GUTE MUSIK 24

Rezensionen von Lothar Trampert. Nur gute Musik.
Und immer mehr.  😉💥

  1. KLAUS MICHEL: STROMBOLI
  2. THE PADDY BOY ZIMMERMANN BAND
  3. MAX CLOUTH: ENTELECHEIA
  4. ANDRÉ NENDZA: 5/ 5/ 9
  5. LORENZO PETROCCA: MY FOOLISH HEART SOLO
  6. FRANK WINGOLD ENTANGLED TRIO: HIATUS BLUES
  7. MIKAEL MANI: GUITAR POETRY
  8. PHILIPP SCHIEPEK: VERSUCH ZU TRÄUMEN
  9. MANFRED JUNKER ORGAN TRIO: WHAT’S NEXT?
  10. GREGOR HILDEN ORGAN TRIO: NEW BOOGALOO
  11. RALPH BEERKIRCHER: NoHUM
  12. DEUTSCHER JAZZPREIS 2024: GITARRENFREI
  13. G.A.P.: IMPERIUM COLONIUM
  14. PAUL McCARTNEY & WINGS: BAND ON THE RUN
  15. THE SHY BOYS: PERCEPTIONS OF CALIFORNIA
  16. LISA WULFF: POISON IVY
  17. C.A.R.: GÄSTELISTE
  18. HOFER BUSCH HELD: TO TORTUGA
  19. CÉLINE BONACINA: JUMP!
  20. LEHMANNS BROTHERS: PLAYGROUND
  21. JUTTA GLASER & CLAUS BOESSER-FERRARI: RETURN & CROSSING
  22. ITALIAN ORGAN TRIO: NESSUN DORMA AND MORE ITALIAN SONGS
  23. HEINRICH VON KALNEIN & SOPHIE MIN: INTERTWINED TREES
  24. TIMO GROSS: BLACK DAWG BONE
  25. GERI ALLEN / KURT ROSENWINKEL: A LOVESOME THING
  26. CERAMIC DOG: CONNECTION
  27. HEINER SCHMITZ: HEIMATSTÜCKE
  28. FIONA GROND: POESIAS
  29. DOMINIK SCHÜRMANN ENSEMBLE: THE SEAGULL’S SERENADE
  30. WEATHER REPORT: LIVE IN BERLIN 1971
  31. HENNING SIEVERTS: BASSOLO
  32. DEREK PLAYS ERIC: A SUITE OF SOAPS
  33. MANOU GALLO: AFRO BASS FUSION

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KLAUS MICHEL: STROMBOLI

Er ist ein Ausnahmemusiker: Tunes For The Takin‘, Red Hill, Solo – so könnte man die künstlerischen Aktivitäten der vergangenen knapp drei Dekaden zusammenfassen, wenn es um den Hunsrücker Gitarristen, Sänger, Komponisten und Sound-Tüftler Klaus Michel geht. Rennradfahrer, Italien-Fan und Gitarrenlehrer ist er auch noch, und auch sonst ein Macher, der mit einer bewundernswerten Energie und Kreativität immer wieder großartige Musik veröffentlicht hat – zuletzt 2022 das Album ,The End Of The Road’. Jetzt ist Klaus mit ,Stromboli’ zurück, seinem sechsten Solo-Album, das wieder mal vor schönen, sehnsüchtigen, dezent blauen Songs und wunderbar schrägen kleinen Sound-Zutaten nur so strotzt. „Liebe und Hass, Krieg und der Wunsch nach Frieden, all das wird auf ,Stromboli’ verhandelt“, ist im Info zu lesen. Musikalisch umrahmt und trägt Klaus Michel seine Texte mit eigenwilligen Retro-Keyboard- und Gitarren-Sounds, irgendwo zwischen David Gilmour, The Edge, Prince, Americana und Psychedelic Rock, John Lennon und Daniel Lanois.
Neben Multiinstrumentalist Michel (voc, g, p, kb, dr, perc …), Bassist Kay Zingler und Drummer Oliver Kölsch waren noch fünfzehn weitere Musikerinnen und Musiker an diesem schönen Album beteiligt, das in 12 Tracks fast 50 Minuten zeitlos schöne, intensive Musik liefert. Mehr: www.klaus-michel-music.com lt

THE PADDY BOY ZIMMERMANN BAND

Eins vorab: Ein Knaller-Album! Die ersten, noch etwas verhaltenen aber schon sehr gekonnt klingenden Gitarrentöne machen neugierig – und dann setzt die Band ein. „This record should be played loud! Maybe your neighbors will like it too.“ Beides ist vermutlich wahr und richtig – und wenn man dann noch die wirklich eigenwilligen Vocals des Gitarristen & Bandleaders hört, dann ist klar: Eine coole Scheibe hat der Mönchengladbacher Paddy Boy Zimmermann (*1982) da am Start. Er arbeitet seit vielen Jahren als Studio- & Live-Musiker in diversen Bands und auch in Duos mit Rob Collins, Chris Kramer u.a.
The Paddy Boy Zimmermann Band besteht neben dem Namensgeber noch aus Rupi Schwarzburger (b) und Jan Wienstroer (dr) – zwei erfahrene Begleiter, die den wirklich beachtlichen gitarristischen Höhenflügen des Bandleaders das Fundament liefern.
Paddy Zimmermann hat in seinen Songs die Musik seiner Helden – Rolling Stones, ZZ Top, Jimi Hendrix, Rory Gallagher . – wirklich verinnerlicht, er kann einfach authentisch und gleichzeitig kreativ da anknüpfen, wo viele klassische Alben spätestens Ende der 1970er aufhörten. Auf dem Album ist typischer Trio-Blues-Rock zu hören, mit reichlich Gitarren-Overdubs, die aber wirklich intelligent und geschmackvoll arrangiert sind. Paddy hat gut zugehört – und auch selbst produziert. Abgemischt wurden die neun Songs dann von Martin Meinschäfer in den Megaphon Studios in Arnsberg – noch so ein Könner mit Geschmack & Feeling.
Das Album gibt’s als Vinyl, CD, Download & Streaming und direkt bei www.paddy-guitar.de
Es klingelt! Bin mal gespannt, was meine Nachbarn sagen … ;-) lt

MAX CLOUTH: ENTELECHEIA

Die Karriere des Frankfurter Gitarristen Max Clouth (*1985) begann spätestens mit seinem ersten Album ,Guitar’, erschienen 2011. Seitdem ist einiges passiert: 2017 erhielt Max das Jazz-Stipendium seiner Heimatstadt, 2020 war er gemeinsam mit der hr-BigBand und den Gitarristen Martin Lejeune und Torsten de Winkel, live mit Kompositionen von Volker Kriegel zu erleben, er spielte mit seiner Band Ragawerk und komponierte Filmmusik. Immer dabei: Seine beiden Lotus-Doppelhalsgitarren, die er in Zusammenarbeit mit dem Instrumentenbauer Philipp Neumann (www.neumann-gitarren.de) entwickelt hat. Musikalisch geht er auf seinem aktuellen Album ,Entelecheia’ auch sehr interessante neue Wege. Gemeinsam mit Marja Burchard (vib/voc), Bodek Janke (dr/tabla), Maasl Maier (b), Kabuki (synth) und Tony Clark (shakuhachi/sitar) entstanden sieben Tracks zwischen den Stilen: Jazz, Progressive, Avantgarde, Einflüsse ethnischer Musik und immer wieder sehr originelle Gitarren-Parts sind hier zu erleben. Die Live-im-Studio-Aufnahmen der Kernbesetzung wurden anschließend von Clouth umfassend bearbeitet und noch von Beiträgen musikalischer Gäste ergänzt. Resultat ist eine absolut gelungene Produktion, eine echte Klangreise durch schöne und spannende Musik. lt

ANDRÉ NENDZA: 5/ 5/ 9

Was für ein beständiger und dabei immer wieder überraschender Künstler! Ich liebe Überzeugungstäter wie den Bassisten André Nendza – wie sonst soll man einen Musiker charakterisieren, der in diesen nicht einfachen Zeiten ein 3CD-Set im schönen Digipak herausbringt, auf dem er in zwei verschiedenen Quintett-Besetzungen und dann noch mal mit allen gemeinsam als Nonett zu hören ist. Nachdem wir jetzt also den Album-Titel dechiffriert haben, zur Musik: Die kommt von den Angelika Niescier (sax), Matthias Bergmann (tp), Martin Sasse (p) und Niklas Walter (dr), auf CD2 von Christine Corvisier (sax), Maik Krahl (tp), Christoph Hillmann (dr) und dem hervorragenden englischen Gitarristen Mike Walker – und immer mit André Nendza am Bass. Der hat sich diesen Projekt-Traum erfüllt, seine sehr lebendig swingenden sechzehn Kompositionen, die u.a. von bekannten Jazz-Standards und -Harmonieverbindungen inspiriert sind, auf diese originelle Art umzusetzen. Der 1968 in Hemer geborene Kontrabassist und Pädagoge hat 1998 sein erstes Album unter eigenem Namen veröffentlicht und seit dem immer wieder, in unterschiedlichsten Besetzungen, mit großartiger, geschmackvoll produzierten Aufnahmen auf sich aufmerksam gemacht. Und so liefert auch ,5/ 5/ 9’ wieder mal intelligent gemachten und dabei trotzdem eingängigen modernen Jazz mit eigener Handschrift. Musik, die auch in der opulenten Nonett-Besetzung der dritten CD nie erschlägt. Das ist auch auf die wirklich beeindruckenden Arrangements zurückzuführen. Großartig! lt

LORENZO PETROCCA: MY FOOLISH HEART SOLO

Auch wenn der „Deutsche Jazzpreis“ es in diesem Jahr komplett ignoriert, bleibt es eine Tatsache: Wir haben wunderbare Jazz-Gitarristinnen & -Gitarristen in Mitteleuropa. Einer davon ist der 1964 im süditalienischen Crotone geborene Lorenzo Petrocca, der mit 15 Jahren nach Süddeutschland kam und heute eine Größe im Bereich der swingenden Jazz-Gitarre ist. Jetzt hat der Archtop-Spieler zum ersten Mal ein Solo-Album aufgenommen: Gitarre, Amp, Petrocca – mehr braucht diese ruhige, harmonische und sehr gefühlvoll interpretierte Musik nicht. Lorenzo spielt mit sehr rundem, warmem Ton, kreiert geschmackvolle Voicings, die er immer wieder mit virtuosen Linien durchzieht. Standards wie ,My Foolish Heart’, ,I Fall In Love Too Easily’, ,Have You Met Miss Jones’ und ,All The Things You Are’, ein Horace-Silver-Medley und eine kleine Hommage an Charlie Chaplin sind hier zu hören – und den Abschluss bildet das Thema des Kinoklassikers „The Godfather“. Ein wunderbares, berührendes Solo-Album.
Wer Lorenzo Petrocca im swingenden Band-Zusammenhang erleben will, kann das mit dem neuen Album des Italian Organ Trio, mit Hammondianer Alberto Marsico und Schlagzeuger Tommaso Bradascio, ganz im Stil der klassischen Besetzungen von Brother Jack McDuff mit George Benson, Grant Green mit Big John Patton oder Melvin Rhyne mit Wes Montgomery, eingespielt. Und auch dieses Format beherrscht Lorenzo Petrocca mehr als souverän. Das Repertoire von ,Nessun Dorma And More Italian Songs’ besteht aus Klassikern wie ,Bella Ciao’, ,Che Sara’ und natürlich ,Nessun Dorma’, interpretiert mit sehr coolem Jazz-Feeling. Mehr über Lorenzo Petrocca hier: www.lorenzopetrocca.de

