-Rocker. Dann habe ich mal einen amerikanischen Transistor-Amp von Attila Zoller gekauft, der hieß „Standel“ – wunderbar. Irgendwann war er kaputt, und von der Marke habe ich nie wieder was gehört. Und dann kamen diese Verstärker von Gibson, „Lab-Series“, die hatten einen sehr schönen Klang für das, was wir damals probiert haben. In den letzten Jahren hatte ich immer zwei alte kleine Yamaha-Verstärker dabei, die gibt es auch nicht mehr. Diese Amps haben eine gewisse Schärfe, die mir eigentlich gar nicht gefällt, die aber für die Big-Band (United) sehr gut ist.
Haben sich zu deiner Anfangszeit auch so viele Jazz-Musiker intensiv mit Theorie auseinandergesetzt wie heute?
Nein. Nein. Diese ganze Jazz-Sache war learning by doing. Man hat sich Akkorde aufschreiben lassen, ein paar Harmonien erklären lassen … – man hat es sozusagen auf der Ochsentour, wie ein Lehrling gelernt. In Wiesbaden gab es damals einen Pianisten, er ist vor kurzem gestorben, und dieser Mann konnte alle Standards, mit den amtlichen Harmonien. Und der hat uns manchmal diese Sachen erklärt.
Oder man hat sich von irgend jemandem irgendwas abgeschrieben. Der Nachteil war dann, daß man oft falsche Harmonien abgeschrieben und gespielt hat, der Vorteil war, daß man dabei sehr viel Erfahrungen gemacht hat. Heute kann man an jeder Ecke Jazz lernen, das gab es damals überhaupt nicht. Die älteren haben den jüngeren die Sachen beigebracht, direkt beim Spielen. Mittlerweile sind die ausgebildeten Leute vielleicht etwas besser und geschickter, aber die wirklich originellen Musiker haben auch heute noch oft diesen hausgemachten Weg hinter sich; die anderen klingen doch alle oft sehr ähnlich, so wie die Berklee-Absolventen eben klingen. Vielleicht kann man sogar sagen, daß so etwas wie ein eigener Stil auch die Umwege, die Sackgassen, die Schwächen und die Mängel beinhaltet. Aus den eigenen Fehlern kann man auch eine Menge lernen.
Den eigenen Stil muss man also entdecken … ?
Es ist so etwas wie Trial & Error – und die Fehler gehören auch dazu. Man muss versuchen und auch mal was falsch nachgemacht haben. Wo sonst hat Allan Holdsworth diese Akkorde her? Und Pat Metheny klingt auch auf einer billigen Kaufhausklampfe oder einer Ukulele so, wie er eben klingt. Die eigene Sprache, die eigene Erzählweise ist wichtig. Es gibt viele gute Musik und wenig Bedarf an Imitaten; dafür gibt es einfach zu viele Originale. Vielleicht ist das der Knackpunkt dieser vielen Möglichkeiten Jazz zu lernen.
Und die kürzere Zeitachse: Es fehlt oft die Entwicklung über ein paar Jahre, die in der Praxis gemachte Erfahrung …
Eberhard Weber (Jazz-Bassist) war 30 Jahre alt, bevor er seine erste eigene Platte gemacht hat. Und da war er schon 10 Jahre im Geschäft. Heute rede ich mit jungen JazzMusikern, die sind 18 oder 20, und sie denken: Wenn es in dieser Saison nicht klappt, dann hat’s keinen Sinn. Da hat sich eine Ungeduld entwickelt … Natürlich sind die Zeiten auch anders, und ich will auch hier nicht den Nostalgiker spielen. Aber an Charts und Touren haben wir damals zuerst mal gar nicht gedacht, erst recht nicht daran, 5000 Platten zu verkaufen.
Und der berühmte „Plattenvertrag“ ist immer noch nicht mehr wert als der ausgefüllte Lottoschein …
Genau das meine ich! Und das glauben dir viele junge Leute heute einfach nicht.
Vielen Dank für das Gespräch!