LOTHAR TRAMPERT in Gitarre & Bass 05/2024

Dass der 1964 in Italien geborene Lorenzo Petrocca, der mit 15 Jahren nach Süddeutschland kam, erst einmal als Boxer erfolgreich war bevor er sich dem Jazz zuwandte, kann man sich kaum vorstellen. Heute gehört er zu den Champions der swingenden Jazz-Gitarre, denn sein Feeling und seine Repertoire-Kompetenz für das straight-ahead-Genre sind imposant. „My Foolish Heart“ ist Petroccas erstes Solo-Album: „Nur ich, die Gitarre, ein Mikro vor dem Amp … – und ich musste cool bleiben“, beschreibt er die Aufnahmesituation. Cool hört er sich eigentlich nicht an, vielmehr berührend, einfühlsam, und seine Verbindungen aus Harmonien und Linien klingen extrem organisch, fließen leicht und lebendig. Dabei sind sie aber sehr intelligent und kreativ gesetzt: Standards wie „Body & Soul“, „Have You Met Miss Jones“, „All The Things You Are“ und natürlich „My Foolish Heart“, außerdem ein Horace-Silver-Medley mit u.a. „Peace“ und „I Fall In Love Too Easily“, und eine kleine Hommage an Charlie Chaplin sind hier zu hören. Den Abschluss dieser musikalisch wie auch klanglich absolut gelungenen Solo-Einspielung bildet das Thema des Kinoklassikers „The Godfather“. Die Komposition des legendären Nino Rota, der Musik für über 150 Filme von Federico Fellini, Luchino Visconti u.a. schrieb, hat Lorenzo Petrocca ganz besonders geschmackvoll arrangiert und lässt so diesen oft gehörten Evergreen ganz neu erleben.

LOTHAR TRAMPERT in Jazzthetik 05-06/2024

FRANK WINGOLD ENTANGLED TRIO: HIATUS BLUES

Schönes Digipak, geschmackvolles Artwork und ein wirklich großartiger, plastischer Aufnahme-Sound. Letzterer entstand im Kölner Loft Studio unter der Regie von Stefan Deistler, der das Vergnügen hatte, die Musik von Gitarrist Frank Wingold, Bassist Robert Landfermann und Schlagzeuger Jonas Burgwinkel aufzunehmen. Die Kompositionen stammen von Wingold, der hier mit seiner siebensaitigen E-Gitarre vom spanischen Gitarrenbauer Fernando Alonso Jaén zu hören ist. Überwiegend spielt er mit warmem, vollem Ton, gelegentlich cruncht es ein wenig, und dann fühlt man den ganz eigenen Blues dieses Trios. Wobei die meisten Stücke ganz klar moderner Jazz mit dezent avantgardistischem Touch sind. ,Nucleus’ erforscht z.B. die Idee von Molekülen, die sich erhitzen und auf Chaos zusteuern. „Hier arbeite ich mit komplementären Melodien zwischen Bass und Gitarre“, erklärt Wingold. „Es beginnt einfach, dann werden immer mehr Töne hinzugefügt, bis es extrem dicht und fast unspielbar wird. Am Ende des Stücks, nach den Improvisationen, dreht sich der Prozess um und es werden immer weniger Noten gespielt, bis letztlich alles still steht.“ Auch Franks Spieltechnik unterscheidet sich von der konventionellen Herangehensweise an die E-Gitarre. „Mit Daumen-Pick und verstärkten Nägeln schlage ich die sieben Saiten mit allen Fingern an, sogar mit dem kleinen Finger.“ Ein interessanter Musiker mit sehr eigenem Stil – und einem kraftvollen, spannenden neuen Album. Und ein Track wie das explosive, pulsierende ,Black Matter’ zeigt Wingold, Burgwinkel und Landfermann in Weltklasse-Höchstform. lt

MIKAEL MANI: GUITAR POETRY

Mikael Máni Ásmundsson wird 1995 in Reykjavík, Island, in eine Familie von Musikern und Musikliebhabern hineingeboren: Sein Vater betreibt ein Label und einen Schallplattenladen, seine Mutter organisiert früh eine solide Musikausbildung, die Mikael dann zu einigen isländischen Jazz-Musikern führt. Anschließend studiert er in Amsterdam bei Gitarrist Jesse van Ruller. 2019 erschien das mit Bassist Skúli Sverisson und Magnús Trygvason Elíassen an Schlagzeug und Vibraphon eingespielte Trio-Album ,Bobby’, es folgen ,Nostalgia Machine’ (2021), ,Innermost’ (2023) – und jetzt ,Guitar Poetry’ (2024), ein unbegleitetes Solo-Album, das einen wirklich unkonventionellen Gitarristen präsentiert, dem Ausdruck und Emotion über allem zu stehen scheinen. Stilkonventionen, Virtuositäts-Wettbewerbe und irgendwelche Instrumentalisten-Eitelkeiten sind diesem Künstler fremd – Mikael Máni lässt seine Musik fließen und erzeugt Intensität mal durch Ruhe und Entspanntheit, wie z.B. in ,Arachne’s Magical Weaving’, mal durch Energie und kleine Ausbrüche die auch schon mal kurz aus jeder Tonalität ins Geräuschhafte explodieren können, um dann entweder zurückzufinden oder ganz neue Auswege zu entdecken. Manchmal hat man das Gefühl, hier zwei oder mehr Gitarristen zu erleben, mehrere Klangschichten parallel wahrzunehmen. Aber es ist immer Mikael solo, der das Talent besitzt, Harmonien, Melodien und Fragmente anzuspielen, die dann als Teile der Arrangements in den Köpfen der Hörenden weiterleben und weiter wachsen.
Gitarren-Poesie. lt

PHILIPP SCHIEPEK: VERSUCH ZU TRÄUMEN

Der 1994 in Dinkelsbühl geborene Gitarrist Philipp Schiepek war in den vergangenen Jahren an einigen sehr gelungenen Produktionen beteiligt: Angefangen bei seinem in Quartett-Besetzung eingespielten Solo-Debüt „Golem Dance“ (2019), dem Duo-Album mit Pianist Walter Lang, „Cathedral“ (2021) dann im Trio auf Sängerin Fiona Gronds Album „Poesias“ (2023) sowie als Gast auf Lisa Wulffs „Poison Ivy“ (2024). Gerade erschien sein neues Album„Versuch zu träumen“, das er mit Henning Sieverts am Kontrabass und Bastian Jütte am Schlagzeug eingespielt hat – veröffentlicht als erste Produktion auf dem von seiner Schwester gegründeten neuen Label „Wooden Waggon Records“. Acht Tracks, einige davon solo eingespielt, beschäftigen sich mit der Thematik des Träumens: Man erlebt sphärische, ruhige Klanggemälde, Gitarrenthemen die oft auf Arpeggios aufbauen, aus denen fast schüchtern einfache Melodielinien herauskriechen und in weiten Hallräumen verklingen. Philipp Schiepek hat mit dem Akkordeon angefangen, bevor er mit zwölf Jahren zur Gitarre wechselte. Nach ersten Gehversuchen in Pop und Rock, entdeckte er auch Jazz und Klassik. Auf sein Jazz-Studium, das er 2018 abschloss, folgte ein Master-Studiengang in Klassischer Gitarre. All diese Einflüsse haben seinen Zugang zum Instrument ganz entscheidend geprägt. In seinen Aufnahmen findet man Geborgenheit, Vertrautheit – man kann sich in diese Musik fallen lassen. lt

MANFRED JUNKER ORGAN TRIO: WHAT’S NEXT?

Schon die ersten Töne dieses Albums machen klar: Hier sind drei absolute Könner am Start, die knackig, funky swingen und grooven können, das im warmem Trio-Sound und in klarer Jazz-Sprache. Manfred Junker (*1969) hat die Stationen Klassikgitarre, Rock-Bands und ein Studium an der Jazz-Schule St. Gallen bei Peter Eigenmann hinter sich. Dem folgte ein Stipendium für ein Studium am Berklee College of Music in Boston, das er 1996 mit Diplom „summa cum laude“ abschließt. Heute lebt Manfred Junker in Konstanz als Musiker und Lehrer. 15 CD-Veröffentlichungen unter eigenem Namen (Solo, Duo, Trio und Quartett) hat er bisher veröffentlicht. „What’s Next?“ präsentiert ihn im Orgel-Trio, und einmal mehr als einfallsreichen Komponisten und Solisten, als Gitarristen, der dem runden warmen Archtop-Ton eine individuelle Note verpasst. Und als Bandleader, der wunderbar arrangiert, interagiert und auch mal sympathisch auf Risiko spielt. Auch seine Mitmusiker Thomas Bauser an der Hammondorgel und Tony Renold am Schlagzeug sind einfach absolut großartig: sie erzeugen eine unglaubliche Energie, sehr dezent, ohne auch nur mal ansatzweise zu poltern. Die Aufnahme aus Patrick Tomperts Rossini-Studio in Stuttgart ist sehr gelungen und hat eine ganz eigene Räumlichkeit, die sehr gut zu Junkers oft extrem lebendigen gitarristischem Ansatz passt. Ein wunderbar eingespieltes Trio kann man hier genießen. lt

GREGOR HILDEN ORGAN TRIO: NEW BOOGALOO

„New Boogaloo“ ist das dritte Album des Münsteraner Gitarristen Gregor Hilden, eingespielt mit dem Organisten und sympathisch raustimmigen Gelegenheitssänger Wolfgang Roggenkamp und Drummer Dirk Brand. Als Gäste bei einzelnen Tracks sind noch Saxophonist Volker Winck, Trompeter Christian Kappe und die soulig-bluesige Vokalistin Soleil Niklasson mit an Bord. Diese rustikal groovende Aufnahme strotzt nur so von guten Soli des Bandleaders, wobei Gregor Hilden absolut kein Jazzer ist: Er soliert immer zwischen R&B, Rock, Blues, zeigt seine Liebe zu Peter Green und Michael Bloomfield, und wagt sich stilistisch auch mal in die Nähe der Allman Brothers Band oder von funky Pop-Jazz à la George Benson und Grant Green. „Clubbing“ ist der vielleicht stärkste Titel des Albums – und eine Hilden-Komposition, die sich nahtlos einreiht zwischen die Covers von Greg Allman, Bill Withers, Jack McDuff, Peter Green, Joe Sample, Dr. Alban und Mose Allison – dessen Klassiker „Going To The City“ hat hier allerdings überhaupt keinen Biss: Diesen Song hat nach Mose Allison sowieso nur noch Herman Brood angemessen interpretiert. Da sind einige instrumentale Originals dieses Albums, wie z.B. Hildens „Bluesy Mood“ intensiver, und der Titel-Track „New Boogaloo“ dann doch etwas knackiger gelungen.

LOTHAR TRAMPERT in Jazzthetik 05-06/2024

Tatort Münster: Gregor Hilden (*1963) hat ja schon so einiges gemacht in seinem Leben. Er war lange Redakteur des Magazins „Akustik Gitarre“, sammelte Instrumente und spielte sie auch in seinen diversen Bands oder bei Studio-Jobs, baute sich nebenbei noch erfolgreich einen Gitarrenhandel auf und veröffentlicht seit drei Dekaden ein Album nach dem anderen. Vom Gregor Hilden Organ Trio ist mit ,New Boogaloo’ bereits das dritte Album erschienen. Zur Formation gehören neben Gitarrist Gregor noch Wolfgang Roggenkamp, überzeugend an Orgel und Mikrofon, und Schlagzeuger Dirk Brand, immer solide tragend, im Dienst des Songs. Musikalisch irgendwo zwischen Blues, Soul, Rock und Jazz angesiedelt sind die 13 Album-Tracks – acht davon sind gut gewählte Cover-Versionen bekannter Stücke u.a. von Greg Allman, Bill Withers, Jack McDuff, Peter Green und Joe Sample. Gregor Hildens zahlreiche Soli sind immer stilsicher gestaltet, ganz egal ob der Zug in Richtung Rock, Blues oder souligen R&B geht, seine Gitarren-Sounds sind geschmackvoll, sein spielerischer Ansatz immer eher dezent und nie dickhosig. Man hört, dass er sich mit den musikalischen Quellen von ,New Boogaloo’ befasst hat – und dass das „seine Musik“ ist. Auch die Eigenkompositionen von Greg & seinen Cracks können da absolut mithalten. Gelungen. lt

LOTHAR TRAMPERT in Gitarre & Bass 05/2024

RALPH BEERKIRCHER: NoHUM

„Kann Avantgarde funky sein? Atonales schön? Und können ungewöhnliche Stil-Kombinationen in einer Zeit, in der schon fast alles mit allem vermischt wurde, noch überraschen?“, fragte Autor Marian Menge im Musikermagazin Gitarre & Bass. Es ging damals um Ralph Beerkircher und seine Debüt-CD ,Morphin’’. Das war im März 2003.
Ja, das geht. Und es geht auch gut 20 Jahre später immer noch. Jetzt ist ,NoHum’ erschienen, ein neues Album des Gitarristen, Komponisten, Musikpädagogen und Musikvermittlers Ralph Beerkircher (*1967), das er mit seiner Band – Jonas Engel / Saxophon, Christian Lorenzen / Fender Rhodes E-Piano, Moog-Synthesizer, Jan Philipp / Drums – am 26. November 2021 im LOFT Köln eingespielt hat. Dass diese Aufnahmen erst jetzt erschienen sind lag unter anderem daran, dass Bandleader Ralph Beerkircher zuletzt schwer erkrankt war. Ralph ist bekannt durch seine zahlreichen eigenen Projekte (Beerkircher Quartett, Beerkircher/Lindner/Werner/Landfermann, Arnie Bolden, Shraeng im Duo mit Frank Wingold, Nohum) und Bands wie Nowotnik 44, Peter Kahlenborn Trio u.a. Und auch als Gitarrenlehrer, als Pädagoge an der Offene Jazz Haus Schule Köln und Dozent am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück hat er vielen heute bekannten Musikerinnen und Musikern auf den richtigen Weg geholfen.
Nein, er hat ihnen wahrscheinlich eher die vielen möglichen Wege gezeigt, jenseits von Richtig und/oder Falsch, diese Wege, die die Freiheit in der Kunst ausmachen. Ralph hat diese vielen Wege in seiner Musik immer wieder sichtbar gemacht, ist einige gegangen und hat dabei viele neue entdeckt. Und wenn in der o.g. Story von 2003 zu lesen war, „Im Quartett … liefert er dort elf Beispiele grenzüberschreitender Gratwanderungen, die sich scheinbar alle im Großraum Jazz aufhalten, doch hinter die Fassade schauend findet man 12-Ton-Reihen neben BeBop, freie Improvisationen über krumme Taktarten, und Kontrapunktik zu fließenden Fusion-Grooves; und dazwischen jede Menge Raum zum Atmen. Gitarrenmusik!“, trifft das auch auf Ralph Beerkirchers aktuelles Album zu.
Und noch ein Sample aus der lesenswerten Story: „,Für mich ist eines der wichtigsten Dinge, den Gruppen-Sound zu unterstützen und die Band als Ganzes gut klingen zu lassen’, sagt er und macht, wie es auch auf der Gitarre seine Art ist, eine Pause, denkt nach und fügt dann hinzu: ,Ich bin einfach nicht so eine Rampensau’, was aber nicht ausschließt, dass der (2003) 34jährige auch hinlangen kann und seine Gitarre ,schreien, knurren, jubilieren’ lässt, wie es Karsten Mützelfeld, Jazz-Redakteur bei Deutschlandfunk und WDR, in den Liner Notes zum Album passend beschreibt.“
Auch bei NoHum wird geknurrt, gebellt und es werden eigenwillige, energetische Gitarren-Akkorde installiert, in einem Track wie ,Black Wing’ fast an der Leine geführt, um Saxophonist Jonas Engel darüber fliegen zu lassen. Und wenn im nachfolgenden ,Holm Improexcerpt’ die Gitarre dann doch noch brummt, zerrt, kracht und sich fast schmerzhaft windet – „cranky beats on fire with mostly sad chords and strange melodies!“ lese ich im Info zum Album – dann spürt man, dass solche musikalische Energie, diese Art von künstlerischer Expressivität, dieses explosive Understatement, wirklich diese vielen Wege braucht.
„Die Musik des Quartetts NoHum changiert zwischen auskomponiertem Material, freier und gebundener Improvisation, grooveorientiert, elektronisches Gerät sucht sich seinen Raum, ziemlich laut aber auch sehr leise kann es werden“, informiert das Label treffend. Es stimmt: Nur wenige E-Gitarristen haben mich auf einem Album von Track zu Track immer wieder aufs Neue überrascht, wie Ralph Beerkircher auf ,NoHum’. Und wenn nach dem kantigen ,10b’ das finale ,A Little While’ eine Art von nervöser Ruhe, Verlorenheit im Raum, von Sehnsucht in ein paar verhallte Arpeggios komponiert, um dann daraus einen Weg in eine zumindest dezent hoffnungsvolle Melodie zu finden, spürt man die Kraft dieser Musik. Die Kraft von Musik, von Kunst, von Freiheit.
Schön, dass Ralph Beerkirchers beeindruckende Aufnahme ,NoHum’ jetzt bei beim Klaeng Jazzkollektiv Köln, einem echten Musiker-Label, und auch bei Bandcamp digital veröffentlicht wurde. „Dies war Ralphs Wunsch und er hat sich darüber gefreut“, schrieb Ralphs früherer Schüler und Klaeng-Mitarbeiter Tobias Hoffmann.
Hier kann man das Album kaufen: https://klaengrecords.de/…/ralph-beerkircher-nohum…

Alles Gute, Ralph! Und danke für die Musik.
Lothar Trampert

DEUTSCHER JAZZPREIS 2024: GITARRENFREI

Am 18. April 2024 wird mal wieder der Deutscher Jazzpreis verliehen – diesmal im Kölner E-Werk. „Bei einer spannungsgeladenen Award-Show mit großartigen Live Acts werden die 22 Preisträger:innen des Deutschen Jazzpreises 2024 erstmals verkündet. Die Live Acts werden zeitnah hier bekanntgegeben.“ informieren die Veranstaltenden auf www.deutscher-jazzpreis.de und bei Deutscher Jazzpreis – Preisverleihung 2024

Dieser Preis ist eine gute Sache, und gegenüber dem zu Recht stark kritisierten früheren Echo Jazz auch sehr fair gegenüber den Kunstschaffenden: Alle Nominierten bekommen Reisekosten und eine Hotelübernachtung erstattet. Außerdem bekommen nominierte Künstlerinnen & Künstler ein Preisgeld von 1000 Euro und die Gewinner der jeweiligen Kategorie 10.000 Euro – wenn ich richtig informiert bin.

Ein aktueller Kritikpunkt: Bei den die Instrumente und Ensembles betreffenden Kategorien sind, im Gegensatz zum vergangenen Jahr, u.a. alle „Saiteninstrumente“ in einer einzigen Kategorie zusammengefasst – und nominiert wurden zwei Kontrabassistinnen und … zwei Kontrabassisten. Wie kommt man zu einer solchen Entscheidung? Mir fällt da nämlich noch spontan das Saiteninstrument Gitarre ein, das ja in Deutschland nicht unwesentlich die Jazz-Szenen bereichert. Und konnte man an der Kölner Musikhochschule ab 1981 nicht erstmals überhaupt an einem staatlichen Institut Jazz-Gitarre studieren?

Ich könnte jetzt gefühlt 723 Jazz-Gitarristinnen & -Gitarristen aufzählen, die in den vergangenen Jahren großartige Musik veröffentlicht haben – und die hier beim Jazz-Preis jetzt einfach mal unter den Tisch bzw. aus der überfüllten Schublade fallen. Die falsch bezeichnete Kategorie „Kontrabass“ ist mit Athina Kontou, Lisa Hoppe, Petter Eldh und Nick Dunston korrekt besetzt – Lisa Wulff ist wohl nächstes Jahr wieder dabei. Aber wo bleiben Instrumentalisten wie Andreas Willers, Sandra Hempel, Tobias Hoffmann, Ronny Graupe, Monika Roscher, Bruno Müller, Leni Stern, Philipp Brämswig, Christina Zurhausen, Hanno Busch, Frank Wingold, Martin Schulte, Sebastian Mueller, Barbara Jungfer, Norbert Scholly, Philipp van Endert, Jannis Sicker, Joachim Schoenecker, Lars Cölln, Lorenzo Petrocca, Werner Neumann, Torsten Goods, Axel Fischbacher, Martin Scales, Martin Lejeune, Torsten de Winkel, John Schröder, Michael Sagmeister, Max Clouth, Jo Ambros, Paul Brändle, Philipp Schiepek, Marcus Klossek, Erkin CavusReentko Dirks, Christian Eckert, Arne Jansen, joe krieg, Peter O’Mara, Jan Bierther, Andreas Heuser, Manfred Junker, Paul Peuker, Malte Vief und viele, viele andere? Und nachdem 2023 der großartige Wahlberliner Kurt Rosenwinkel ausgezeichnet wurde, könnten wir natürlich auch noch Kolleginnen & Kollegen wie Wolfgang Muthspiel, Philip Catherine, Jakob Bro, Jan Akkerman, Ratko Zjaca, Bálint Gyémánt, Ant Law, Jaak Sooäär, Greg Lamy, Ella Zirina, Samo Salamon, Mehdi Chamma, Teemu Viinikainen, Romain Pilon , Mikael Mani, Jesse van Ruller und Mareille Merck heim ins Jazzreich holen, bzw. kulturell vereinnahmen. 😉😄🤣💥

Nein, Gitarre ist 2024 nicht. Dafür gibt’s beim Deutschen Jazzpreis dann noch die Kategorien für die doppelt ausgezeichneten Preisträger & Preisträgerinnen wie „Künstler:in des Jahres“, die eigentlich kein Mensch braucht.

Es wäre schön, wenn sich da spätestens im nächsten Jahr was tut. Dann kann man diesen „Wettbewerb“ auch wieder ernst nehmen. lt

G.A.P.: IMPERIUM COLONIUM

Ich kenne Gero A. Probst aka G.A.P. schon gut 20 Jahre, und er hat mich immer wieder mit wirklich gut produzierter Rockmusik überrascht: Mal bluesig im Stevie-Ray-Vaughan-Style, dann wieder düster alternativmetallisch und jetzt aktuell mit ganz straightem, klassischen Hard-Rock. Das neue Album des in Köln lebenden Musikers heißt ,Imperium Colonium‘, und liefert zehn Tracks, die vor Energie nur so strotzen – und die dabei irgendwie gute Laune machen. Gero hat sein neuestes Werk als Vinyl-LP, als MC und als CD mit vier Tracks mehr veröffentlicht.
Entstanden ist das Konzept-Album zwischen Januar 2022 und September 2023 in seinem Home-Studio Köln-Deutz. Dank ausreichender Schallisolierung wurden die Nachbarn trotz teils extremer Lautstärkebelastung größtenteils verschont. Die moderne Soft- und Hardware-Technik nutzte Probst diesmal voll aus, sowohl für den digitalen Aufnahmeprozess als auch für das am Rechner entwickelte künstlerische Design. „Mein Ziel war ein modernes Rock-Album, mit ausgeprägten Retro-Heavy-Metal-Anleihen und ausgeklügelt produziertem Sound“, erzählt Gero. Das Ergebnis seiner Arbeit ist ein voluminöser Guitar-Wall-Sound, getragen von maximal geschichteten Background-Vocal-Chören und garniert mit diversen Echo-, Panning- u. Reverb-Effekten. Das muss man erst mal handwerklich drauf haben, und dann hat gute Musik ja auch noch eine Menge mit Geschmack und Feeling zu tun.
Ich bin ja, mal abgesehen von meiner großen Liebe Lemmy & Motörhead, nicht grade der Metal Guru – aber wenn Rockmusik so eine straighte positive Energie rüberbringt, dann habe ich Spaß. Und schon der Opener ,Back Off‘ würde als eine der besseren Van-Halen-Nummer der 90er durchgehen.
Gero A. Probst wurde in den 1970er-Jahren geboren, ist musikalisch aufgewachsen in den 80ern und wurde geprägt durch Gitarren-Riffs von Bands wie Van Halen, ZZ Top, AC/DC, Iron Maiden, Judas Priest und Metallica, und natürlich von Virtuosen wie Stevie Ray Vaughan oder Jimi Hendrix. Erfolgreiche Konzerte beim Emergenza-Nachwuchswettbewerb in Dortmund, im Café Hahn in Koblenz, von Köln bis Rendsburg und sogar im Cutting Room in NYC bestätigten Probst immer weiterzumachen und die Gitarre nicht an den Nagel zu hängen. Zuletzt war Gero 2020 sogar auf Pro7 in der Entdecker-Show „Famemaker“ zu sehen, wo er unter einer Glaskuppel ,Purple Haze‘ zelebrierte. Er kennt die Koordinaten des Genres, spielt richtig gut Gitarre, und singen und produzieren kann er auch noch. Sein neues Album ,Imperium Colonium‘ klingt groß und die richtig Gitarren geil. Respekt!
Meine beiden Favoriten des Albums sind Track 10 ,Crusade Of Delusions‘ und vor allem die Nr.11, ,The Traitor‘, eine echte Klangreise und gemeinsam mit dem Titeltrack ,Imperium Colonium‘ der mit Abstand aufwendigste und komplizierteste Song dieser Produktion. Dabei hört man dieser straighten Nummer die 100 (!) Aufnahmespuren echt nicht an. Ist eben gut gemachter Rock ’n‘ Roll – natürlich mit Gitarrensolo! lt
Hier geht’s zur Musik: www.gapmusic4.bandcamp.com

PAUL McCARTNEY & WINGS: BAND ON THE RUN

Als sich die Beatles 1970 trennten begannen vier Pop-Karrieren, die so unterschiedlich waren, wie die starken Charaktere dieser Jahrhundertformation. Paul McCartney und seine hyperaktive 70s Band Wings gingen dabei den Weg des eingängigen Pop-Rock, mit runden Songs und sehr gelungenen Produktionen: Als vor einem halben Jahrhundert, im Winter 1973, deren Album ,Band On The Run‘ erschien, war der weltweite Erfolg vorprogrammiert, denn an dieser Produktion stimmte alles – von den Songs über den Sound bis hin zum der LP beigelegten Poster, das auf Polaroid-Bildern von Linda McCartney basierte. Musikalisch reichte das Spektrum von beeindruckend groovenden Tracks wie ,Jet’, Balladen wie ,Bluebird’, Rock-Hymnen wie dem Titelsong des Albums oder eigenwilligen Kreationen ,Let Me Roll It’ und ,Picasso’s Last Words (Drink to Me)’. Zum runden Geburtstag erscheint ,Band On The Run’ in verschiedensten Konfigurationen, darunter schöne 2LP- oder 2CD-Ausgaben, die neben dem originalen, remasterten Album noch „Underdubbed“-Mixes. Paul McCartney: „Wenn man einen Song aufnimmt und dann noch zusätzliche Parts über die Aufnahme legt, also zum Beispiel eine zusätzliche Gitarrenspur, dann spricht man von Overdubs. Nun, bei dieser Version des Albums passiert genau das Gegenteil – es ist underdubbed.“ Das ist besonders für Musiker-Fans dieses Meilensteins ein sehr interessantes Hör-Erlebnis, diese legendäre Band und ihre Musik mal ganz pur zu erleben. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen in Lagos, Nigeria waren Wings (abgesehen von ganz wenigen Gastmusiker-Spots) übrigens ein Trio: Neben Multiinstrumentalist Paul und Keyboarderin Linda war nur noch Gitarrist Denny Laine am Start – und Tontechniker Geoff Emerick. Außerdem wird ,Band On The Run’ auch erstmals via Streaming in einem Dolby-Atmos-Mix zu erleben sein. lt

THE SHY BOYS: PERCEPTIONS OF CALIFORNIA

Dieses Jazz-Trio versprüht eine poppige Leichtigkeit und positive Stimmung, die mal an manche frühe Pat-Metheny-Nummer erinnert, dann wieder wie ein Soundtrack für die Cocktail-Bar unter freiem Himmel: Und natürlich assoziiert man auch mit dem Album-Titel Sommer, Sonne, Strandleben. California, here we come! The Shy Boys trafen sich vor über zehn Jahren beim gemeinsamen Musikstudium in Dresden. Tilman Droste (g), Arne Rudiger (b) und Enno Lange (dr) spielen überwiegend eigene Kompositionen, aber auch eigene, Arrangements bekannter Standards. Immer swingend, oft mit Latin-Flair, mal klingen sie leicht karibisch, mal grooven sie cool über ein Bass-Riff. Eingängige Unterhaltungsmusik mit Anspruch von drei Könnern: Über http://www.theshyboys.de kann man das Trio für Konzerte und Veranstaltungen aller Art buchen. Und das Album gibt’s da auch. Sympathisch! lt

LISA WULFF: POISON IVY

Die 1990 in Hamburg geborene Kontrabassistin Lisa Wulff hat schon so einige Auszeichnungen für ihre Arbeit bekommen, und sie kann auch mit ihrem neuen Album mehr als überzeugen. Gemeinsam mit Pianist Frank Chastenier, Saxophonist Adrian Harnack und den sich abwechselnden Schlagzeugern Valentin Renner und Silvan Strauß, hat sie mit ,Poison Ivy’ Musik aufgenommen, die mich in ihrer Intensität und Energie punktuelle an Miroslav Vitous’ unglaubliches Meisterwerk ,Infinite Search’ (1969) erinnert. Lisas virtuose Linien haben neben ihrer immensen Tragkraft immer auch eine Präsenz im Klangbild, die den Gesamt-Sound dieser Band sehr individuell färbt. Sie hat Tone, extreme Energie und Überraschungspotenzial. Gelungen ist auch der Einsatz diverser musikalischer Gäste, darunter der an drei Album-Tracks beteiligte Gitarrist Philipp Schiepek – eine echte Bereicherung. Lisa Wulff spielt hier auch mal einen Soprano-E-Bass von Gerald Marleaux, mit dem sie ihr Klangspektrum noch mal erweitert. Und wenn eine Jazz-Musikerin ihr Album von einem als Dub-Produzent und Remixer bekannten Künstler aufnehmen, mischen und mastern lässt – Philipp Winter aka Umberto Echo – dann weiß man, dass hier jemand ohne Berührungsängste absolute Kreativität anstrebt. Gelungen! lt

Wenn man eine Bassistin vom Duo bis zur BigBand in fast jeder Besetzung erlebt hat, und sie trotzdem immer wieder mit spannender Musik überraschen kann, dann ist sie ohne Frage eine Ausnahmeerscheinung. Einige Jazz-Awards hat die 1990 in Hamburg geborene Lisa Wulff bereits für ihre Arbeit bekommen, und mit ihrem neuen Album „Poison Ivy“ dürfte sie es jetzt schon auf manche Nominierungsliste geschafft haben.

Mit einem gewaltigen Energieschub startet der Titel-Track von „Poison Ivy“: ein wuchtiges Unisono-Thema, das sich fließend auflöst und von beeindruckenden Solo-Passagen der Kontrabassistin in einen eigenwilligen Puls überführt wird. Mit Bogenspiel in ganz weitem Hallraum beginnt die nachfolgende „Stille Stunde“, und auch hier wächst aus dem abstrakten Intro der Bassistin, mit Hilfe von Schlagzeuger Silvan Strauß, Pianist Frank Chastenier und Saxophonist Adrian Harnack, eine ganz besondere musikalische Pflanze, deren Ranken sich eigenwillig ihren Weg bahnen. Immer wieder staunt man über diese Fähigkeit, einen Kontrabass so klassisch tragend, dabei auch plastisch, lebendig und zugleich weit vorne im Arrangement das melodisch-harmonische Geschehen dominant mitprägend, klingen zu lassen. Assoziationen in Richtung Miroslav Vitous’ „Infinite Search“ (1969) und seiner frühen Aufnahmen mit Weather Report sind nicht ganz falsch, denn dieser einzigartige Bassist hat auch Lisa Wulff beeindruckt. Auch bei ihr überlagert oder dominiert kein festes, theoretisches Konzept die Musik – dafür ist Lisas Spiel viel zu unberechenbar, zu lebendig und auch zu detailreich. Ihre Musik, ihre Kompositionen, ihr Bass-Spiel sind organisch.

„Poison Ivy ist eine Figur aus den Batman-Comics, die mich in jüngeren Jahren sehr beeindruckt hat“, erzählt Lisa. „Sie weiß alles über Pflanzen, deren Eigenschaften sie sich zunutze macht. Ich mag Grün, weil es die Farbe der Hoffnung ist und ich nach der langen Zwangspause ein Zeichen setzen wollte, dass wieder Grund besteht, optimistischer in die Zukunft zu blicken.“ Und so fühlt man sich beim Hören von ,Poison Ivy’, Lisa Wulffs fünftem Album seit ihrem 2016 erschienenen Debüt „Encounters“, wie in einem Traum: startend zwischen eigenwilligen Zimmerpflanzen, dann durch dicht bewachsene Treibhäuser weiterschwebend in tiefes Dschungeldickicht und manchmal auch kurz durch Unterwasserlandschaften tauchend.

Ende 2021 wurde Lisa Wulf Mutter, im August 2022 starb Klarinettist Rolf Kühn, in dessen Bands sie jahrelang gespielt hatte, 2023 wurde sie mit dem Deutschen Jazz-Preis als Bassistin des Jahres ausgezeichnet – Rolf Kühn wurde bei selbiger Veranstaltung posthum für sein Lebenswerk geehrt.

Das Zwangspause-Virus war irgendwann im Griff, die Kultur hatte überlebt, das Leben ging weiter – und Lisa holte nach, was sie vermisst hatte: „Das Interagieren mit anderen Musikern und die besonderen Dinge, die aus diesen gemeinsamen Momenten entstehen – das hat mir damals am meisten gefehlt.“ Und so sind auf ihrem neuen Album neben ihrer Quartett-Besetzung auch noch einige Gäste zu erleben: Trompeter Jakob Bänsch, Sängerin Alma Naidu, Saxofonist Gabriel Coburger, Schlagzeuger Valentin Renner und der Multiinstrumentalist Friedrich Paravicini an Cello, Celestina und Ondes Martenot – einem dem Theremin ähnelnden Tasteninstrument – sind mit dafür verantwortlich, dass Lisa Wulffs Klangreise noch bunter ausgefallen ist. Hatten ihre früheren Quartett-Aufnahmen „Wondrous Strange“ (2018), „Beneath The Surface“ (2020) und „Sense And Sensibility“ (2021) schon immer eine erstaunliche Räumlichkeit und Luftigkeit, eine musikalische Sphäre die oft wie ein fünfter Instrumentalist wirkte, ist dieses Phänomen jetzt noch intensiver, farbenreicher präsent. Mit dem an drei Album-Tracks als Gast beteiligten Gitarristen Philipp Schiepek hat sie einen Glücksgriff getan, denn seine raumfüllenden Kreationen in „Das Bad“ – Lisa Wulff spielt hier einen Soprano-E-Bass – passen absolut zur Grundstimmung dieses Albums. Der Titel erklärt sich ganz einfach, so Lisa Wulff: „Das musikalische Thema besteht aus den Tönen D, As, B, A und D. So etwas kommt dabei heraus, wenn man viel Zeit zu Hause verbringen muss und sich die Aufgabe stellt, Worte in Töne umzusetzen.“

Der großartige Philipp Schiepek kommt noch zweimal ins Spiel: Anfangs sehr zurückgenommen und dann expressiv in „The Inner Journey“, und mit einem sehr eigenwilligen, aus dem Thema perlenden Solo in „It All Comes Down To The Green“: Hier spürt man dann ganz deutlich, wie kontrastierend-interagierend sein Spiel mit dem von Lisa Wulff harmoniert. Und da ist dann wieder diese enorme Crossover-Energie, diese latente Explosivität, die über ein halbes Jahrhundert nach „In A Silent Way“ und „Bitches Brew“ immer noch miles ahead rüberkommt. Auch aufnahmetechnisch ist ,Poison Ivy’ ein Meisterwerk: Recording, Sound-Design, Mix & Mastering kamen dabei aus einer Hand, und bei der open-mindedness, die diese Musik ausstrahlt, wundert es auch nicht, dass hier mit Philipp Winter aka Umberto Echo ein als Dub-Produzent und Remixer bekannter Künstler verantwortlich zeichnet.

Das neue Album endet mit „Another Sacred Place“, einer Duo-Aufnahme mit Schlagzeuger Silvan Strauß, bei der ich ganz sicher war, hier mindestens zwei parallele Bass-Spuren von Lisa Wulff zu hören. Aber nein, kein Multitrack-Trick – das spielte Lisa live, in einem Take und in Handarbeit. Eine beeindruckende Musikerin. Lothar Trampert

C.A.R.: GÄSTELISTE

2011 wurde die Band C.A.R. von Johannes Klingebiel (dr, synth, vibraphone) und Kenn Hartwig (b, gameboy, electronics) in Köln gegründet, 2014 erschien ihr Debüt-Album ,Beyond The Zero’, weitere EPs und LPs folgten. Musikalisch ging der Trip vom experimentellen Jazz immer weiter in Richtung Electronica und auch dezent zum instrumentalen Krautrock. Leonhard Huhn (sax, electronics, voice) und Christian Lorenzen (Wurlitzer e-Piano, Synth) komplettieren das spannende Unternehmen, das sich zum zehnjährigen Album-Jubiläum drei Gäste eingeladen hat, die die C.A.R.-Welt noch bunter machen: Sängerin Pegelia Gold, Synthesizer-Experte Max Loderbauer und Perkussionist Niklas Wandt. Ihre hypnotische, überwiegend instrumentale Musik erinnerte in der Vergangenheit schon gelegentlich an eine andere Kölner Band mit drei Buchstaben. Nein, nicht BAP – sondern CAN, mit deren früheren Sänger Damo Suzuki, bekannt von Klassikern wie ,Tago Mago’ und ,Ege Bamyasi’, C.A.R. auch schon live zusammengearbeitet haben. Wobei die Band heute sehr eigene Wege geht und sich mit einem ganz individuellen musikalischen Fluss und großen Klangsphären von den alten Idolen der 70er-Jahre abgrenzt. Im 2020 erschienenen Album ,Befunde Ab 1999′ war diese Entwicklung schon hörbar. C.A.R. liefern aber weiter die Art von Überraschungen, die viele Musik der späten 1960er- und 70er-Jahre so spannend gemacht hat. Mit ,Gästeliste’ haben sie sich freigespielt – und sie schreiben die Geschichte weiter. Mehr? thisiscar.bandcamp.com lt

HOFER BUSCH HELD: TO TORTUGA

Sie leben und arbeiten in Wien, Köln und Hamburg, sind als kompetente Session-Player bekannt und haben jede Menge gute Live- und Studio-Jobs zwischen Pop, Jazz, Funk und dem Rest der Musikwelt aufzuweisen. Jetzt versuchen es Julia Hofer, Hanno Busch und Tobias Held als Team und starten mit dem Album „To Tortuga“.

Eigentlich ist dieses Trio ein Quartett, und Mitspieler Nr. 4, das Akai MPC, eröffnet dieses Album-Debüt von Hofer Busch Held. Das Music Production Center, meist als „die MPC“ bezeichnet, ist ein Klassiker im Bereich der Hardware-Sampler/Sequencer und die diverse Modelle haben durch ihren Einsatz primär im HipHop Kultstatus erlangt. Die Geräte verfügen über anschlagempfindliche Pads, mit denen sich vorher abgespeicherte Samples und Sequenzen abrufen lassen. Also eine Mitmusikerin, die auf Knopfdruck funktioniert? Traum und Albtraum zugleich. Die MPC ist aber letztendlich nur ein Computer, ein digitales Instrument. Entscheidend sind auch hier die Kreativen, die dieses Tool einsetzen.

Das sind die österreichische E- und Kontrabassistin Julia Hofer (1994), die als Studio- und Live-Musikerin, im Ensemble der Vereinigten Bühnen Wien und als Dozentin an der Gustav Mahler Privatuniversität in Klagenfurt tätig ist. Bekannt wurde sie mit ihren Lehr- und Interview-Videos auf Youtube. Gitarrist Hanno Busch (1975) lebt und arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten in den Grenzbereichen der deutschen Jazz- und Pop-Szene. Insgesamt fünf Alben hat er mit seiner Band Sommerplatte und dem Hanno Busch Trio veröffentlicht und 2017 den Echo Jazz als Gitarrist des Jahres bekommen. Neben Kooperationen mit Jazz-Musikern wie Peter Herbolzheimer, Michael Wollny, Niels Klein und Peter Weniger ist Hanno Busch regelmäßig mit Jan Delays großartiger Live-Band Disko No. 1 unterwegs. Auch Schlagzeuger Tobias Held (*1976) hat sein Geld in den letzten Jahren hauptsächlich im Pop verdient – als Mitglied der Band von Sänger Max Mutzke. Als Live-Sideman hat er u.a. mit Roger Cicero, Gregor Meyle, Johannes Oerding und Sasha gearbeitet.

Zurück zum Album: „Es beschäftigt sich thematisch mit der fortschreitenden Digitalisierung und der Suche nach einer Haltung dazu“, informieren die Künstler. „Wo gehen wir mit? Wo ziehen wir Grenzen? Wo stößt das Digitale an seine Grenzen?“
Im Opener „The Creeper“ rezitiert die Singer/Songwriterin Jacky Bastex einen eigenen Text über die Geschichte des Computers, unterlegt von einem nervösen Lick von der MPC, dazu eine sparsame Akkordfolge der E-Gitarre und das Schlagzeug.

Dann geht die Sonne auf: „Keep Track“ heißt das zweite Stück des Albums, das Gitarrist Hanno Busch featured – und als Fan des legendären Legato-Space-Guitar-Virtuosen Allan Holdsworth outet. Wobei Busch, was seinen meist dezent angerauten Saiten-Sound, seine sehr eigene Tonbildung und die Verbindung von linearem Spiel mit interessant gesetzten Harmonien angeht, schon seinen sehr eigenen Stil hat. Jazz Rock Fusion mit Blues-Feeling, Ausdruck und Emotion.

Weiter geht es mit „We Were Gods“, und auch hier spielt die Band wieder zu einer repetitiven Maschinen-Sequenz, die etwas plakativ nach dem klingt, was man vor einem halben Jahrhundert als „Computermusik“ bezeichnet hat. „Kraftwerk ist eine deutsche Band aus Düsseldorf, die 1970 von Ralf Hütter und Florian Schneider gegründet wurde“, raunt mir Wikipedia von der Seite zu. Bitte schon mal vormerken und Afri-Cola kaltstellen: „Autobahn“ wird am 1. November 2024 50 Jahre alt! Das Thema ist kein Neues, denke ich mir.

Mit dem Titel-Track „To Tortuga“, einer schönen, ruhigen Ballade über einem tragenden Latin-Groove, geht es weiter. Hanno Busch und Julia Hofer harmonieren wunderbar und spielen schöne, einfühlsame Soli. Liegt hier die Stärke dieser Formation? Ganz sicher, denn in diesem thematisch so einfachen wie berührenden Track passiert etwas: Groove, Interaktion, Dynamik, Feeling. Auch „Hirade“ hat diese Qualität, überrascht noch mit einem Blockflöten-Chor und zeigt, wie schon „To Tortuga“, das Potenzial des Trios: Handgemachte Musik zwischen Jazz, Pop und etwas Folk können sie einfach am besten.

In „Fraintown“ gelingt dann die Fusion, denn hier kommen sich das analoge Trio und die digitalen Ambitionen endlich näher. Diese mit Samples von Stimmen, von einer Menschen-Ansammlung in einem großen Raum startende Aufnahme klingt rau, wie ein Live-Mitschnitt. Hanno Buschs Gitarre ist stark verzerrt, die Drums von Tobias Held verlieren sich fast in einem großen Hallraum und erzeugen immer wieder unberechenbare kleine Ausbrüche, und Julia Hofers Basstöne sind der Halt in dieser Aufnahme, die so viel Emotion, Energie, Verlorenheit und Verzweiflung transportiert.

Und dann ist da noch „It’s OK“, ein Song zu dem Julia nicht nur ihre wirklich berührende Stimme sondern auch ein Fretless-Solo beisteuert. Hanno Buschs Gitarren-Feature hat extremen Ausdruck und viel mehr Emotion, Kraft und Aussage zum Thema, als manche Textzeile dieses Albums. Da wo sich Hofer Busch Held vom programmatischen Überbau freispielen, sind sie einfach besonders großartig. Mehr davon! Lothar Trampert

CÉLINE BONACINA: JUMP!

Céline Bonacina ist eine Jazz-Musikerin mit Spektrum: Sie spielt Alt-, Sopran- und Bariton-Saxophon, hat sich mit dem klassischen Repertoire dieses Instruments beschäftigt und studierte an verschiedenen Konservatorien in Belfort, Besançon und Paris. Mit Anfang 20 kam die 1975 im französischen Belfort geborene Künstlerin in die französische Hauptstadt, spielte vornehmlich Bariton in verschiedenen Jazz-BigBands und übersiedelte dann für sieben Jahre nach La Réunion, wo sie am Conservatoire National unterrichtete. Vom Indischen Ozean zog es sie zurück an die Seine: 2005 erschien ihr Debüt-Album „Vue d’en Haut“, fünf Jahre später der vielbeachtete, mit Gitarrist Nguyên Lê eingespielte Nachfolger „Way Of Life“. Drei weitere Alben folgten – „Open Heart“ (2013), „Crystal Rain“ (2016) und „Fly Fly“ (2019) – außerdem zahlreiche Festival-Auftritte und diverse Auszeichnungen. So tauchte ihr Name regelmäßig in den Instrumental-Charts des US-Magazins „DownBeat“ als „Rising Star“ der Bariton-Szene auf.

Und jetzt ist Céline Bonacina mit „Jump!“ zurück. Erster Eindruck: Groove! Sofort spürt man die Energie dieser Band. Retro-Sound? Könnte man beim ersten Hinhören diagnostizieren. Die Jazz-Rock-Zeit der 1970er- und frühen 80er-Jahre, als der Jazz noch rockte, mit knackiger Energie brillierte und sich so ein neues Publikum erspielte, liegt lange zurück, inspiriert aber noch immer. Die bekannten Fusion-Klischees oder Funk-Jazz-Stereotypen erlebt man hier nicht: Denn neben dem eher seltener zu hörenden Instrument der Bandleaderin, die mit rauem Ton und gleichermaßen extrem flüssigen Spiel, durchgehend auf dem Bariton überzeugt, sind mit der großartigen Amerikanerin Rachel Eckroth am perligen Fender-Rhodes-E-Piano und diversen Keyboards, dem aus Kanada stammenden, energetisch tragenden Kontrabassisten Chris Jennings und dem sehr eigenwillig trommelnden John Hadfield absolut spannend agierende Klangkünstler am Start. Und in punkto Groove macht die Rhythmusgruppe hier den feinen Unterschied: Bass und Drums klingen moderner, jazziger, offener, einfach anders als man es bei manchen Tracks dieses Genres erwartet. Was vor allem an dem vielbeschäftigten, aus Missouri stammenden John Hadfield liegt, dessen unorthodoxes Spiel in den vergangenen beiden Jahrzehnten auf über 40 Alben zu erleben war.

„Jump!“ ist ein Album das irgendwo zwischen Gestern, Heute und Morgen schwebt, das Inspirationen aus diesem letzten halben Jahrhundert Jazz-Historie bezogen hat und das in manchen Momenten, wie z.B. im extrem energetischen Track „Deevella Street“ auch Black-Music-Strömungen wie HipHop und R’n’B reflektiert. Dann hört sich Kontrabassist Chris Jennings Spiel auch schon mal extrem nach Eric B & Rakim und einer Abstraktion ihres Klassikers „Don’t Sweat The Technique“ (1992) an. Selbst wenn Céline Bonacina und Keyboarderin Rachel ihre Stimmen instrumental einsetzen – ein durchaus nicht immer überzeugendes Fusion-Stilmittel – bleibt da noch Reibung und Spannung. Sie hat Energie, ihr Spiel Schärfe, ihre Kompositionen zeigen immer wieder überraschende Wendungen. Das macht „Jump!“ zwar nicht zu einem Giant Step, aber zu einem sympathischen, energiereichen Move zwischen Jazz und dem bunten Rest der Musikwelt. Lothar Trampert

LEHMANNS BROTHERS: PLAYGROUND


Ein schwerer, eigenartig brüchiger Blues-Rock-Groove mit bizarrer, an James Blood Ulmer erinnernden E-Gitarre, eröffnet das Album und macht neugierig! Überraschung: Es folgt ein Popsong, der etwas Steely-Dan-Flair versprüht, weiter geht’s mit funky-souligem R&B, ein bisschen House-Flair, HipHop, ein paar jazzige Harmonien – alles sehr oldschool. Live werden die drei Lehmanns Brothers Alvin Amaïzo (Gesang, Keyboard, Gitarre & Bass), Julien Anglade (Gesang & Keyboard) und Dorris Biayenda (Schlagzeug) noch von mehreren Musikern unterstützt, und man kann sich sehr gut vorstellen, dass sie mit ihrem sympathischen Retro-Sound ein gutes Party-Unterhaltungsprogramm abliefern. Was ich im Presse-Info zu diesem Album lese, kann ich allerdings absolut nicht nachvollziehen – sofern man diese Phrasen überhaupt richtig verstehen kann: „Eigenständig selbst produziert ist das Album, was es ist: seine Authentizität ist seine Stärke.“ „Playground ist ein Streifzug durch all die Ästhetiken, die die Lehmann’s Brothers im Laufe der Jahre geprägt haben. Nichts ist tabu. Und darum geht es zweifellos bei diesem Werk.“ OK, „Playground“ bietet sicher gut gespielte und gesungene Musik, die aber leider mit jedem Ton das Gefühl verstärkt, alles schon mal zwischen 1970 und 1990 so ähnlich oder fast genau so gehört zu haben – nur mit besseren Hooklines. So stelle ich mir ein K.I.-generiertes Retro-Black-Music-Album vor. lt

JUTTA GLASER & CLAUS BOESSER-FERRARI: RETURN & CROSSING


Gitarren-Experimentalist Claus Boesser-Ferrari ist seit Anfang der 1990er-Jahre meist als Solist unterwegs. Er ist ein Musiker, der seinem Instrument nicht nur alle möglichen konventionellen und auch unvorhersehbare Klänge und Geräusche entlockt, sondern diese auch noch mit verschiedenen Effekten und großen Hallräumen erweitert. Seine Zusammenarbeit mit der Sängerin Jutta Glaser begann vor mehr als 20 Jahren, und jetzt haben sie sich wieder zu einem wirklich eigenwilligen Duo-Projekt zusammengefunden: Es geht um eine Hommage an die libanesisch-amerikanische Malerin, Filmkünstlerin und Dichterin Etel Adnan, die 2021 im Alter von 96 Jahren in Paris starb. „Ihre Poesie ist für mich eine Art Klangsprache. Eigentlich ist es Musik“, erzählt Claus Boesser-Ferrari. „Mit üblichen Song-Strukturen würde man dem nicht gerecht werden. Und genau das war unsere Herausforderung.“ Und so ließ der Gitarrist seine Musik um die Worte fließen, erimprovisierte Soundscapes, roughe Geräuschkulissen oder ganz konventionelle Harmonien, die er, wie in „Mount Tamalpais“ auch mal mit Slide-Spiel variiert. Und auch Jutta Glasers Interpretationen der Texte von Etel Adnan sind von viel Improvisation und auch von Überraschungen geprägt: So wechselt sie im genannten Track dann plötzlich zum Jodelgesang. Ihre Stimme ist berührend; mit leicht rauem Timbre überzeugt sie in ganz ruhigen Passagen mit enormer Intensität. Beeindruckend. Lothar Trampert

ITALIAN ORGAN TRIO: NESSUN DORMA AND MORE ITALIAN SONGS


Nach dem Debüt, das 2019 unter dem genialen Titel „Oh Soul Mio“ erschien, ist das Italian Organ Trio des Turiner Hammondianers Alberto Marsico, des Mailänder Schlagzeugers Tommaso Bradascio und des in Filderstadt lebenden Jazz-Gitarristen Lorenzo Petrocca mit einem neuen Album am Start, um bekannte Kompositionen in der Tradition klassischer Orgel-Trios zu interpretieren. Wer da an Brother Jack McDuff und den jungen George Benson, an Grant Green mit Big John Patton oder Melvin Rhyne und Wes Montgomery denkt liegt richtig: Denn einmal ist Gitarrist Petrocca ein Traditionalist, dessen geschmackvolles, virtuoses Spiel neben den klassischen Aufnahmen der Ikonen des Genres alles andere als verblasst. Und außerdem lieben die drei Italiener die Tradition dieses Trio-Formats bedingungslos und schaffen es so, aus Klassikern wie „Bella Ciao“, „Nessun Dorma“ und sogar „Che Sara“, letzteres mit einem wirklich packenden Gitarrensolo und einer wunderbar souligen Hammond, großartige Jazz-Tracks zu zaubern. Immer wieder überrascht auch Tommaso Bradascio mit eigenwilligen Intros oder Drum-Grooves, die diesem bekannten Format eine sehr eigene Note verpassen. Bei einem so programmatischen Repertoire-Ansatz besteht immer die Gefahr, dass mancher Ohrwurm-Evergreen die Interpretation überwuchert – beim Italian Organ Trio dominieren aber drei großartige Solisten das Geschehen. Questo si chiama Jazz! Lothar Trampert

HEINRICH VON KALNEIN & SOPHIE MIN: INTERTWINED TREES


In Österreich lebender deutscher Saxophonist & Flötist, Jahrgang 1960, trifft alterslose koreanische Pianistin & Komponistin mit Sitz in Australien um ein paar amerikanische Standards zu spielen. Das Duo harmoniert, man konzentriert sich aber schnell auf eigene Kompositionen, und kurz darauf nehmen Heinrich von Kalnein und Sophie Min ein gemeinsames Album auf: Flöte und Klavier, da denkt man an „Nirvana“ von Herbie Mann und Bill Evans, oder an sensible, impressionistische Stimmungen, an Ravel, Debussy, Gabriel Fauré oder Jacques Ibert. Interessanterweise entspricht die einzige Gemeinschaftskomposition, „Free Flow“, in ihrer Ruhe und Transparenz, dieser Erwartung. Heinrich von Kalneins zwei Beiträge zum Album fallen eindeutig jazziger aus, Sophie Mins Kompositionen dafür deutlich opulenter – sie lässt mit ihrer überbordenden Virtuosität oft wenig Raum für die Flöte und jazzige Interaktion im Sinne von Zwiegesprächen findet hier eher nicht statt. Da wird das zarte Holzblasinstrument auch schon mal von opulenten Arpeggios überstimmt oder mit Hilfe von Blockakkorden weggetynert. Aber es gibt auch poppige Passagen, die an Joe Farrell bei Return To Forever erinnern, und ein paar ruhige Momente der Nähe, die man genießen kann, so wie das finale „Indelibility“. lt

TIMO GROSS: BLACK DAWG BONE

Überraschung gelungen: Timo Gross, der großartige Blues-Rocker aus Bad Bergzabern, ist endlich wieder mit einem neuen Album am Start. Acht Jahre sind seit seinem letzten Werk ,Heavy Soul‘ vergangen, und diese lange Zeit des Wartens hat sich gelohnt. Denn eines muss man diesem Musiker bescheinigen: Er hat absoluten Geschmack und extrem viel Talent, was Songwriting, Sounds, Arrangements und Gitarrenspiel angeht – und Timos wirklich coole Gesangsstimme kommt noch als Geschenk obendrauf. Seit fast zwei Jahrzehnten ist der am 19. Juli 1964 in Hannover geborene Musiker in der Blues-Szene aktiv: 2005 erschien sein Debüt ,Down To The Delta‘, das direkt Album des Monats im „Blues News“-Magazin wurde. Viele Live-Auftritte folgten, Kooperationen mit anderen Künstlern wie Richie Arndt und Alex Conti, Produzenten-Jobs und weitere eigene Alben. Für Timo Gross ist Blues ganz sicher kein Dogma; er ist kein Purist und nicht auf eine bestimmte Spielart festgelegt. Von 1988 bis ’90 studierte er an der Amsterdamer Hochschule der Künste, in den Jahren danach war er mit diversen Country-Formationen, Schlagersängern und der R&B-, Soul- und HipHop-Coverband Cozmic Soul unterwegs. Er kann straight rocken, röhren wie Willy De Ville, swingen wie Herman Brood oder auch mal so laid back ein paar Töne abfiedeln wie der geniale Keith Richards – und das mit ähnlich coolem, sympathischen Blick. Timos neues Album ,Black Dawg Bone‘ liefert all diese Qualitäten in zehn mehr als originellen Tracks, die extrem abwechslungsreich rüberkommen und wo wirklich jeder Ton ein Volltreffer ist. Besonders beeindruckend: Man erlebt hier kleine Klanggemälde, in denen man auch beim dritten Hören noch Neues entdeckt. Auch seine Begleitmusikerinnen & -musiker sind erste Sahne, und sogar Timos Autotune-Einsatz in ,Rock And Roll‘ ist gelungen – was man nach der jahrzehntelangen Post-Cher-Epidemie kaum noch für möglich gehalten hat. Er kann’s! Zusammengehalten wird die Musik von ,Black Dawg Bone‘ vom roten Faden seiner rauen, prägnanten Stimme, der sich durch alle zehn Tracks zieht. Und von Timo Gross‘ wirklich gekonntem Gitarrenspiel, ganz egal ob das elektrisch, akustisch oder dobrometallisch rüberkommt – es klingt immer hervorragend. Apropos Sound: aufgenommen, gemixt und gemastert hat der Künstler auch noch selbst. Timo Gross ist ein echter Könner, ein Musiker mit Feeling. Respekt!
LOTHAR TRAMPERT // PALEBLUEICE.COM

GERI ALLEN / KURT ROSENWINKEL: A LOVESOME THING

Eine tief im Raum schwebende, sehr warm klingende E-Gitarre eröffnet dieses Live-Album. Die Gitarrentöne von Kurt Rosenwinkel (* 1970) kommen näher, und plötzlich setzt, glasklar, das fragile Pianospiel von Geri Allen (* 1957 + 2017) ein. Über elf Jahre alt sind diese wunderbaren Duo-Aufnahmen aus der „Philharmonie de Paris“ – Musik eines Künstlerpaares, das berührt: Einmal mit der unglaublichen Entspanntheit ihrer Musik, dann aber auch mit der Sicherheit mit der sie aufeinander zugehen, der traumhaften Interaktion. Pianistin Geri Allen hatte nach diesem Konzert wohl häufiger den Wunsch geäußert, ein Studio-Album mit ihrem schon seit 2004 in Berlin lebenden amerikanischen Kollegen einzuspielen – wozu es aber nicht kam, da sie 2017 verstarb. Gitarrist Kurt Rosenwinkel, der so unterschiedliche Größen wie John Coltrane, Bud Powell, David Bowie, Charlie Parker, Keith Jarrett, Pat Metheny, Allan Holdsworth, Tal Farlow, Bill Frisell, John Scofield und Rush-Gitarrist Alex Lifeson zu seinen Einflüssen zählt, ist ein beeindruckender Jazz-Gitarrist, der mit sympathischem Understatement, wie seine Mitspielerin, eine unglaubliche Tiefe und Ausdruckskraft liefert. Insofern erinnert mich das Zusammenspiel dieses Piano/Gitarre-Duos atmosphärisch oft sehr an die legendären Aufnahmen von Lennie Tristano und Billy Bauer. ,A Lovesome Thing’ ist ein sehr warmes, wunderschönes Album, und ein Meilenstein des Miteinander im Jazz. lt

CERAMIC DOG: CONNECTION

Marc Ribot an diversen Gitarren, Bässen und dem Mikrofon, begleitet von Bassist & Elektroniker Shahzad Ismaily und Drummer Ches Smith – dazu kommen noch ein paar Gäste mit Keyboard, Saxophon, Klarinette und Cello. ,Connection’ ist bereits das fünfte komplette Album seines Band-Projekts Ceramic Dog. „Marc Ribot (* 21. Mai 1954 in Newark, New Jersey) ist ein US-amerikanischer Avantgarde-Gitarrist und Komponist. Seit den 1990er-Jahren gehört er zu den vielseitigsten Gitarrenvirtuosen des Jazz“, informiert uns Wikipedia. Und ja, der vielseitige Gitarrist hat im Laufe seiner 45-jährigen Karriere schon so einiges erlebt – und das nicht nur im Jazz: 1978 zog er nach New York und spielte mit Jazz-Organist Jack McDuff, bei dem auch George Benson seine Karriere startete, dann mit Soul-Ikone Wilson Pickett, den Lounge Lizards, in den Bands von Tom Waits und Elvis Costello, später arbeitete er u.a. mit Elliott Sharp, Medeski Martin & Wood, Bill Frisell, John Zorn, Marianne Faithfull, McCoy Tyner, Allen Ginsberg, Madeleine Peyroux, Elton John, Norah Jones, Diana Krall, The Black Keys, Jamaaladeen Tacuma und Laurie Anderson.
Seit 2008 gibt es Ceramic Dog, und man hat den Eindruck, dass Ribot auf dem aktuellen Album alles rauslassen will, was ihm über seine musikalischen Wege gelaufen ist. Er rockt mal punkig, mal jazzig zwischen Vernon Reid und James Blood Ulmer, dann soulig zwischen Bobby Womack und Jimi Hendrix, gelegentlich hebt er komplett ab und zelebriert raue Drones und zerrende Feedback-Gitarren-Hymnen, lange Soli, die an Jam-Rock-Sessions erinnern. Ob Ribot hier seine eigene Klangwelt konstruiert oder Bestehendes dekonstruieren möchte, kann ich nicht beurteilen – beides hätte auch Schnittmengen. Ich denke mir: Marc macht einfach, worauf er gerade Lust hat. Und Kunst kommt von Machen – im besten Fall von Könnern die machen. Auf alle Fälle macht Ribot eine Menge genialen Gitarrenkrach, verfällt aber auch gelegentlich in banale Post-Punk-Klischees – dafür macht er wieder gewaltig Pluspunkte in transparenteren Momenten, wie beim anfangs weirden Psycho-Track ,No Name’, der in ganz unerwartete Richtungen abdriftet, ebenso das nachfolgende ,Heart Attack’. Hört man sich die 1966/67 entstandenen Aufnahmen von Velvet Underground an, wirken diese über ein halbes Jahrhundert später gestarteten Versuche älterer Herren böse zu klingen teils etwas putzig. Aber man hat bei diesem Album den Eindruck, dass die beteiligten Künstler durchgehend Spaß hatten – und mit etwas Geduld ist man beim dritten Album-Durchlauf dann auch irgendwann mit auf deren schubladenfreier Party. Ribot ist schon ein ganz schräger Vogel. Und ein sehr cooler Gitarrist. lt

HEINER SCHMITZ: HEIMATSTÜCKE


Als Fan des Kölner Gitarristen Martin Schulte habe ich mich sehr gefreut, ihn im Line-up des neuen Albums von Saxophonist und Komponist Heiner Schmitz, seit 2010 auch mit Jazzkantine aktiv, zu entdecken. ,Heimatstücke’ skizziert die Suche des 1979 in Leipzig geborenen und ab 1991 in Köln aufgewachsenen Musikers nach seiner Herkunft, seiner Identität, seinem Heimatgefühl. Man muss nicht jeden künstlerischen Ansatz im Werk nacherleben können, das Wissen über die Inspiration gehört aber dazu. Gemeinsam mit Kontrabassist Matthias Nowak, Simon Seidl am Piano, Ralf Gessler am Schlagzeug und dem bereits erwähnten Martin Schulte an der E-Gitarre hat Heiner Schmitz Fundstücke aus seiner eigenen, kleinen Erinnerungswelt vertont – warm, berührend, entspannt und anscheinend mit sich im Reinen. Martin Schultes eigenwillige Gitarrenbeiträge und spannenden Soli geben dieser Musik immer wieder eine belebende Dynamik. Gutes Team. lt

FIONA GROND: POESIAS

Den Gitarristen Philipp Schiepek habe ich an dieser Stelle schon mal anlässlich seines Debüts ,Golem Dance’ (2019) und des 2021 erschienenen Duo-Albums mit dem Pianisten Walter Lang, ,Cathedral’, vorgestellt. Jetzt ist er gemeinsam mit dem Tenorsaxophonisten Moritz Stahl auf einem Album der Schweizer Sängerin Fiona Grond zu erleben. Eins vorab: Diese Besetzung ist nicht nur transparent, sie ist spannend und erzeugt weit mehr Klangbilder als erwartet.„Mir war es immer wichtig, nicht einfach nur die Sängerin zu sein, die das Thema singt und den Rest der Musik machen dann die Anderen“, erklärt Fiona Grond. Und so sind hier drei Soundpainter am Start, die mal nach-, mal neben- und meist miteinander entspannte, warme, ruhige Musik machen. Stilistisch schweben Fiona Grond und ihre beiden Instrumentalisten irgendwo zwischen Jazz, folkloristischen Farben, E-Musik-Anklängen und mehr. Dezente Sounds und Loops verleihen dieser Musik noch mehr Tiefe und Spannung. Eigenartig im besten Sinne. Und Philipp Schiepek zeigt hier einmal mehr – zum Beispiel im Intro von ,Gewitter’ – dass er ein Gitarrist ist, der feinste Nuancen mit tiefem Ausdruck verbinden kann. Ein besonderes Trio. lt

DOMINIK SCHÜRMANN ENSEMBLE: THE SEAGULL’S SERENADE


Nach dem großartigen Album ,Moons Ago’ (2022), das der Schweizer Kontrabassist Dominik Schürmann mit seinem Trio und dem Saxophonisten Max Ionata als Gast einspielte, ist er diesmal in großer Besetzung zu hören, mit je nach Track bis zu zwölf Musikerinnen und Musikern. Große Bläsersätze dominieren die Musik, die mal balladesk, mal swingend oder dezent funky und in den drei Stücken mit Sängerin Song Yi Jeon sehr eingängig rüberkommen. Die beachtlichen solistischen Qualitäten des Projektleiters und Bassisten sind hier weniger vordergründig präsent als in seinem Trio – hier ging es Dominik Schürmann um die adäquate, große Umsetzung seiner wirklich gelungenen Kompositionen und spannenden Arrangements. Ein Band-Player eben. lt

WEATHER REPORT: LIVE IN BERLIN 1971

Wer die einzigartige Formation Weather Report erst mit ihrem im besten Sinne poppigen Hit-Album ,Heavy Weather’ (1977) entdeckt hat, mit dem zu oft gecoverten Gassenhauser ,Birdland’ und den vielen, unendlich genialen Bass-Lines & -Licks von Jaco Pastorius, hat das musikalisch wesentlich experimentellere und freiere Vorleben der 1970 gegründeten Jazz-Rock-Institution verpasst. Von der frühen Besetzung mit Joe Zawinul (kb), Wayne Shorter (sax), Miroslav Vitous (b), Alphonse Mouzon (dr) und Dom Um Romao (perc) ist der jetzt auf 2CD vorliegende Mitschnitt „Live in Berlin 1971“ ein guter Einstieg ins Frühwerk; diese Konzertaufnahmen entstanden wenige Monate nach der Veröffentlichung des Debüt-Albums, und in dieser Phase waren der explosive Free Jazz der 1960er-Jahre und der elektrifizierte Miles Davis von ,In A Silent Way’ und vor allem ,Bitches Brew’ die dominanten Inspirationen. Was für eine großartige, unberechenbare, spannende Band, deren Palette hier auch noch von drei prominenten Bläsern – Eje Thelin (tb), Alan Skidmore (ts/fl) und John Surman (bs/bcl) – bereichert wird. Absolute Empfehlung für Genießer spannender Improvisationen zwischen den Stilen und Stühlen. Und Bassistinnen und Bassisten sollten dann gleich mal weiterhören in Miroslav Vitous’ geniales 1969er Solo-Album ,Infinite Search’ (wiederveröffentlicht als ,Mountain In The Clouds’) und andere Alben dieses einzigartigen Solisten und Bandleaders. lt

HENNING SIEVERTS: BASSOLO

Die Arbeiten des Kontrabassisten Henning Sieverts (*1966) verfolge ich schon seit vielen Jahren. Der Mann hat nicht nur Ton und Geschmack, er ist neben seiner Aktivität als Jazz-Musiker an Bass und Cello, auch noch Hörfunkredakteur beim BR aktiv. Jetzt kann man ihn also solo erleben, nur an den vier tief gestimmten Saiten seines Hauptinstruments, mit wirklich eigenwilliger Musik. Henning Sieverts Basslinien hatten für mich auch schon im Zusammenhang mit Ensemble-Aufnahmen (u.a. mit Rudi Mahall, Peter O’Mara, Johannes Enders, Johannes Lauer, Nils Wogram, Ronny Graupe – seine Diskografie umfasst über 150 Tonträger) immer eine besondere Qualität, gingen eigene Wege. Diese legt er jetzt hier, in diesem unbegleiteten Zusammenhang, absolut offen. Die 18 Album-Tracks sind bis auf drei Ausnahmen eigene Kompositionen, bzw. die zu hörenden Improvisationen basieren auf Ideen, die sich hier und da wieder auf bekannte Standards beziehen. Henning Sieverts Spiel auf ,Bassolo’ fasziniert mich weiterhin, denn dieser Musiker vereint Ruhe und Intensität, auch wenn er den Bogen einsetzt oder mit Scat-Vocals seine Lines dezent ergänzt. Warum Solisten sich immer wieder gerne mit opulentem Großraumhall aufnehmen lassen – in diesem Fall geschah das in der „Ressurection Church, Munich“ aka Auferstehungskirche Minga – und ich mir das finale Werk dann, mangels Privatkapelle, in meinem so akustisch doch etwas unterkühltem Wohnzimmer anhören muss, bleibt mir ein Rätsel. Aber das ist Geschmacksache. Henning Sieverts ,Bassolo’ ist trotzdem ein absolut gelungenes und oft berührendes Stück Musik.
Und an die Kolleginnen & Kollegen hat der Musiker und Lehrer Sieverts auch gedacht: Alle Stücke der Aufnahme, inklusive Improvisationen, sind in einem Notenheft zusammengefasst, das der LP-Version des Albums beiliegt. lt

DEREK PLAYS ERIC: A SUITE OF SOAPS

Der in Berlin lebende Gitarrist, Komponist und Improvisationskünstler Andreas Willers (*1957) hat in den vergangenen über vier Jahrzehnten immer wieder mit sehr eigenwilliger, innovativer und explosiver Musik überrascht und überzeugt. Gemeinsam mit dem Bassisten Jan Roder und Schlagzeuger Christian Marien hat er 2018 das Album ,Derek Plays Eric’ veröffentlicht, dessen Titel inzwischen Projektnamen geworden ist. Das zweite gemeinsame Album heißt jetzt wie die darauf, neben fünf weiteren Tracks zu hörende, siebenteilige ,Suite Of Soaps’. Musikalisch und gitarristisch geht Andreas Willers hier seinen Weg zwischen Rock, Jazz, harten Riffs, extrem virtuosen Linien, sphärischen Sounds und intensiven Geräuschen. Interessant daran ist auch diesmal wieder, wie gekonnt er den weltoffenen Gitarrenmusik-Fan in seinen avantgardistischen Kosmos ziehen kann, denn seine Musik ist immer organisch, echt, und auch in abgedrehtesten Passagen irgendwie nachvollziehbar. Ich habe schon oft gedacht, dass Andreas Willers die künstlerische Offenheit der wichtig(st)en Rock- und Jazz-Jahre zwischen 1967 und ’70 wirklich verstanden hat. Was heute oft als Rock- oder Electric-Jazz-Revolution gelabelt wird, waren in Wirklichkeit doch nur große Schritte aufeinander zu – an denen die E-Musik-Avantgarde, der neue freie Jazz, die Elektronik-Pioniere und die britischen Blues-Entdecker genau wie die LSD-Vertoner der US-Westcoast beteiligt waren. Danach gingen allerdings viele Künstlerinnen & Künstler zurück in ihre Kleingärten und zogen die Hecken hoch. Derek Plays Eric machen mit ihren abgefahrenen, hochvirtuosen und explosiven Kreationen da Hoffnung, auf Jazz-, Rock- und Whatever-Festivals der Zukunft wieder echten Crossover erleben zu können. Und wenn man in den letzten drei Album-Tracks dann auch noch mit Material von Dave Holland (,May Dance’), Joe Cocker (,Space Captain’) und der Beatles (,I Want You’) konfrontiert wird, weiß man einmal mehr, dass auch diese freiere Spielart von Musik extrem unterhaltsam und verbindend sein kann. Wie einst bei Cream, Miles Davis, Jimi Hendrix und Derek Trucks’ ersten Alben. Diese Art von zeitlos-zeitgemäßem Late-Sixties-Feeling liebe ich. Offenheit mit Hirn, das brauchen wir. lt

MANOU GALLO: AFRO BASS FUSION

Wer auf knackige Bässe, Afrobeat, Funk, Soul und poppigen Jazz steht, ist hier richtig: ,Afro Bass Fusion’ ist das fünfte Studio-Album von Manou Gallo, einer Multiinstrumentalistin von der westafrikanischen Elfenbeinküste. Hier überzeugt sie vor allem als E-Bassistin, mit unglaublichem Groove, Tragkraft und jeder Menge gitarristischer Licks. International bekannt wurde sie als Mitglied der belgischen Formation Zap Mama, der sie zwischen 1997 und 2003 angehörte. Fünf Jahre nach ihrem erfolgreichem Album ,Afro Groove Queen’ gibt es jetzt 15 neue Tracks von N’guessan gallo Pauline, wie die Künstlerin mit vollem Namen heißt. Die Songs sind zwar in kompositorischer Hinsicht teils eher schlicht gehalten, überzeugen dafür aber mit guten Arrangements, hervorragenden Musikerinnen und Musikern, tollen Sounds und unglaublichem Groove – und damit hat dieses neue Album von Manou Gallo, die hier auch einige Gitarren-Parts und Vocals beisteuert, einen erheblichen Vorteil gegenüber manchen Bass-Virtuositätsbeweisen der Fusion-Szene. Denn diese Musik ist lebendig, geht in die Beine und macht gute Laune. lt

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